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Antipathie gegen die "Métros"

La Réunion im indischen Ozean schließt sich den sozial motivierten antifranzösischen Protesten in den Übersee-Gebieten an

Von Manfred Loimeier *

Frankreich hat Ärger mit seinen Übersee-Départements. Nach dem Ende des Generalstreiks auf Guadeloupe haben die Proteste gegen hohe Lebenshaltungskosten und niedrige Löhne nun auf das französische Überseegebiet La Réunion im Indischen Ozean übergegriffen.

Saint-Denis ist ein Stadtteil von Paris, der bei den Krawallen von Jugendlichen 2005 Schlagzeilen machte. Saint-Denis heißt auch die Hauptstadt der Insel La Réunion im Indischen Ozean. Nach dem Ende eines Generalstreiks sind in der Nacht zum Mittwoch zahlreiche Geschäfte geplündert worden. Damit fanden die seit Tagen anhaltenden gewalttätigen Auseinandersetzungen ihre Fortsetzung.

Es gärt in den französischen Übersee-Départements. Vergangene Woche war ein Generalstreik auf der tausende Kilometer entfernten Karibik-Insel Guadeloupe nach sechs Wochen durch eine Vereinbarung beendet worden, die unter anderem Lohnerhöhungen von 200 Euro für Geringverdiener vorsieht. Auf der gleichfalls betroffenen Nachbarinsel Martinique wurde bis jetzt keine Lösung des Konflikts erreicht. Und auch auf Réunion stehen die Zeichen weiter auf Sturm.

Der süße Duft der Bourbon-Vanille

Die Bevölkerung Réunions folgt dem Beispiel der Bevölkerung in der französischen Karibik und besinnt sich auf ihre eigenen, die kreolischen Wurzeln - weit weg von Europa. Indes werden die Réunionesen als Mitglieder der Europäischen Union von dieser subventioniert. Ohne diese Unterstützung wäre die Inselwirtschaft nicht lebensfähig.

Das war lange Zeit anders. Dem Kaffeeboom im 18. Jahrhundert folgte ein bis zum Zweiten Weltkrieg andauernder Ausbau der Zuckerrohrplantagen. Weltweit bekannt wurde und ist Réunion aber wegen eines anderen Exportguts - der Bourbon-Vanille.

Anstelle von Kaffee, Zuckerrohr oder Vanille hat sich seit 1995 der Fremdenverkehr zum ertragreichsten Wirtschaftszweig Réunions entwickelt. Bergwanderer durchstreifen die drei Talkessel Salazie, Mafate und Cilaos, die zwischen zwei Vulkankegeln liegen. Heute zieht der durchschnittlich alle 18 Monate aktive Vulkan Piton de la Fournaise mit seinen Lavazungen und Schwefeldämpfen scharenweise Besucher an. Da aber vier von fünf Urlaubern auf Réunion aus Frankreich kommen und Kurorte wie Cilaos oder Hell-Bourg ihr Einkommen zu 80 Prozent dem Tourismus verdanken, ergibt sich daraus eine widersprüchliche Situation für die Réunionesen: Dem Wunsch nach weitgehender Selbstverwaltung steht die weitestgehende wirtschaftliche Abhängigkeit von Frankreich entgegen.

Bereits seit den 70er Jahren gibt es Bemühungen um eine Autonomie Réunions. Denn die Réunionesen sind nicht gut zu sprechen auf die »z'Oreils« oder »Métros«, wie die Franzosen vom europäischen Festland, der vormals kolonialen Metropole, genannt werden. Noch immer werden die Schlüsselpositionen auf der Insel mit auswärtigen Franzosen besetzt, während sich Réunionesen mit weniger gut dotierten Stellen begnügen müssen. Französische Beamte verbringen durchschnittlich vier Jahre auf dem Eiland von der Größe des Saarlands. Danach werden sie zurück in die Heimat »befördert«. Zwar gehen Bürgermeisterposten meist an Einheimische, doch im Gegensatz zu den »Métros« erhalten gebürtige Réunionesen keine »Buschzulage«, die bis zu 53 Prozent über dem Monatseinkommen in Frankreich liegen kann.

Niedrige Löhne und hohe Preise

Wobei die Gehälter auf Réunion trotz der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns Mitte der 80er Jahre nicht das sonst in Frankreich übliche Niveau erreichen. Hinzu kommen weitaus höhere Lebenshaltungskosten auf der Insel, da der Großteil der Konsumgüter eingeflogen wird.

Das anhaltende und längst nicht nur unterschwellige Gefühl der Benachteiligung bedroht nachhaltig den multikulturellen Frieden auf Réunion. Seit der Abschaffung der Sklaverei 1848 - danach wurden Vertragsarbeiter aus Indien und China verpflichtet - hat sich auf der Insel ein Völkergemisch gebildet, das diese Region des Indischen Ozeans nachhaltig von Afrika oder dem europäischen Festland unterscheidet. Etwa jeder dritte Réunionese hat europäische, jeder vierte indische Vorfahren. Jeweils rund fünf Prozent der Bevölkerung kommen aus China oder arabischen Ländern. Die Mehrheit der Afrikaner auf Réunion sind Zuwanderer aus Madagaskar oder deren Nachfahren. Zwar ist der Großteil der Bevölkerung katholisch, aber wie in der réunionesischen Hauptstadt St. Denis sind in den Städten Saint-André, Le Tampon oder St. Pierre gleichermaßen Kirchen der Katholiken, Tempel der Hindus, Pagoden der Buddhisten oder Moscheen der Muslime zu finden.

Das latente Gefühl der Benachteiligung prägt in wachsendem Maße besonders das Leben der Jugendlichen. Die Hälfte der Réunionesen ist jünger als 20 Jahre. Angesichts einer Arbeitslosenrate von etwa 40 Prozent haben sie kaum Aussicht auf eine Anstellung. Viele gut ausgebildete Arbeitssuchende wandern daher auf das Festland aus, doch die meisten Jugendlichen auf Réunion haben noch nicht einmal Chancen auf einen Ausbildungsplatz, der ihnen einen solchen Weg ermöglichen würde. Erzogen im französischen Bildungssystem mit denselben Erwartungen und Hoffnungen wie ihresgleichen auf dem Festland, müssen die réunionesi-schen Jugendlichen nach der Schulzeit wahrnehmen, dass sie, was eine berufliche Karriere betrifft, benachteiligt sind. Noch vor Beginn des Generalstreiks waren es Studenten Réunions, die bereits Mitte Februar in den Ausstand traten und Demonstrationen organisierten

Soziologen sprechen mit Blick auf Réunion von einem Volk von Bedürftigen, einer abhängigen Gesellschaft mit immer mehr Arbeitslosen, die auf Sozialfürsorge angewiesen sind. Selbst die Subventionen fließen zum Großteil wieder nach Paris zurück: in Form von Spareinlagen der französischen Beamten, die ihr Urlaubsgeld ohnehin in der Heimat ausgeben und teure Konsumgüter erwerben, die nicht auf der Insel produziert werden.

Frustrierte Jugendliche proben den Aufstand

Die Frustration der Jugendlichen entlud sich in aller Deutlichkeit bereits im Februar 1991 in Le Chandon, einem Vorort von St. Denis, in mehrtägigen Demonstrationen und Plünderungen. Elf Menschen kamen damals ums Leben. Auslöser war die Beschlagnahme eines Piratensenders, der sein Programm in kreolischer Sprache ausstrahlte. Dem Betreiber des Senders Tl FreeDOM, Camille Sudre, wurde das passive Wahlrecht vorübergehend entzogen. Eine Regionalratswahl, bei der Sudre kandidierte, wurde annulliert. Als Sudre später sein Wahlrecht wieder erhielt, zog er als Kandidat mit den meisten Stimmen in den Regionalrat ein. Die Kritik an der Politik Frankreichs sowie an profranzösischen Politikern Réunions mündet zunehmend in eine Besinnung auf die multikulturelle, kreolische Identität der Insel. Das zeigt sich unübersehbar auch in der Entwicklung von Musik und Literatur als kulturelle Gradmesser der politischen Stimmung. Zunehmend wird nicht mehr auf Französisch, sondern auf Kreolisch gesungen, und die Popularität von Musikgruppen wie Ti-Fock, Daniel Hoareau, Danyel Waro, Baster oder Ziskakan nimmt zu.

Der in Le Tampon lebende 64-jährige Schriftsteller und Gymnasiallehrer für Physik und Biologie Axel Gauvin, der unter anderem für die Musikgruppe Ziskakan Lieder schreibt, gilt als einer der Wortführer, was die Gleichstellung der kreolischen Sprache betrifft. Nicht nur schreibt Gauvin Gedichte und Lieder in kreolischer Sprache, sondern er verfasste 1977 mit dem Buch »Vom unterdrückten zum befreiten Kreolisch« ein Manifest zur Verteidigung seiner Muttersprache. Darin heißt es: »Kreolisch ist meine Erstsprache. Auch die menschlichen Beziehungen sind in dieser Sprache entstanden. Nun ist es aber offensichtlich, dass ich bi-kulturell bin. Ich habe gelernt, die Wirklichkeit mit der französischen Sprache zu betrachten.«

Auch in seinen Romanen behandelt Gauvin, der beileibe nicht als réunionesischer Nationalist auftritt, sondern in seinem Werk auch das kulturelle Erbe Frankreichs schätzt, die Auseinandersetzung zwischen französischer und kreolischer Kultur auf Réunion. Und dies auf humorvolle, meist unterhaltsame Weise: Die französische Lebensart entlarvt sich darin selbst als autoritär und im Kern aggressiv. Diese Wahrnehmung scheint der jener zu entsprechen, die derzeit auf den Straßen den Aufstand proben.

* Aus: Neues Deutschland, 12. März 2009


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