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Wenn das Geld nicht mehr fürs Essen reicht

Landwirte verteilen 50 Tonnen Lebensmittel an hungrige Menschen in Athen

Von Anke Stefan, Athen *

Bilder, wie man sie aus Naturkatastrophengebieten kennt: Hunderte Hände strecken sich einer Lastwagenladefläche entgegen, von der aus Tüten mit Obst und Gemüse verteilt werden. Nur dass die am Mittwoch aufgenommenen Szenen nicht aus einem Überschwemmungs- oder Erdbebengebiet stammen. Sondern mitten aus Athen, der Hauptstadt eines EU-Mitgliedslandes. Dort verteilten Bauern und Gemüsehändler ihre Produkte kostenlos an die Bevölkerung der Hauptstadt, um ihren Forderungen nach einer Rücknahme der Preiserhöhungen für Diesel und Strom im Agrarsektor Nachdruck zu verleihen. Innerhalb weniger Stunden wurden 50 Tonnen Lebensmittel an Hunderte Menschen verteilt, die sich durch Mund zu Mund Propaganda informiert in kürzester Zeit vor Ort gesammelt hatten. Bei Rangeleien um die vordersten Plätze wurde ein Mann zu Boden geworfen und am Kopf verletzt.

Doch die soziale Katastrophe in Griechenland ist nicht von der Natur, sondern vom Menschen gemacht. Bereits im sechsten Jahr befindet sich das Land in einer Rezession, allein in den letzten drei Jahren ist das Bruttoinlandsprodukt um mehr als 20 Prozent zurück gegangen. Verantwortlich dafür ist in hohem Maße die von der einheimischen Regierung und den ausländischen Gläubigern verordnete Kürzungspolitik, mit der Haushaltsdefizit und Schuldenlast des Mittelmeerstaates abgebaut werden sollen.

Diese Politik wird fortgesetzt, obwohl man sich bei den Gläubiger inzwischen eingestanden hat, sich bei der Kalkulation der Auswirkungen von Kürzungen bei Renten-, Löhnen und staatlichen Investitionen verrechnet zu haben. Jede Reduzierung der Staatsausgaben um ein Prozent lässt die einheimische Wirtschaftsleistung nämlich nicht wie angenommen um 0,5, sondern um 0,9 bis 1,7 Prozent schrumpfen. Dies hatte der Chefökonom beim IWF, Oliver Blanchard bereits im vergangenen Monat öffentlich erklärt.

Die Folgen dieser Fehlkalkulation sind verheerend. Nach einer Erhebung des griechischen Industriehandelsverbandes haben 93 Prozent der Menschen in Griechenland in den letzten drei Jahren Einbußen bei ihren Einkommen hinnehmen müssen. Allein im letzten Jahr schmolzen die Löhne und Renten durch Steuererhöhungen und Kürzungen um bis zu 30 Prozent. Die Preise auf substanzielle Güter dagegen sind im vergangenen Jahr lediglich um etwa ein halbes Prozent gefallen. Gleichzeitig sorgten Steuererhöhungen dafür, dass die Preise für Öl, Strom und andere Energieträger um 27 Prozent stiegen. Der entsprechende Durchschnittswert in der Europäischen Union liegt dagegen bei nur 5,49 Prozent.

Fast 80 Prozent der Griechen gaben bei der Befragung durch den Industriehandelsverband an, mittlerweile sogar beim Essen Einsparungen zu machen, 94 Prozent haben jeden Besuch im Restaurant gestrichen.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 08. Februar 2013


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