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Von Feuergefechten zum Krieg

Georgien greift Südossetien an - Medwedew: Russland wird seine Bürger schützen. Zwei Artikel und Kommentare

Wieder Feuergefechte in Südossetien

Präsident Kokoity: "Auf Angriff vorbereitet"

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Bei schweren Feuergefechten in der georgisch-südossetischen Konfliktzone sind in der Nacht zum Donnerstag (7. August) mindestens 20 Menschen verletzt worden.

Meldungen aus Südossetien lesen sich inzwischen wie Frontberichte. Beim Kampf um namenlose Höhen, die mehrmals täglich den Besitzer wechseln, gibt es Tote und Verwundete. Georgien und Südosseten werfen sich gegenseitig vor, das Feuer eröffnet zu haben. Am Donnerstag schaltete sich auch das russische Außenamt, das bisher beide Seiten zu Besonnenheit ermahnte, in den verbalen Schlagabtausch ein: Georgiens Vorgehen in der Region, so Vizeaußenminister Grigori Karassin nach einem Telefonat mit dem südossetischen Präsidenten Eduard Kokoity, müsse als Vorbereitung für einen Krieg gewertet werden. Mit dessen Beginn rechnet Kokoity für Anfang September. »Unsere Einheiten« – gemeint sind die etwa 5000 Mann starken Heimwehren – »sind auf den Angriff vorbereitet«, ließ er sich von der Nachrichtenagentur RIA Nowosti zitieren.

Zwar ist wegen des ungewissen Ausgangs keiner der drei Akteure an einer militärischen Lösung des Konflikts interessiert, wohl aber an einer kontrollierten Eskalation der Spannungen. Georgien geht es vor allem darum, die Nation auf der Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners – Wiederherstellung der staatlichen Integrität – zu konsolidieren und die Opposition zu neutralisieren. Dafür nimmt Tbilissi sogar Verzögerungen beim NATO-Beitritt in Kauf. Denn den Beginn von Beitrittsverhandlungen hat die Militärllianz von tragfähigen Lösungsansätzen für den Konflikt mit den abtrünnigen Regionen abhängig gemacht. Auch Moskau, entschiedener Gegner einer georgischen NATO-Mitgliedschaft, ist daher an der Beibehaltung des gegenwärtigen Status interessiert. Ebenso die Separatisten. Je größer die Bedrohung, so ihr Kalkül, desto größer die Chance, dass Moskau sich zu mehr Engagement aufrafft und Südossetien mit dem zu Russland gehörenden Nordossetien vereinigt.

Die Spannungen entwickeln jedoch allmählich eine gefährliche Eigendynamik. 80 Prozent der Südosseten sind inzwischen Bürger Russlands. Deren Schutz aber hat Moskau oft und laut verkündet. Ein Rückzug bei militärischen Auseinandersetzungen ist daher ohne Gesichtsverluste kaum möglich. Der Einsatz regulärer Truppen aber kommt wegen der geopolitischen Konsequenzen nicht in Frage. Den einzigen Ausweg böten Freiwillige, um die Südossetien gebeten hat. Eine Vorhut von 3000 Mann ist bereits da: Donkosaken und Angehörige halblegale Milizen ethnischer Bewegungen der Nordkaukasus-Völker. Sie kämpften schon 1993 auf Seiten Abchasiens gegen georgische Regierungstruppen.

* Aus: Neues Deutschland, 8. August 2008


Krieg im Kaukasus

Von Knut Mellenthin **

Der viele Male angedrohte, seit einer Woche erwartete Großangriff Georgiens auf die Republik Südossetien hat begonnen. Am Donnerstag abend (7. August) kurz vor Mitternacht gab das Verteidigungsministerium in Tbilissi bekannt, Georgien habe »beschlossen, die verfassungsmäßige Ordnung im gesamten Gebiet (Südossetiens) wiederherzustellen«. Das kam einer Kriegserklärung an das frühere Autonome Gebiet Georgiens gleich, das seit September 1990 seine Unabhängigkeit behauptet. Ein erster georgischer Versuch, Südossetien mit Militärgewalt zurückzuerobern, endete 1991 in einem monatelangen blutigen Krieg. Seit 1992 herrschte ein angespannter Waffenstillstand. Georgien hatte schon vor der jetzigen Aggression auf rund einem Drittel des südossetischen Territoriums Polizei und Militär stationiert; die tatsächliche Grenze wurde nie definiert. In den vergangenen Monaten hatten georgische Truppen illegal mehrere strategisch wichtige Höhen rund um die Hauptstadt Tschinwali besetzt und befestigt.

Wenige Stunden vor Angriffsbeginn hatte Georgiens Präsident Michail Saakaschwili am Donnerstag abend eine staatsmännisch klingende Rede gehalten, in der er zum Verzicht auf Gewalt aufrief und einen einseitigen Waffenstillstand bekanntgab. Die südossetische Regierung stimmte zu, und tatsächlich trat daraufhin eine kurze Ruhe an den Fronten ein. Ein Treffen zwischen Vertretern beider Seiten in Tschinwali wurde für Freitag vormittag (8. August) angekündigt. Dann folgte überraschend der georgische Angriff.

Am Freitag nachmittag (8. Aug.) stellte sich die Lage so dar: Die meisten Dörfer östlich und westlich der südossetischen Hauptstadt wurden schon in der Nacht von georgischen Truppen eingenommen oder, wie die Sprachregelung Saakaschwilis lautet, »befreit«. Große Teile des Zentrums von Tschinwali, insbesondere Regierungsgebäude, liegen durch Artilleriefeuer und Raketenbeschuß in Trümmern. Nach Angaben der südossetischen Regierung wurden mehrere hundert Zivilisten getötet. Wie das Verteidigungsministerium in Moskau meldet, kamen auch zehn russische Angehörige der Friedenstruppe beim Beschuß ihrer Kaserne ums Leben. Die meisten der etwa 35 000 Bewohner von Tschinwali suchen in den Kellern Schutz. Georgische Truppen sind in die Außenbezirke der Stadt vorgedrungen, aber offenbar auf harten Widerstand gestoßen. Für den Nachmittag hatte das georgische Militär eine dreistündige Waffenruhe angekündigt und die Bevölkerung aufgefordert, in dieser Zeit aus Tschinwali zu flüchten. Der zentrale Bezirk Java und der Norden der Republik sind bisher von der georgischen Offensive verschont geblieben. Zahlreiche Freiwillige aus anderen Teilen des Kaukasus – allein die zweite abtrünnige Republik, Abchasien, hat die Entsendung von 1000 Kämpfern bekanntgegeben – sind auf dem Weg, um die Südosseten bei der Verteidigung zu unterstützen.

In Moskau erklärte Präsident Dmitri Medwedew am Nachmittag in einer Fernsehansprache, daß Rußland seine Bürger schützen werde – die meisten Südosseten sind russische Staatsbürger – und daß »die Verantwortlichen« für die Aggression »bestraft« würden. Eine lange Kolonne russischer Panzer und anderer Militärfahrzeuge hat die Grenze nach Südossetien überschritten, um die dort stationierten Friedenstruppen zu verstärken. Saakaschwili reagierte mit der Erklärung, daß sich Georgien nun im Krieg mit Rußland befinde.

** Aus: junge Welt, 9. August 2008

Alleingang?

Georgien greift Südossetien an

Von Werner Pirker **

Noch bevor die Spiele in Peking begonnen hatten, war der olympische Frieden auch schon gebrochen. Georgien hat sich im Konflikt mit der seit 16 Jahren von seinem Staatsgebiet losgetrennten Provinz Südossetien für den Krieg entschieden. Das ist nicht nur eine Aggression gegen den Miniaturstaat am Fuße des Kaukasus-Hauptkammes, sondern auch eine gegen Rußland, das durch eine – in einem internationales Abkommen festgelegten – Friedenstruppe in der Krisenregion präsent ist.

Südossetien hat den 1991 erfolgten Austritt Georgiens aus der UdSSR nicht mitvollzogen und nach dem Ende der Sowjetunion keinerlei Bereitschaft erkennen lassen, dem georgischen Staatsgebiet wieder beizutreten. Die Sezession, die 2006 mit einem Referendum besiegelt wurde, ist nicht mehr und nicht weniger völkerrechtswidrig, als es die kosovo-albanische Lostrennung von Serbien war. Doch die eine wurde vom Westen sanktioniert, während die andere den Westen auf der Seite des um seine territoriale Integrität bemühten Staates sieht. Ein weiterer Unterschied besteht darin, daß den Albanern in Serbien ein Höchstmaß an Minderheitenrechten zugestanden wurde, während die Südosseten mit einer brutalen Georgisierungspolitik rechnen mußten. Denn das nach der Oktoberrevolution 1917 von Rußland losgetrennte und von Menschewiki geführte Georgien war nicht gerade von Toleranz gegenüber nationalen Minderheiten geprägt. Das lag vor allem daran, daß bei einer Anerkennung aller nationalen Gruppen die Georgier selbst nur eine Minderheit in Georgien wären.

Ein wesentliches Motiv für die nationale Unabhängigkeitsbewegung der Südosseten ist die Ablehnung der politischen Verhältnisse in Georgien. Gemeint sind die ständigen politischen Eruptionen in dieser Kaukasusrepublik sowie die Eingliederung des Landes in eine aggressive Frontstellung gegen Rußland. Die Südosseten erhoffen sich eine Vereinigung der beiden ossetischen Territorien im Rahmen der Russischen Föderation. Moskau, das einem Großteil der südossetischen Bürger russische Pässe aushändigte, betreibt zwar einen schleichenden Anschluß, vermochte es aber bisher noch nicht, sich zu einer vollen Anerkennung der südossetischen Unabhängigkeit durchzuringen. Es nutzt vielmehr die »eingefrorenen Konflikte« als ständiges Druckmittel gegen unfreundliche Nachbarn wie die Ukraine und Georgien.

Was hat aber nun Tbilissi dazu bewogen, den Konflikt aufzutauen und einen Krieg zu entfesseln, der im schlimmsten Fall zu einer direkten Konfrontation zwischen Rußland und den USA führen könnte? Es ist schwer vorstellbar, daß Michail Saakaschwili, Georgiens US-höriger Präsident, den offenen Kriegsakt nicht mit Washington abgestimmt hat. Was aber will die Bush-Administration am Ende ihrer Tage? Es den Moskowitern noch einmal zeigen? Oder einfach nur die Konfliktbereitschaft des neuen Kreml-Chefs und die Einheit des Führungsduos auf die Probe stellen? Die Folgen könnten katastrophal sein.

** Aus: junge Welt, 9. August 2008 (Kommentar)




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