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Haiti in Trümmern

Von André Scheer *

Ein verheerendes Erdbeben der Stärke 7,0 hat am Dienstag (12. Jan.) um 17 Uhr Ortszeit den Karibikstaat Haiti verwüstet. Das Epizentrum des Bebens lag nur wenige Kilometer von der Hauptstadt Port-au-Prince entfernt. Helfer befürchten, daß die Zahl der Toten in die Tausende gehen könnte. Auch stabile Gebäude wie der Präsidentenpalast und die Kathedrale stürzten ein; besonders schwer traf die Katastrophe jedoch die unzähligen Hütten in den Elendsvierteln.

Letzte Meldung

Rotes Kreuz rechnet mit bis zu 50.000 Toten in Haiti

Das verheerende Erdbeben in Haiti hat nach Schätzung des Roten Kreuzes 45.000 bis 50.000 Menschen das Leben gekostet. Die Zahl beruhe auf Informationen eines großen Netzwerks von Freiwilligen in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince, sagte die Organisation am Abend des 14. Januar in ihrer ersten Einschätzung zur Opferzahl.

Das tatsächliche Ausmaß der Katastrophe war auch zwei Tage nach dem fürchterlichen Erdstoß noch nicht auszumachen. In der verwüsteten Hauptstadt Port-au-Prince herrschte weiterhin Chaos: Menschen kampierten im Freien, überall lagen Leichen. Einziger Hoffnungsschimmer: Die ersten internationalen Hilfsgüter und Rettungskräfte sind eingetroffen.

Auch in Deutschland kam die Haiti-Hilfe ins Rollen: Dutzende Ärzte, Sanitäter, Techniker und Logistiker deutscher Organisationen werden in den nächsten Stunden und Tagen im Katastrophengebiet erwartet. Rund um die Hauptstadt Port-au-Prince wollen sie bei der Suche nach Vermissten und der Versorgung der Überlebenden helfen. Zugleich müssen die Hilfslieferungen verteilt werden.

Bereits in Haiti angekommen sind Helfer und Güter aus den USA, China, Großbritannien, Frankreich, Kuba und Island. Allerdings stellte sich schnell heraus, dass die benötigte Ausrüstung zum Entladen der Güter nicht vorhanden war.

Weiteres Manko: Im Luftraum über Haiti wird es eng. Die US-Flugbehörde FAA versagte am Donnerstag amerikanischen Maschinen mit Ziel Haiti die Starterlaubnis. Die haitianische Regierung lasse keine Flugzeuge mehr in den Luftraum, erklärten amerikanische Regierungsbeamte zur Begründung. Zum Zeitpunkt dieser Entscheidung hätten elf Flugzeuge über dem Flughafen von Port-au-Prince gekreist. Auf dem Boden gebe es keinen Platz mehr für gelandete Maschinen, hieß es.

Agenturmeldungen, 14. Januar 2009



Nach Schätzungen des Roten Kreuzes sind rund drei Millionen Menschen von der Naturkatastrophe betroffen, etwa ein Drittel der in Haiti lebenden Menschen. Der Landesdirektor der Hilfsorganisation »World Vision« in Haiti, Frank Williams, sagte: »Öffentliche Gebäude und Privathäuser sind zusammengefallen, Dächer und Hauswände sind auf die Straßen gestürzt«. Viele Menschen in Port-au-Prince seien schreiend auf die Straße gelaufen. »Es fühlte sich an, als ob ein großer Lastwagen durch die Hauswand gekracht wäre. Dann hat es etwa 35 Sekunden lang gewackelt.«

Das Unglück traf das ärmste Land des Kontinents. Mehr als die Hälfte der Haitianer sind Analphabeten, acht von zehn Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze und müssen mit weniger als zwei Dollar pro Tag zurechtkommen, jeder zweite hat sogar nur einen Dollar zur Verfügung.

Das Land war in den vergangenen Jahrhunderten fast permanent Spielball ausländischer Mächte, zunächst der spanischen, dann der französischen Kolonialmacht. Von 1915 bis 1934 war Haiti von den USA besetzt, zwischen 1957 und 1986 beherrschte der Duvalier-Clan das schon damals ausgeplünderte Land. Auch danach herrschte keine Stabilität, 1987, 1991 und 2004 putschten von den USA und Frankreich unterstützte Militärs. Seither sind in Haiti Besatzungstruppen mit UN-Mandat stationiert, die bei der Bevölkerung jedoch als Unterdrücker verhaßt sind.

Nur wenige Stunden nach dem Beben landete eine Maschine aus Venezuela mit Hilfsgütern und Rettungsmannschaften in Haiti. Die rund 50 Ärzte, Ingenieure und Feuerwehrleute gehören der 2005 von Venezuelas Präsident Hugo Chávez gebildeten Humanitären Einsatzgruppe Simón Bolívar an und sind speziell ausgebildet, um Menschen aus schwierigen Situationen zu retten. Nicaraguas Präsident Daniel Ortega entsandte Techniker, die die nach dem Beben zusammengebrochene Stromversorgung wiederherstellen sollen. Auch Frankreich, Mexiko, Brasilien und weitere Länder kündigten Hilfssendungen an. Die deutsche Bundesregierung stellte 1,5 Millionen Euro als Soforthilfe bereit. Die USA boten »sowohl zivile als auch militärische« Hilfe an, warteten jedoch Heidi Lenzini vom South Command der US-Streitkräfte in Miami zufolge noch auf ein »offizielles Ersuchen der Regierung Haitis«.

In Kuba wurden nach dem Beben, das auch im Südosten der Insel zu spüren war, die Zivilschutzbehörden alarmiert und der Tsunamiwarndienst ausgelöst. 30000 Menschen wurden vorsichtshalber in Sicherheit gebracht. Zwar wurde kein Anstieg des Wasserspiegels festgestellt, die Behörden blieben aber wegen möglicher Nachbeben in Bereitschaft. In Haiti selbst sind bereits seit über zehn Jahren mehrere hundert kubanische Ärzte im Einsatz, um der notleidenden Bevölkerung zu helfen. In dieser Zeit betreuten die Ärzte von der benachbarten Insel einem Bericht von Radio Habana Cuba zufolge mehr als sechs Millionen Menschen und halfen bei über 110000 Geburten.

* Aus: junge Welt, 14. Januar 2010


Blauhelmtruppe schwer erschüttert

UN-Mission nicht mehr arbeitsfähig

Von Harald Neuber **


Bei dem schweren Erdbeben in Haiti sind auch die zivilen und militärischen Strukturen der »Stabilisierungsmission« der UNO, MINUSTAH, schwer getroffen worden.

Nach übereinstimmenden Berichten haitianischer und europäischer Medien wurde die Zentrale der UNO in der Hauptstadt Port-au-Prince fast völlig zerstört. Am Mittwochnachmittag ging Frankreichs Außenminister Bernard Kouchner in einem Interview mit dem Sender RTL vom Tod des MINUSTAH-Chefs Hedi Annabi aus. »Es scheint, dass alle, die in dem Gebäude waren, tot sind, unter ihnen auch mein Freund Annabi, der Sondergesandte des UN-Generalsekretärs, und alle, die bei ihm waren«, wird Kouchner von der Deutschen Presse-Agentur zitiert. Brasiliens Staatschef Luiz Inácio »Lula« da Silva äußerte sich nach Angaben der Tageszeitung »Folha de São Paulo« »äußerst besorgt« über Zustand und Sicherheit des UN-Personals. »Viele Mitarbeiter werden vermisst«, bestätigte auch Brasiliens Verteidigungsminister Nelson Jobim.

Nach Angaben der kubanischen Nachrichtenagentur Prensa Latina, die aus der benachbarten Dominikanischen Republik berichtet, hat Präsident René Préval laut »diplomatischen Quellen« die Zerstörung des Präsidentenpalastes überlebt. »Jedoch ist nichts Genaueres über seinen Zustand bekannt«, heißt es in dem Bericht.

Zahlreiche Regionalstaaten haben angesichts der immensen Katastrophe noch in der Nacht zum Mittwoch mit Hilfsaktionen begonnen. Venezuelas Präsident Hugo Chávez mobilisierte humanitäre Helfer der Katastrophenschutzeinheit »Simón Bolívar«, die mit 50 Experten nach Haiti flogen. Nicaragua entsandte ebenfalls Hilfskräfte mit dem Auftrag, die Stromnetze wiederaufzubauen. Spanien schickte Hilfskräfte aus Panama, Frankreich unter anderem von der nahen Karibikinsel Martinique. Kubanische Hilfskräfte befanden sich bereits an Ort und Stelle. Kuba ist allerdings auch selbst von den Folgen der Naturkatastrophe betroffen. In Baracoa, im äußersten Osten Kubas, wurden nach Angaben des lokalen Katastrophenschutzes 30 000 Menschen evakuiert. Die Kolonialstadt liegt Haiti am nächsten, die Schockwellen waren auch hier zu spüren. Die kubanischen Behörden schlossen die Gefahr einer Flutwelle nach dem Beben nicht aus.

In Haiti wird das Erdbeben die Debatte über die Besatzungskräfte von MINUSTAH weiter anheizen. Vor zwei Jahren bereits, kurz vor der Verlängerung der MINUSTAH-Mission, verwies der haitianische Journalist Woody Edson Louidor in einem Bericht auf die zunehmende Kritik an der »Stabilisierungsmission« aus 17 Staaten. Die MINUSTAH habe es nicht geschafft, effektiv gegen kriminelle Banden vorzugehen, schrieb Louidor. Bei militärischen Aktionen seien hingegen immer wieder Zivilisten getötet worden. Soziale Bewegungen in Lateinamerika haben auch deswegen wiederholt den Abzug der Truppe gefordert. »Wir solidarisieren uns mit dem Kampf des haitianischen Volkes um Selbstbestimmung, wir fordern den unmittelbaren Abzug der MINUSTAH und ihre Ersetzung durch solidarische Entwicklungsmissionen sowie den Erlass der Auslandsschulden für Haiti«, hieß es unlängst in einer Erklärung des Amerikanischen Sozialforums.

** Aus: Neues Deutschland, 14. Januar 2010


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