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Brücke nach Zentralasien

Hintergrund. Heute unterzeichnet Georgien das Assoziierungsabkommen mit der EU. Deutschland verfolgt damit seit Kaiser-Wilhelm-Zeiten bestehende Pläne

Von Jörg Kronauer *

Berlin und Brüssel haben zuletzt noch richtig Dampf gemacht. Das Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und Georgien war auf dem EU-Gipfel Ende November 2013 in Vilnius paraphiert, also das Verhandlungsergebnis per Unterschrift bestätigt worden. Es sollte zunächst in aller Ruhe nach Abschluß der letzten Arbeiten im Sommer dieses Jahres unterzeichnet werden; man hatte den August angepeilt. Dann aber ist der Ukraine-Konflikt eskaliert, und die EU hat beschlossen, schnell vollendete Tatsachen zu schaffen. Am 24. April hat der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier bei seinem Besuch in Tbilissi eingewilligt, die Unterzeichnung des Abkommens zu beschleunigen. Und so kam es dann auch: Der Vertrag wird am Rande des heute zu Ende gehenden EU-Gipfels in Brüssel unterzeichnet. Damit ist die Anbindung Georgiens in aller Form unter Dach und Fach.

Georgien ist eines der sechs Länder der ehemaligen Sowjetunion, die die EU mit der sogenannten Östlichen Partnerschaft möglichst eng an sich zu binden sucht. Nach ihrer Osterweiterung, die 2004 und 2007 in zwei Schritten umgesetzt wurde, ist die 2008 beschlossene und am 7. Mai 2009 offiziell ins Leben gerufene Östliche Partnerschaft der nächste Expansionsschritt der deutsch geführten Union. Weil die Staaten, um die es geht, von beträchtlicher Armut geprägt sind und ihr EU-Beitritt den Brüsseler Haushalt recht teuer zu stehen käme, ist ein alternatives, deutlich billigeres Anbindungsformat vorgesehen – die »Assoziierung«. Sie verlangt den betroffenen Ländern eine umfassende Anpassung an EU-Standards ab, ohne ihnen aber die Vorteile der Mitgliedschaft zu bieten. Die Östliche Partnerschaft soll die formelle Hegemonialsphäre Berlins und der EU erstmals auch jenseits des Baltikums bis ins unmittelbare Umfeld Rußlands ausdehnen, man hat damit aber nur eingeschränkt Erfolg: Belarus und Armenien wollen sich nicht assoziieren lassen, Aserbaidschan sträubt sich hartnäckig. Die Entwicklung der Ukraine, die im März die politische Assoziierung unterschrieben hat und jetzt die ökonomische nachholt, ist bekannt. Auch Moldawien, das heute auf dem EU-Gipfel ebenso einen Assoziierungsvertrag unterzeichnet, hat gravierende Probleme: Transnistrien hat sich faktisch längst abgespalten, und das autonome Gebiet Gaganziya sucht sich ebenfalls der EU-Anbindung zu verweigern. Nur mit Georgien laufen die Dinge bislang wie geplant.

Allerdings ist Georgien aus deutsch-europäischer Perspektive aus geostrategischen Gründen das neben der Ukraine vielleicht wichtigste Land der Östlichen Partnerschaft: Es öffnet den Staaten der EU einen Weg ins Kaspische Becken und nach Zentralasien. Russisches und iranisches – also potentiell gegnerisches – Territorium wird dabei vermieden und daher gilt er als prinzipiell kontrollierbar und zuverlässig. Das ist vor allem deshalb von Interesse, weil im Kaspischen Becken umfangreiche Rohstoffvorräte liegen, auf die Berlin und die EU ein Auge geworfen haben. Aserbaidschan und Kasachstan besitzen große Mengen an Erdöl und Erdgas; Turkmenistan verfügt laut Auskunft der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) gar über die viertgrößten Erdgasreserven der Welt. Bei seinen Bemühungen, die kaspischen Ressourcen an Rußland vorbei nach Europa zu leiten, hat der Westen in den letzten Jahren zwar eine ganze Reihe Rückschläge hinnehmen müssen, deren wohl bekanntester das Scheitern der zunächst so großspurig angekündigten Erdgaspipeline »Nabucco« war. Andere Projekte arbeiten allerdings erfolgreich, etwa die Baku–Tbilissi–Ceyhan-Erdölröhre. Über Georgien und den gesamten Südkaukasus heißt es denn auch in einer Broschüre des Bundesentwicklungsministeriums: »Als Transitkorridor für zentralasiatische Energielieferungen nach Europa nimmt die kaukasische Landbrücke eine Schlüsselstellung ein.« Frederick Starr, Leiter des Central Asia-Caucasus Institute an der Washingtoner Johns Hopkins University, hat den Südkaukasus provokativ einen »Land-Suezkanal zwischen Europa und Asien« genannt.

Pläne seit Kaiser Wilhelm II.

Berlins Interesse am Südkaukasus und insbesondere an Georgien ist mittlerweile gut 100 Jahre alt. Erstmals rückte Tbilissi 1914 ernsthaft ins Visier der deutschen Außenpolitik. Das Osmanische Reich hatte im Weltkrieg eine Kaukasusoffensive gestartet; sein deutscher Verbündeter gedachte sich über christliche Georgier in der Region Einfluß zu sichern. Als günstig erwies sich, daß einige politische Führungsfiguren aus dem damals zum Russischen Reich gehörenden Georgien nach Berlin ins Exil gegangen waren und bei ihren Kaukasusaktivitäten bereitwillig mit den Deutschen kooperierten. Das Berliner Interesse für Georgien ließ bald nach, war jedoch 1918 wieder da, als den Mittelmächten – das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn – die Rohstoffversorgung Schwierigkeiten bereitete: Mangan- und Kupfererze sowie Erdöl aus dem Südkaukasus gerieten in den Blick der Obersten Heeresleitung und des Auswärtigen Amts. Als Georgien am 26. Mai 1918 seine Eigenstaatlichkeit erklärte, da tat es dies unter dem Schutz deutscher Militärs. Wenig später entsandte das Deutsche Reich erste Bataillone in Richtung Tbilissi. Ihre Aufgabe hat das Militärgeschichtliche Forschungsamt im Jahr 2008 geschichtsbewußt beschrieben: Sie sollten »durch die Kontrolle des Verkehrswesens die wirtschaftliche Ausbeutung und Durchdringung« des Südkaukasus sicherstellen. Daß Berlin bereits damals den Südkaukasus und Georgien nicht nur für den Rohstofftransport, sondern auch zu geostrategischen Zwecken zu nutzen gedachte, ist einer Äußerung Wilhelms II. von Anfang Juni 1918 zu entnehmen: Man benötige das Gebiet »als Brücke nach Zentralasien«. Die »Politik des Auswärtigen Amtes« sei es deshalb gewesen, schrieb der heute vielgeschmähte Historiker Fritz Fischer 1961, »Georgien als Staat möglichst unversehrt zu erhalten und durch eine Militärkonvention und Wirtschaftsbündnisse an Deutschland anzugliedern«. Blickt man auf das aktuelle EU-Assoziierungsabkommen, dann erscheinen die alten Berliner Pläne als geradezu visionär.

Selbstverständlich nahm Berlin den Südkaukasus und Georgien bei seiner zweiten – der bei weitem mörderischsten – Expansion im Zweiten Weltkrieg ebenfalls ins Visier. Vor allem auf die kaukasischen Erdölvorkommen hatte das Naziregime es abgesehen. Ihre Eroberung galt als notwendig, um den Krieg gewinnen zu können. Darüber hinaus nahm auch die Wehrmacht die Region erneut als Landbrücke nach Zentralasien in den Blick – für einen etwaigen Angriff über Afghanistan auf Indien. Eine georgische Eigenstaatlichkeit lehnten die Deutschen diesmal jedoch ab. In der Reichshauptstadt wurde über die Errichtung eines »Generalbezirks Georgien« innerhalb eines »Reichskommissariats Kaukasien« diskutiert, das die deutsche Macht im Südkaukasus hätte sichern sollen. Bekanntlich scheiterte auch der zweite Versuch Berlins, sich dauerhaft im Kaukasus festzusetzen.

Um Einfluß auf den südkaukasischen »Land-Suezkanal« und sein georgisches Eingangstor bemüht sich schließlich auch die Bundesrepublik, seit die Länder des Südkaukasus 1991 die staatliche Unabhängigkeit erlangten. »Deutschland war das erste Land der Europäischen Gemeinschaft, das Georgien nach der Unabhängigkeit 1991 am 23. März 1992 völkerrechtlich anerkannte und am 13. April 1992 diplomatische Beziehungen aufnahm«, teilt das Auswärtige Amt noch heute stolz mit: »Deutschland hat 1992 als erster Staat eine Botschaft in Georgien eröffnet.« Die Eile hatte natürlich auch damit zu tun, daß Bonn höchst zufrieden war, daß die Sowjetunion sich zerlegt und Moskau damit geostrategisch bedeutende Gebiete sowie Industrien und Rohstoffe verloren hatte. Diesen Zustand galt es durch die rasche Anerkennung der staatlichen Zerfallsprodukte, darunter Georgien, umgehend zu stabilisieren. Waren die deutsch-europäischen Kräfte zunächst durch die EU-Osterweiterung gebunden, so rückte, sobald diese halbwegs unter Dach und Fach war, der nächste Staatenring von Belarus bis zum Südkaukasus in den Fokus Berlins und Brüssels. 2001 startete das deutsche Entwicklungsministerium seine »Kaukasusinitiative«, 2004 intensivierte die EU ihre Kooperation mit den drei südkaukasischen Staaten und nahm sie in ihre »Nachbarschaftsinitiative« auf. Es war die Zeit, als Projekte wie »Nabucco«, 2002 initiiert, oder die »Südkaukasus-Pipeline«, Baubeginn 2003, in die Gänge kamen und die EU das in Entwicklung begriffene Konzept des »Südlichen Gaskorridors« aufnahm, der den Südkaukasus umfaßte. 2006 wurde es vom Europäischen Rat und vom Europaparlament als »Vorhaben von europäischem Interesse« eingestuft, im November 2008 schrieb ihm die EU-Kommission schließlich »Gemeinschaftspriorität« zu.

Installierte Rosenrevolution

Wie es der Zufall und die westliche Interven­tionspolitik wollen: Der Zeitpunkt für die Pipelineprojekte war, jedenfalls was Georgien betrifft, günstig gewählt. Nicht nur die EU konnte, seit sie ihre Osterweiterung geregelt hatte, neue Kapazitäten auf den Südkaukasus verwenden. Auch die USA trieben, mit dem Überfall auf den Irak auf dem Gipfel ihrer Macht angekommen, ihre Expansion voran. Ronald D. Asmus, ein ehemaliger hochrangiger Diplomat des State Department, schrieb im Juni 2004 in der Zeitschrift Internationale Politik, nachdem der Westen es glücklich geschafft habe, »seine Agenda der neunziger Jahre umzusetzen«, könne er es »sich nun leisten, seinen geopolitischen Horizont auszuweiten«. Nächstes Ziel müsse die Schwarzmeerregion sein, »ein Kernelement des strategischen Hinterlandes des Westens«; sie bilde die »Nahtstelle zwischen der transatlantischen Gemeinschaft und dem ›Weiteren Nahen Osten‹«. Es war die Zeit der »Farbenrevolutionen«, die von den Vereinigten Staaten mit Macht vorangetrieben und von Deutschland und der EU hochzufrieden unterstützt wurden. Sie brachten prowestliche Regierungen an die Macht: in der Ukraine Ende 2004/Anfang 2005, in Georgien – nicht nur geostrategisch, sondern auch für die westlichen Pipelineprojekte durchaus vorteilhaft – bereits Ende 2003/Anfang 2004.

Die westliche Umsturzförderung ist damals – wie üblich – mit der Behauptung legitimiert worden, man wolle Georgien nur »Freiheit und Demokratie« bringen. Was das Land wirklich bekommen hat, kann man in einer Studie der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) lesen, die vom Kanzleramt finanziert wird und nicht als antiwestlich gelten kann. Die Studie, Ende 2013 publiziert, schildert in nüchternen Worten, wie einige Angehörige der georgischen Eliten um den vormaligen Justizminister Michail Saakaschwili 2003/2004 die Macht in Tbilissi eroberten – gestützt auf Protestorganisationen, die »von ausländischen Geldgebern wie George Soros gesponsert wurden«. Was geschah nach dem Umsturz? In der ersten Regierung Saakaschwili befanden sich, heißt es in der Studie, »unter 20 Ministern acht junge Leute, die zuvor für solche vom westlichen Ausland finanzierte Nichtregierungsorganisationen gearbeitet hatten«. Nach erfolgreichem Umsturz hätten die zuvor so sehr die »Zivilgesellschaft« lobenden westlichen Finanziers ihre Mittel in Richtung Regierung gelenkt, fährt die SWP fort; diejenigen Oppositionsgruppen, die nicht bereit gewesen seien, sich »verstaatlichen« zu lassen und wie der einst kritische Sender Rustavi-2 »regierungsfreundlich« zu werden, hätten aus Geldmangel »ihre Arbeit einstellen« müssen.

Und die Regierung? »Im analytischen Rückblick auf das politische System unter Saakaschwili«, schreibt die SWP höflich, werde häufig »der Begriff ›Competitive Authoritarianism‹ bemüht«: »In diesem System gehen Modernisierung und eine emphatisch bekundete Orientierung an westlichen Werten mit Attributen autoritärer Herrschaft Hand in Hand.« Das wirft Fragen auf. Entspricht es nun westlichen Werten oder autoritärer Herrschaft, daß sich die Anzahl der Häftlinge in Georgien unter Saakaschwili bis 2011 fast vervierfacht hatte und das Land nun mit 415 Inhaftierten pro 100000 Einwohner auf Platz vier der Weltrangliste stand – nach den USA (756), Rußland (629) und Belarus (468) –, wie die SWP berichtet? Was ist mit der »Mißhandlung von Häftlingen«, die dem georgischen Ombudsmann zufolge 2012 »systemischen Charakter« angenommen hatte. War sie möglicherweise dem westlichen »Antiterrorkrieg« abgeschaut? »Internationale Menschenrechtsorganisationen monierten Übergriffe durch Rechtsschutzorgane und willkürliche Verhaftungen, den Druck der Regierung auf die Gerichte«, hält die SWP fest: »Bei der Meinungsfreiheit konstatierten auswärtige Beobachter eine Verschlechterung gegenüber der Ära Schewardnadse.« Das war die Realisierung angeblicher »Freiheit und Demokratie« unter westlicher Hegemonie.

Aufrüstung und Kriegsbeteiligung

Was es ansonsten bedeuten kann, in die westliche Hegemonialsphäre überzulaufen, zeigt sich am Beispiel Georgien überdeutlich im sozio-ökonomischen und im militärischen Bereich. »Protagonist der Wirtschaftspolitik seit 2004« sei der Oligarch Kachaber Bendukidse gewesen, berichtet die SWP, die dessen »wirtschaftspolitisches Bekenntnis« folgendermaßen wiedergab: »Jede Wirtschaftspolitik sollte ein Maximum an Deregulierung als Priorität haben.« Das Ergebnis kann man einem Überblick der Außenwirtschafts­agentur »Germany Trade and Invest« (GTAI) vom Oktober 2013 entnehmen: »Im neoliberalen Wirtschaftsmodell Georgiens liegt die Verantwortung für die eigene soziale Grundabsicherung weitestgehend beim Arbeitnehmer. (...) Das 2006 in Kraft getretene ultraliberale Arbeitsgesetz« habe »den Spielraum der Gewerkschaften in arbeitsrechtlichen Fragen erheblich eingeschränkt«, den Arbeitsschutz aufgeweicht und die Arbeitsaufsicht »ersatzlos aufgelöst«. Die Folgen? »Allein die Anzahl von Unfällen am Arbeitsplatz mit tödlichem Ausgang« habe bis 2012 »um mehr als 50 Prozent zugenommen«. Die Arbeitslosigkeit? Offiziell liegt sie bei 15, tatsächlich jedoch laut GTAI bei »mindestens 35 bis 40 Prozent«. Die Löhne? »Deutlich unter dem Lohnniveau in Rußland und Kasachstan«; rechnet man Oligarchen und andere »Besserverdiener« heraus, komme man auf einen monatlichen Durchschnittsverdienst von knapp 230 Euro. Einer Umfrage aus dem Jahr 2011 zufolge reichte das Einkommen in einem Viertel aller Haushalte nicht für die nötigen Nahrungsmittel aus.

Gleichzeitig leistet sich Georgien, der Musterschüler des Westens unter den Zerfallsprodukten der ehemaligen Sowjetunion, einen Militäretat, der zeitweise rund 25 Prozent des Staatshaushalts erreichte, berichtet die SWP. Das Land habe vor dem Krieg gegen Rußland, den es im August 2008 vom Zaun brach, »weltweit zu den Staaten« mit den »höchsten Militärausgaben, gemessen am Gesamt­etat«, gehört. Die Mittel wurden keineswegs nur genutzt, um sich auf Konflikte mit Moskau vorzubereiten. Georgien, 1994 dem NATO-Anbindungsprogramm »Partnership for Peace« beigetreten, strebte ab 2004 nicht nur mit Macht in die NATO, es beteiligte sich auch mit bis zu 2000 Soldaten am Irak-Krieg; mit lediglich 4,5 Millionen Einwohnern stellte es dort zeitweise das drittgrößte nationale Kontingent. Auch in Afghanistan sind georgische Soldaten in großer Zahl stationiert: Tbilissi hat seine Einheiten dort aufgestockt und ist inzwischen mit fast 1600 Soldaten der größte Nicht-NATO-Truppensteller am Hindukusch und der fünftgrößte überhaupt. Der gewünschte NATO-Beitritt, den Georgien bis heute anstrebt, scheiterte 2008 nur an der Bundesrepublik beziehungsweise an deren Rivalität mit den USA: Sein NATO-Beitritt hätte den Einfluß Washingtons in Tbilissi wohl weiter gestärkt, während Berlin Osteuropa und den Südkaukasus als Teil seiner eigenen Hegemonialsphäre sieht. Kanzlerin Angela Merkel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier schoben dem georgischen NATO-Beitritt daher einen Riegel vor.

Wird der mit der Assoziierung vermutlich wachsende Einfluß der EU Georgien in militärischer Hinsicht Entspannung bringen? Zweifel sind angebracht. Das Assoziierungsabkommen schreibt einen »politischen Dialog« in Sachen Außen- und Sicherheitspolitik vor; Militärpolitik wird dabei ausdrücklich einbezogen. Der »Dialog« werde »die Konvergenz in außen- und sicherheitspolitischen Fragen« stärken, heißt es in Artikel 3 der vorläufigen Fassung des Vertrags; er solle speziell »regionale und globale Herausforderungen und Schlüsselbedrohungen« thematisieren. »Die Vertragsparteien werden ihre praktische Kooperation bei Konfliktprävention und Krisenmanagement ausweiten, besonders im Hinblick auf eine mögliche Beteiligung Georgiens an EU-geführten zivilen und militärischen Krisenmanagementoperationen und an einschlägigen Übungen und Trainingsmaßnahmen«, heißt es in Artikel 7. Zu diesem Zweck haben Brüssel und Tbilissi bereits auf dem Vilnius-Gipfel Ende November 2013 ein »Rahmenabkommen über die Beteiligung Georgiens an Krisenmanagementoperationen der EU« geschlossen. Berlin und Brüssel haben es eilig: Tbilissi hat schon vergangenes Jahr die symbolische Bereitstellung von zwei Soldaten für die EU-Operationen in Mali zugesagt und beteiligt sich an der EU-Intervention in der Zentralafrikanischen Republik mit bis zu 150 Soldaten; das sind rund ein Fünftel der gesamten EU-Truppe.

Brückenkopf gegen Rußland

Mit den Parlamentswahlen im Oktober 2012 und den Präsidentschaftswahlen im Oktober 2013 ist in Tbilissi eine neue Regierung ans Ruder gekommen. Das siegreiche Parteienbündnis »Georgischer Traum« hat in einigen Bereichen spürbare Kurskorrekturen angekündigt. Vor allem sollen der Sozial­etat auf Kosten des Militärhaushalts aufgestockt und arbeitsrechtliche Standards etwas verbessert werden. Auch sollen sämtliche Bürger Georgiens zumindest wieder eine medizinische Grundversorgung erhalten. An der Orientierung nach Westen hingegen wird die neue Regierung festhalten. Bidsina Iwanischwili, Oligarch und starker Mann von »Georgischer Traum«, hat dies schon im Juni 2013 klargestellt: »Der europäische und euro-atlantische Raum ist unsere strategische Wahl, und wir werden uns strikt in diese Richtung bewegen.«

Abzuwarten bleibt, wie sehr die aktuelle Eskalation des Konflikts zwischen Rußland und dem Westen sich auf die georgisch-russischen Beziehungen auswirkt. »Georgischer Traum« ist vor zwei Jahren auch mit dem Versprechen angetreten, das Verhältnis zu Moskau, das Saakaschwili mit seinem Konfrontationskurs weitgehend ruiniert hatte, wieder spürbar zu verbessern. Die Chancen dafür haben sich mit der Ukraine-Krise deutlich verschlechtert. Es läßt sich nicht einmal ausschließen, daß der Westen Georgien künftig als eine Art Brückenkopf gegen Rußland nutzt – nicht nur als Baustein einer Einkreisung, die vom Baltikum über die Ukraine bis Georgien reichen würde, sondern auch für operative antirussische Maßnahmen im russischen Nordkaukasus.

Ein geeignetes Instrument dafür böte die 2010 von Saakaschwili verkündete Strategie des »United Caucasus«. »Wir gehören vielleicht zu verschiedenen Staaten und leben auf verschiedenen Seiten der Berge«, erklärte der damalige georgische Präsident mit Blick auf die zahlreichen Sprachgruppen sowohl in Georgien als auch im russischen Nordkaukasus im September 2010 vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen: »In menschlicher und in kultureller Hinsicht aber« gebe es »keinen Nord- und Süd-, sondern nur einen einzigen Kaukasus, der zu Europa gehört und eines Tages in die europäische Familie freier Nationen eintreten wird – auf den Spuren Georgiens«. Tbilissi begann die Strategie umzusetzen, gewährte in einem ersten Schritt der Bevölkerung des russischen Nordkaukasus Visafreiheit, gründete einen TV-Sender, der jenseits der Grenze in russischer Sprache georgisch-antirussische Agitation betrieb, und diskutierte über mögliche Hilfen für »zivilgesellschaftliche Gruppen« und Menschenrechtsorganisationen – nicht im eigenen Land, sondern in Rußland. Die Maßnahmen seien »auch darauf angelegt« gewesen, »Rußland als Kolonialmacht in der Region abzustempeln« und »seine Position im Nordkaukasus zu schwächen«, räumte die SWP Ende 2013 im Rückblick ein. »Provokativ und potentiell destabilisierend« nannte die US-Zeitschrift Foreign Affairs das georgische Vorgehen schon Ende 2010.

Die neue georgische Regierung hat sich, wie die SWP berichtet, schon vor der Eskalation der Ukraine-Krise dazu bekannt, auch weiterhin »enge Beziehungen zur Bevölkerung des Nordkaukasus zu unterhalten«. Man wolle dabei allerdings nicht konfrontativ vorgehen, hieß es letztes Jahr beschwichtigend. Nun – die Dinge können sich jederzeit ändern. Bereits 2012 hatte die SWP angeregt, Berlin und Brüssel sollten der Kaukasuspolitik Georgiens mehr »Aufmerksamkeit« schenken: »Die Förderung wirtschaftlicher, kultureller und humanitärer Kontakte zu den nordkaukasischen Nachbarn verdient Unterstützung.« Der Machtkampf zwischen der EU und Rußland hat sich seitdem heftig verschärft. Ob Berlin und Brüssel das frisch assoziierte Georgien dazu nutzen werden, ihrerseits antirussische Aktivitäten im russischen Nordkaukasus zu unterstützen, das wird man beobachten müssen.

* Aus: junge Welt, Freitag 27. Juni 2014


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