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Georgien: Die Anziehungskraft des Schwarzen Meeres

USA und EU ringen um die Vormachtstellung in der Region

Von Anton Latzo*

Georgien, ein Land mit 4,5 Millionen Einwohnern, an den östlichen Gestaden des Schwarzen Meeres und den südlichen Ausläufern des Kaukasus gelegen, hat alle natürlichen Voraussetzungen zum touristischen Paradies. Als solche sind Kurorte der Schwarzmeerküste (Batumi) und des Kaukasus, die historische Heerstraße durch das Terektal über den Kreuzpaß ins Aragwital auch weithin bekannt.

Heute aber sorgen sich die Menschen Georgiens um das nackte Überleben. Um die Lebensfähigkeit des Staates zu erhalten, benötigt das Land internationale »Hilfe« in Höhe von mindestens 150 Millionen Dollar jährlich. Die Auslandsschulden betragen aber jetzt schon rund zwei Milliarden Dollar. In den letzten Monaten des vergangenen Jahres war Georgien nicht mehr in der Lage, die fälligen Raten bei der Rückzahlung der Schulden zu begleichen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat im September 2003, vor der »Schewardnadse-Wahl«, die Gelder für Georgien eingefroren und damit ein deutliches Signal an die internationalen Finanz- und Wirtschaftskreise gegeben und den Druck auf das Land verstärkt. Dies erfolgte, laut IWF, weil die Haushaltspolitik der verantwortlichen Politiker in Georgien nicht den Erfordernissen des IWF entsprach.

Die neuen Machthaber

Am 4. Januar 2004 wurde eine neue Staatsführung gewählt, die zuvor als Opposition zu Schewadnadse aufgetreten war und seinen Sturz organisiert hatte. Aufgrund der inneren Konstitution des Staates ist sie mit einer politisch und ökonomisch labilen Situation konfrontiert, die das Wiederaufbrechen der inneren Konflikte jederzeit möglich macht. Diese instabile Lage wird verschärft durch die Aktivitäten der USA und anderer Großmächte, welche diese in und gegenüber Georgien entwickeln. Ihr Ziel ist nicht die Stabilität Georgiens und das Wohlergehen seiner Bürger, sondern die Schaffung und Festigung von Einflußsphären und Stützpunkten an der südlichen Grenze Rußlands – einem Raum, der für den Transport von Rohstoffen aus den weiter östlich und südöstlich liegenden Gebieten von großer Bedeutung ist. Es geht darum, die gesamte geostrategisch wichtige Region rund um das Schwarze Meer unter eigene Kontrolle zu bekommen und den Einfluß der imperialistischen Konkurrenz so gering wie möglich zu halten.

Der neue georgische Präsident, Michail Saakaschwili, der sich auch als »pro-westlicher Demokrat« apostrophieren läßt, kommt diesen Absichten gerne nach. Noch am Wahlabend erklärte er: »Wir sind für europäische Integration und eine enge Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten.« Zwar erklärte er auch, daß die Beziehungen mit Rußland von Bedeutung bleiben, aber die Differenzierung und die Hauptausrichtung der Politik wurde deutlich.

An der Macht sind jetzt vor allem in und von den USA ausgebildete Personen – der 35jährige Staatspräsident Saakaschwili z. B. ist Absolvent der George Washington University in Washington und der Juristischen Fakultät der Columbia-University in New York. Sie bekleideten schon unter Schewardnadse Ministerposten und andere einflußreiche Ämter, säuberten die Institutionen des Staates und der Wirtschaft von Funktionären aus der Sowjetzeit und traten dann zurück, um die Opposition zu organisieren. Das Wall Street Journal schrieb am 24.11.2003: »Hinter den drei Politikern (Saakaschwili, Nino Burdschanadse als Parlamentspräsidentin und Surab Schwanija als künftiger Ministerpräsident – A.L.) stehen zahlreiche Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die seit dem Untergang der Sowjetunion entstanden sind. Viele dieser NGOs werden von Stiftungen aus Amerika und anderen westlichen Ländern unterstützt, die eine Klasse junger, englischsprachiger Intellektueller hervorbringen, die prowestliche Reformen herbeisehnen.«

Der Druck auf Rußland nimmt zu

Sofort nach dem Sturz Schewardnadses begann ein regelrechtes Trommelfeuer US-amerikanischer Besuche und Kontakte mit Georgien. Der US-amerikanische Außenminister Colin Powell führte noch am 22/23.11.2003 zwei Telefongespräche mit Schewardnadse, in deren Verlauf er den Präsidenten zum Rücktritt aufforderte. Unter den US-Prominenten, die seit Anfang Dezember in Georgien weilten, war Verteidigungsminister Donald Rumsfeld der höchstrangige. Er erklärte, daß die USA daran interessiert seien, die militärische Zusammenarbeit mit Georgien zu intensivieren und zur Durchsetzung von Reformen beizutragen, die für den Beitritt des Landes zur NATO notwendig sind.

Offensichtlich soll den militärischen Beziehungen auch weiterhin besondere Bedeutung zukommen. Schon 2002 erhielt Georgien von den USA 64 Millionen Dollar für militärische Zwecke. Der Militärhaushalt Georgiens für das ganze Jahr 2002 betrug im Verhältnis dazu gerade einmal 20 Millionen Dollar! Die Anwesenheit US-amerikanischer Militärberater in Georgien gehört ebenfalls dazu. Die jetzt vereinbarte Verstärkung dieses Kontingents auf über 300 weist darauf hin, daß man sich einig ist, diese Zusammenarbeit zu verstärken.

Dies könnte die neue Führung in Georgien dazu verleiten, gegenüber den Teilrepubliken Abchasien und Südossetien im Norden und Adscharien im Süden, die gegen die jetzigen Veränderungen opponierten und gute Beziehungen bzw. sogar die Vereinigung mit Rußland forderten, eine aggressivere Gangart einzuleiten. Dies würde wohl zwangsläufig zum kriegerischen Aufbrechen der ethnischen und religiösen Konflikte in Grusinien und den Nachbarstaaten führen. Es wäre ein »georgischer« Bürgerkrieg, diktiert von US-amerikanischen Interessen. Donald Rumsfeld erklärte jedenfalls bei seinem Besuch Anfang Dezember 2003 in Georgien, die drei Regionen stellten eine Bedrohung für die Stabilität des Landes dar und gab damit dem neuen Präsidenten eine klare Orientierung.

Das Agieren der USA macht deutlich, daß die Umwandlung Georgiens in einen US-amerikanischen Stützpunkt zugleich den Druck auf Moskau erhöhen sollte, seine Truppen aus Georgien abzuziehen. Rußland verstand die Botschaft und erwiderte mit dem Hinweis, seine militärische Präsenz in Georgien sei auf das Niveau reduziert worden, welches durch das OSZE-System zur Begrenzung konventioneller Rüstung vorgesehen ist. Für weitergehende Reduzierungen müßten erst die Bedingungen geschaffen werden. Rußland ist nicht an einem Zerfall Georgiens interessiert. Selbst Schewardnadse erklärte im Interview mit dem Tagesspiegel vom 3.12.03: »Entscheidend für Rußland ist ein stabiles Georgien, weil ein instabiles Georgien die ganze Region gefährdet.« Er befürchte aber, daß die jetzt in Georgien Regierenden das Land noch weiter in den Dunstkreis der USA-Interessen führen werden.

Den USA geht es weder um die Perspektiven der Region im allgemeinen, noch um das Schicksal Georgiens und seiner Menschen im besonderen. Um ihre imperialistischen Ziele realisieren zu können, wollen sie sich in dem für sie strategisch günstig gelegenen Land festsetzen und die Bedingungen und die Richtung der Politik Georgiens so bestimmen, daß sie profitabel für die US-amerikanische Politik genutzt werden können. Georgien soll zu einem militärischen Stützpunkt ausgebaut werden, von dem aus die südliche Grenze Rußlands für die USA unmittelbar zugänglich ist. (So nah an der russischen Grenze waren die USA noch nie stationiert, nicht einmal als Verbündete im Zweiten Weltkrieg.) Dieser Stützpunkt soll ebenso den ökonomischen und politischen Zielen der US- Expansion nach Zentralasien und dem Mittleren und Nahen Osten, der Ausbeutung der Rohstoffe in den östlich gelegenen Regionen und der Überwachung strategisch wichtiger Zugangs- und Transportwege dienen.

Imperialistische Konkurrenz

Die geographische Lage Georgiens ermöglicht die Kontrolle über das gesamte Schwarze Meer als Verbindung zwischen Europa einerseits und Zentralasien und dem Nahen und Mittleren Osten andererseits. Damit erhalten die USA auch die Möglichkeit der Kontrolle über die Aktivitäten der westlichen »Verbündeten«. Diese verfolgen, getrieben von der gleichen kapitalistischen Konkurrenz, die gleichen Ziele wie die USA, möchten diese aber allein und nicht unter der Fuchtel der USA durchsetzen. Und die USA möchten sie daran hindern. Es sind die klassischen Ziele und Inhalte imperialistischer Politik, wie sie seit 1989 wieder ohne Schranken betrieben werden kann.

Die EU »hat sich drei Ziele gesetzt. Zum einen soll die ›Zone der Sicherheit‹ um Europa herum erweitert werden. Dazu soll an der Ostgrenze der EU – vom Balkan bis zum Kaukasus – sowie rund um das Mittelmeer ein Ring von Staaten geschaffen werden, die in verantwortungsvoller und demokratischer Weise regiert werden«. (der Hohe Vertreter der Europäischen Union für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana, in der Süddeutschen Zeitung vom 19.09.2003) Es fragt sich nur: Von wem »soll ... ein Ring von Staaten geschaffen werden«? Die Antwort führt zum Wesen der EU-Außen- und Sicherheitspolitik. Ihr expansiver und imperialistischer Charakter zeigt sich ebenso deutlich wie der der US-amerikanischen. Aufgrund dieser Wesensgleichheit können beide nicht friedlich mit- oder nebeneinander existieren. Profit, Konkurrenz und Ausbeutung anderer Völker sind für beide bestimmend. Es ist höchste Zeit, dies und die daraus erwachsenden Gefahren zur Kenntnis zu nehmen!

Die Strategie und Politik der EU, egal in welche Formel sie verpackt wird, ist darauf ausgerichtet, die US-amerikanische Hegemonie zu brechen und eigene Weltmachtansprüche durchzusetzen. Dazu gehört auf jeden Fall auch das beanspruchte Gebiet vor der eigenen Haustür, also die Kaukasus- und Schwarz-Meer-Region. Daß Georgien auch im Konzept der EU eine wichtige Funktion zukommt, wurde mit dem Besuch Solanas Mitte Januar 2004 in Tbilissi deutlich. Er sagte »weitreichende Unterstützung« zu und erklärte die Bereitschaft der EU, eigene Friedenstruppen für die Lösung der Konflikte in Abchasien und Südossetien zu entsenden.

»Friedensmacht« Deutschland

In diesem Zusammenhang ist auch die Bundesregierung bemüht, Deutschland als »Friedensmacht« gegen die USA in Stellung zu bringen. Ein Hauptziel wurde deutlich von Ralf Fücks, dem Vorsitzenden der Heinrich-Böll-Stiftung, im Juni 2003 in Tbilissi ausgesprochen: »Die EU (...) darf die Region nicht den Großmachtspielen Rußlands und der USA überlassen.« Deutschland ist aber schon viel früher in Georgien »eingestiegen«. Es war – wie auf dem Balkan im Falle Jugoslawiens – weltweit der erste Staat, der nach dem Zerfall der Sowjetunion die Unabhängigkeit Georgiens anerkannt und dort eine Botschaft eröffnet hat. Die BRD ist – nach den USA – der zweitgrößte Entwicklungshilfegeber sowie der viertgrößte Handelspartner Georgiens und stellt das größte Kontigent für die UNO-Militärbeobachtermission im Land.

Georgien hat – wie Armenien und Aserbaidschan - seit dem 1. Juli 1999 ein Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit der EU und ist ein Schwerpunktland der Berliner Entwicklungszusammenarbeit im Kaukasus. Seit 2001 wurde die Zusammenarbeit intensiviert. Die »Kaukasus-Initiative« des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit sieht vor, das Rechtssystem der Kaukasus-Staaten an das deutsche Recht anzugleichen. Ferner soll die Energieversorgung der zur Zeit von russischer Energie abhängigen Länder gestärkt und damit der Einfluß Moskaus zurückgedrängt werden.

Für die deutsche Wirtschaft ist Georgien eine wichtige Etappe auf dem Weg in die zentralasiatischen Republiken. In Kasachstan sind laut Ost-Ausschuß der deutschen Wirtschaft vor allem Unternehmen aus »erdöl-nachgelagerten Bereichen« tätig. Hierzu gehören Anlagenbau, Telekommunikation, Maschinen- und Pipelinebau. In anderen Ländern der Region sind Firmen aus der Chemie-, Landwirtschafts- oder Rohstoffverarbeitungsbranche tätig. Gleichzeitig wird darauf hingewiesen, daß diese Länder aufgrund ihrer »bedeutenden Rohstoffvorkommen ... in Zukunft ... von erheblicher Bedeutung sein« werden. Unter diesem Gesichtspunkt ist es erklärlich, warum Verteidigungsminister Peter Struck darauf orientiert, die Bundeswehr solle in Zukunft »kurzfristig in entfernten Winkeln der Welt operieren« können. Auch politisch sei es notwendig, das Stadium der »Entwicklungshilfe« hinter sich zu lassen.

Gernot Erler, stellvertretender SPD-Fraktionsvorsitzender und verantwortlich für Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik, schreibt in einem Strategiepapier zum Konzept der Bundesrepublik: »Zwar sind die europäischen Beiträge im Bereich der Wirtschaftshilfe, des Staatsaufbaus und der Konfliktvermittlung durchaus willkommen, sie ersetzen jedoch nicht die Ausarbeitung einer langfristig angelegten politischen Strategie. Darin müßte die Anbindung der kaukasischen Staaten an Europa – jedoch ohne die Eröffnung einer konkreten Beitrittsperspektive für die EU - und das Engagement im Hinblick auf Konfliktvermittlung im Kaukasus unter Beteiligung der regionalen Mächte vor dem Hintergrund der wachsenden wirtschaftlichen Bedeutung der Region festgeschrieben werden.«

Die »Region des südlichen Kaukasus« sei »von großer geostrategischer Bedeutung. Sie bildet die Schnittstelle konkurrierender, teils kollidierender geopolitischer und energiepolitischer Interessen der Vereinigten Staaten, Rußlands sowie der Türkei und Irans. Dabei geht es vorrangig um die Erschließung und den Transport der reichen Erdöl- und Erdgasvorkommen im Kaspischen Meer.«(Osteuropa, Heft 2/2002)

Ein Jahr später bekräftigte eine Denkschrift der SPD-Grundwertekommission das Interesse der Bundesrepublik an einem »wirtschaftlich und politisch leistungsfähigen Großraum« mit einem Hinterhof, der bis nach Zentralasien und in den Nahen Osten reicht. Es gehe gegenwärtig um die Grundentscheidung, ob die »großen westlichen Nationen« sich weiter der Führung durch die USA fügen, eine »instabile« und nicht hinnehmbare Ordnung, oder durch die Weiterentwicklung eigener Machtmittel eine nach den eigenen Interessen definierte »globale politische Ordnung« durchsetzen.

Deutschland habe ein »legitimes eigenes Interesse an seiner dauerhaften und festen Einbindung in einen wirtschaftlich und politisch leistungsfähigen Großraum, der anderen Weltregionen vergleichbar ist«. Es müsse »als größter und wirtschaftlich stärkster Staat in Europa« für ein Europa eintreten, das in der Lage sei, sich »gegen äußere wirtschaftliche, politische und gegebenenfalls auch militärische Pressionen zu wehren«. (Frankfurter Rundschau, 19. 2. 2003) Das ist nicht nur eine erneute Einführung des »Großraums« in die deutsche Politik, sondern zugleich eine eindeutige Verkündung des Machtanspruchs Deutschlands in Europa und in der Welt durch eine sozialdemokratische Regierungspartei.

* Der Text von Anton Latzo wurde in der Tageszeitung "junge Welt" vom 11.02.2004 veröffentlicht.


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