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Die Geber warten auf die neue Regierung

Trotz milliardenschwerer Zusagen stockt die Aufbauhilfe

Von Hans-Ulrich Dillmann, Santo Domingo *

Als die Erde am 12. Januar zu grollen und zittern begann, glaubten viele Haitianer, der Jüngste Tag sei angebrochen. Haiti erlebte das schwerste Beben in der Geschichte Nord-und Südamerikas und weltweit das verheerendste des 21. Jahrhunderts.

Es war eine angekündigte Katastrophe. Seismologen und der haitianische Filmemacher Arnold Antonin hatten monatelang vor »Goudou Goudou« gewarnt. So nennen die Haitianer die Erderschütterung inzwischen in der Landessprache Kreyól, nach dem Geräusch, das bei dem Beben entsteht.

»Niemand hat reagiert«, sagt der 68-Jährige Filmregisseur, der unmittelbar darauf zu seiner Kamera griff und mit den Aufnahmen für seinen Dokumentarfilm »Chronik einer angekündigten Katastrophe« begann. Der Staat wurde in seinen Grundfesten getroffen, Regierungsgebäude zerstört, Politiker und Beamte starben. Die Regierung war kopflos. Vom Staatspräsidenten René Préval hörte die Bevölkerung wenig. Auch die UN-Stabilisierungstruppe MINUSTAH verlor in den Trümmern ihres zusammengefallenen Hauptquartiers ihre Chefs. Aber das Armenhaus Haiti, in dem über 60 Prozent der Bevölkerung weniger als 80 Eurocent für den täglichen Lebensunterhalt haben, erlebte eine ungewohnte Solidarität. Aus aller Welt trafen Flugzeuge mit Hilfsgütern und Suchmannschaften ein, die nach Verschütteten suchten. Die Nothilfe hat funktioniert, für den Wiederaufbau des Landes wurden sogar fast zehn Milliarden US-Dollar auf einer Geberkonferenz im März 2010 in New York zugesagt.

Seitdem stockt die Hilfe, denn die haitianische Regierung amtiert zwar mit einem Notstandsgesetz und hat einen Wiederaufbauplan ausgearbeitet, die Details ist sie jedoch schuldig geblieben und gerade mal 15 Prozent der zerstörten Gebäude im Stadtzentrum der Hauptstadt Port-au-Prince sind abgetragen – von Neu- oder Wiederaufbau keine Spur. In den Vorstädten sind die Menschen vielmehr auf private Inititative angewiesen.

Dafür hat sich die innenpolitische Krise im Armenhaus Lateinamerikas verschärft. Staatspräsident René Préval versucht die Situation zu nutzen, um sein Amt über die in der Verfassung festgelegte Zeit hinaus zu behalten. Nur nach internationalem Druck akzeptierte er den vorgesehenen Wahlkalender. Aber Proteste gegen die Untätigkeit der Regierung sind an der Tagesordnung. Die Gelder für den Wiederaufbau wurden zurückgehalten, weil im Ausland niemand mehr Préval und seiner Regierung traut. Man wollte ihn am 7. Februar loswerden und mit einer neuen Regierung des Vertrauens mit dem wirklichen Aufbau des Landes beginnen. So jedenfalls beschreiben Diplomaten hinter vorgehaltener Hand das anvisierte Szenarium für Haiti. Nur hat die internationale Gemeinschaft die Rechnung ohne den Wirt – René Préval – gemacht.

Dazu kam der Ausbruch der Cholera Mitte Oktober, die inzwischen über 3700 Menschenleben gefordert hat – und die UN diskreditiert, denn vermutlich ist die unsachgemäße Entsorgung der Latrinen nepalesischer Blauhelmsoldaten, die mit dem Erreger infiziert waren, für die Seuche verantwortlich. Seitdem verstummen die Stimmen im Land nicht mehr, die den sofortigen Abzug der rund 10 000 Blauhelmsoldaten und 2000 UN-Polizisten fordern.

Außerdem haben sich die politisch Verantwortlichen bei den Vereinten Nationen und der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) wie Tölpel von dem 67-jährigen Agrarwissenschaftler aus der Kleinstadt Marmelade vorführen lassen. Der Wahlrat war von Préval handverlesen, die Stimmabgabe von Manipulationen so offensichtlich überschattet, dass 12 der 19 Präsidentschaftskandidaten eine Annullierung der Wahl forderten. Seitdem wird unter Aufsicht der OAS erneut ausgezählt. Dem Vernehmen nach haben die unabhängigen Wahlbeobachter ermittelt, dass auf die ehemalige First Lady Haitis, Mirlande Manigat, 31,6 Prozent der Stimmen entfielen, der Sänger Michel Martelly hätte demnach 22,2 Prozent erreicht und Jude Célestin – Prévals Schwiegersohn – läge mit knapp 21,9 Prozent nur auf dem dritten Platz. Wann es zu einer Stichwahl kommen wird, ist nach wie vor ebenso ungeklärt wie eine offizielle Verkündung der neuen Ergebnisse.

Aus: Neues Deutschland, 12. Januar 2011


"Die Staatengemeinschaft hat kein Interesse an Haiti"

Michael Kühn über unfassbares Glück und Leid sowie über politisches Versagen **


Michael Kühn ist Politikwissenschaftler und arbeitet bei der Welthungerhilfe als Referent für Klimapolitik. Der 49-Jährige war drei Jahre Regionaldirektor der Welthungerhilfe in Haiti. Über die Entwicklung des Landes seit dem Erdbeben sprach mit ihm für das Neue Deutschland (ND) Hans-Ulrich Dillmann.

ND: Herr Kühn, was haben Sie am 12. Januar 2010 um 16.53 Uhr gemacht?

Kühn: Ich hatte meine Tochter von der Schule abgeholt und wollte einkaufen fahren. Da ich aber noch ins Büro wollte, fuhr ich sie nach Hause. Das rettete uns das Leben. Das Dach des Supermarktes erschlug mehr als 100 Menschen. Wir hatten unfassbares Glück.

1,2 Millionen Erdbebenopfer leben seit einem Jahr in Zelten. Warum hat sich so wenig geändert?

Etwas anderes war nicht zu erwarten. Haiti ging es ja schon vor dem Erdbeben sehr schlecht, als ärmstem Land der amerikanischen Hemisphäre mit einem Durchschnittseinkommen von unter zwei US-Dollar pro Kopf, einer Politikerkaste, der es mehr um Machterhalt und Geld geht als um das Gemeinwohl. Haiti erfüllt nicht die Minimalfunktionen von Staatlichkeit wie Sicherheit, Wohlfahrt und Rechtstaatlichkeit. Der Wiederaufbau ist eigentlich ein Neubau der gesamten Gesellschaft. Wirkliche Fortschritte werden wir vielleicht in einem Jahrzehnt sehen.

Milliarden sollten dem Land helfen. Wo ist das Geld geblieben?

Nur ein Bruchteil der versprochenen Gelder aus den USA oder Europa ist angekommen, unter anderem, weil die Geber die Ergebnisse der Wahlen abwarten. Dazu kamen die Hurrikane im Herbst, die Cholera und jetzt das Chaos um die Wahlen. Das hat die Probleme verschärft und die Arbeit insgesamt verzögert. Wie üblich in diesem Land, trägt allein die Bevölkerung das Leid.

Wer hat versagt, die internationale Gemeinschaft, die rund 12 000 ausländischen Hilfsorganisationen oder die Regierung?

Die internationale Staatengemeinschaft hat kein wirkliches Interesse an Haiti. Man versucht Schadensbegrenzung mit dem Augenmerk auf die Interessen der Haiti umgebenden Staaten, allen voran der USA. Aber man engagiert sich nicht, um Haiti auf den Weg der Entwicklung zu bringen und Armut und Unterentwicklung ernsthaft zu bekämpfen. Insofern versagt die internationale Gemeinschaft ständig.Der haitianische Staat hat versagt, weil er seiner Verantwortung nicht gerecht wurde. Bei einem Beben der Stärke 7,0 müssen keine 300 000 Menschen sterben, wenn es eine vernünfige Infrastruktur gibt und die Einhaltung der Bauvorschriften überwacht wird.

Nichtregierungsorganisationen wie die Welthungerhilfe haben sich um die Belange der Bevölkerung gekümmert, als noch niemand über das Land berichtet hat. Problematisch sind die Gruppen, die ohne Kenntnisse und ohne ausreichend vorbereitetes Personal in das Land kommen: Die tragen mehr zu den Problemen als zu deren Lösung bei. Haiti ist zu komplex für Menschen, die es eilig haben. Man muss sich Zeit nehmen, die Besonderheiten des Landes und seiner Bevölkerung kennenzulernen, sonst kann man nicht effektiv arbeiten.

In der Nothilfe haben viele vieles richtig gemacht. Die Welthungerhilfe konnte reagieren, weil sie eine funktionierende Infrastruktur und gute einheimische Projektpartner hat. Wichtig ist, die Nothilfeaktivitäten in ein solides Aufbauprogramm zu überführen, in dessen Zentrum der Bau von Häusern, Schulen und einer Basisinfrastruktur, aber auch die Ernährungssicherung und die Schaffung von langfristig sicheren Arbeitsplätzen stehen.

Und warum ist dieses Aufbauprogramm noch immer nicht in Angriff genommen worden?

Ob alte oder neue Regierung, es ist nicht nur eine Frage der Korruption, sondern auch eine Frage der Kapazitäten. Es gibt wenige haitianische Firmen, die größere Aufträge für Infrastrukturmaßnahmen ausführen können, die öffentliche Verwaltung ist extrem schwerfällig und politisiert. Hinzu kommt, dass durch den bevorstehenden Regierungswechsel bisher nicht viel Geld für den Wiederaufbau geflossen ist. Die Welthungerhilfe selbst hat rund 21 Millionen Euro an Spenden erhalten, fünf Millionen wurden für Nothilfe bereitgestellt. Die Differenz wird für das Aufbauprogramm bis 2014 verwendet.

Mehr als zehn Jahre haben Sie in Haiti gelebt. Haben Sie noch Hoffnung für das Land?

Haiti ist reich an kultureller Vielfalt, die Menschen packen an und sind extrem kreativ. Wenn wir ihre Interessen ernst nehmen und mit ihnen statt für sie arbeiten, wenn wir aufhören, das Land nur als Markt zu sehen, auf dem man schnell viel Geld verdienen kann, dann gibt es eine Zukunft.

** Aus: Neues Deutschland, 12. Januar 2011

Chronologie: Beben im »Land der Berge«

12. Januar 2010: Um 16.53 Uhr (21.53 Uhr MEZ) bebt rund um Port-au-Prince insgesamt 43 Sekunden lang die Erde. Die Stärke beträgt 7,0. In der Erdbebenregion werden 50 bis 80 Prozent der Gebäude zerstört oder schwer beschädigt.

13. Januar: Aus der Dominikanischen Republik treffen erste Rettungstrupps ein.

15. Januar: Der Flugzeugträger »USS Carl Vinson« ankert vor der Küste Haitis. Auf dem Schiff können täglich rund 1,5 Millionen Liter Trinkwasser produziert werden.

18. Januar: Die USA stationieren Marines und Infanterietruppen, insgesamt 5800 Soldaten.

19. Januar: Der Pariser Club ruft zum Schuldenerlass auf. Die Auslandsschulden Haitis betragen 1,885 Milliarden US-Dollar.

22. Januar: Die haitianische Regierung erklärt das Ende der Suche nach verschütteten Opfern.

3. Februar: Die UN benennen Bill Clinton als Hilfekoordinator.

9. Februar: Regierung beziffert Beben: 300 000 Tote, 400 000 Verletzte, 1,2 Millionen Obdachlose und 500 000, die bei Verwandten untergekommen sind.

31. März: Auf der Geberkonferenz wird Haiti finanzielle Wiederaufbauhilfe in Höhe von 9,9 Milliarden Dollar zugesagt.

19. Oktober: Der erste Cholera-Fall wird bekannt.

28. November: Präsidentschafts- und Parlamentswahlen. Von 4,7 Millionen Stimmberechtigten beteiligt sich nur eine Million.

7. Dezember: Vorläufiges Wahlergebnis: Mirlande Manigat (31,3 Prozent), Jude Célestin (22,5 Prozent), Michel Martelly (21,8 Prozent). 12 der 19 Präsidentschaftskandidaten fordern die Annullierung des Urnengangs wegen Wahlfälschung.

27. Dezember: Beben im »Land der Berge« Beginn der Neuauszählung der Stimmen.

5. Januar 2011: Der Provisorische Wahlrat teilt mit, dass der Termin für die Stichwahl am 16. Januar nicht eingehalten werden kann. Die Zahl der Cholera-Toten beträgt nach offiziellen Angaben 3732. hud




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