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"Frieden ist der Ernstfall"

Radikaldemokrat und Antifaschist: Gustav Heinemann (1899–1976), ein "Bürgerpräsident" der Bundesrepublik

Von Wolfgang Beutin *

"Ich liebe nicht den Staat, sondern meine Frau"

So viele Todestage 2006: Lessings 225., Heinrich Heines 150., dazu Gustav Heinemans 30. fallen in dieses Jahr. Daten stiften gewöhnlich keine innere Verbindung. Hier aber gibt es sie: Lessing und Heine sind die deutschen Autoren, deren Andenken Heinemann energisch zu erneuern versuchte. (Über dessen Namen reflektierte auf einer Heine-Tagung kürzlich ein Teilnehmer: Heinemann – Mann Heines …) Anläßlich des 175. Dichter-Geburtstags 1972 hielt der damalige Bundespräsident in Düsseldorf die Gedenkrede, worin er sich – so rühmte Jost Hermand – »in aller Offenheit zu einem im Sinne Heines geführten Kampf gegen ›Untertanengesinnung und unmenschliches Profitstreben‹ bekannte« (Frankfurter Rundschau, 6.12.1975). Wie bravourös stünde dies Land da, würden sich alle seine Präsidenten auf denselben Kampf verpflichten!

Seine letzte Rede hielt Heinemann am 2. Oktober 1975 in Hamburg, als ihm die Hansestadt den Lessing-Preis verlieh. Damals prägte er das Wort: »Was uns not tut, wäre ein neuer Lessing der Freiheitsbewegungen.«

Zwei Ereignisse, die heuer 50 bzw. 40 Jahre zurückliegen, verbinden sich ebenfalls mit der Biographie Heinemanns: das KPD-Verbot (1956); die Bildung der »großen« Koalition am 1. Dezember 1966, in der er als Bundesjustizminister wirkte. Das unrühmliche KPD-Verbot stand 1968 heftig in der Kritik. Innenpolitisch schien es kaum noch haltbar, während es außenpolitisch das Land unerfreulich überschattete (sonst kannten nur faschistische Diktaturen ein ähnliches Verbot). Daher fand am 4. Juli 1968 im Justizministerium eine Unterredung statt, an welcher der Hausherr mit seinem damaligen Staatssekretär Horst Ehmke teilnahm sowie von kommunistischer Seite eine kleine Verhandlungsdelegation. Einziges Thema: Das KPD-Verbot. Zu seiner Aufhebung erschien eine Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) als rechtlich einzig möglicher Weg, der jedoch wegen der Mehrheitsverhältnisse in der Regierung und im Bundestag nicht gangbar war. Als Auskunftsmittel bot sich daher lediglich eine Neugründung entsprechend den Bestimmungen des Grundgesetzes an. Damit war die Bahn zur Konstitution der Deutschen Kommunistischen Partei aufgezeigt.

Ein Ausnahmepolitiker

Als Heinemann ins Justizministerium einzog, aus dem er zweieinhalb Jahre später ins Amt des Bundespräsidenten wechseln würde, lagen bereits drei Phasen seines Lebens hinter ihm: eine erste – bis 1945 –, in der er sich als ein Jurist bewährte, der gegenüber dem deutschen Faschismus resistent blieb, und zwei folgende in der Nachkriegsära, die ihn als einen demokratischen Ausnahmepolitiker erwiesen.

Geboren am 23. Juli 1899 in Schwelm (Ruhr), betätigte er sich nach seinem Studium als Anwalt und alsbald in höheren Funktionen als Justitiar, Prokurist und Bergwerksdirektor in der Stahl­industrie des Rheinlandes. Während des Naziregimes zählte er zu den Führungskräften der Bekennenden Kirche. 1945 wählte ihn die Kirchenversammlung in den Rat der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD); 1949–1955 war er Präses der Gesamtdeutschen Synode. 1946–1949 amtierte er als CDU-Bürgermeister von Essen, 1947/48 zugleich als Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen.

Am 20. September 1949 wurde er als Innenminister Mitglied in Konrad Adenauers erstem Kabinett. Es war sein Rücktritt, ein reichliches Jahr darauf am 9. Oktober 1950, der seine politische Statur in der Öffentlichkeit sensationell kenntlich werden ließ und seiner Handlungsweise symbolische Bedeutung verlieh: der erste hochrangige Politiker der jungen Republik, der freiwillig sein Amt aufgab. Die dpa-Meldung notierte als »hauptgrund fuer seinen ruecktritt meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und dem bundeskanzler ueber eine teilnahme der bundesrepublik an der westeuropäischen verteidigung«. Heinemann selber erläuterte in seiner am 13. Oktober veröffentlichten Denkschrift, daß für seinen Schritt nicht ein vereinzeltes Motiv vorlag, sondern ein doppeltes. Adenauer hatte den Westmächten soeben einen militärischen Beitrag zur »Verteidigung« Westeuropas angeboten, was zwiefach verwerflich sei; erstens als eine Verletzung des »Gebots der Zurückhaltung«, denn: »Es ist nicht unsere Sache, eine deutsche Beteiligung an militärischen Maßnahmen nachzusuchen oder anzubieten.« Er bedachte die empfindlichen internationalen Folgen von Adenauers Vorstoß: »Wenn das Wiedererstehen des deutschen Soldaten in Frankreich ein tiefes Mißbehagen auslöst, was wird es in Rußland auslösen, das den Furor teutonicus in besonderem Maße erlebt und ebenfalls nicht vergessen hat?« Zweitens, kaum weniger gravierend: »Ist es vertretbar, daß eine Erklärung von solch entscheidungsvoller Tragweite vom Bundeskanzler abgegeben wird, ohne daß das Kabinett an der Willensbildung beteiligt ist?« Jener denke »in den Formen autoritärer Willensbildung«, doch unerläßlich, in der vorhandenen Situation, sei die »Mitbeteiligung« – schon des Kabinetts, mehr noch des Volkes.

Es war bereits ein Vorklang von Brandts berühmtem Wort »Mehr Demokratie wagen« (wenn nicht dessen Quelle!), als Heinemann fortfuhr: »Wir werden unser Volk nur dann demokratisch machen, wenn wir Demokratie riskieren. Wenn in irgendeiner Frage der Wille des deutschen Volkes eine Rolle spielen soll, dann muß es in der Frage der Wiederaufrüstung sein.« (Stuttgarter Zeitung, 18.10.1950)

Später, mittlerweile auf der niedersächsischen SPD-Landesliste in den Bundestag gewählt, hielt er sarkastisch Abrechnung mit der CDU/CSU. Diese habe ihre gesamte Politik nachgerade auf drei Punkte zusammengeschmolzen: »Erstens Geld verdienen, zweitens Soldaten, die das Geld schützen. Drittens Kirchen, die Soldaten und Geldsack segnen.«[1] (Der Neoliberalismus, dem die Segnung zu wenig ist, wird dann auf der Heiligsprechung des Geldsacks bestehen.)

Der verantwortungslosen CDU-Stimmungsmache gegen die Sowjetunion hielt er entgegen: »Wir müssen erkennen, daß die antisowjetische Hetze den Vorspann für die westliche Rüstungspolitik darstellt. Wenn wir den Frieden sichern wollen, müssen wir der antisowjetischen Hetze ebenso wehren wie der Hetze gegen irgendein westliches Volk, muß eine Bresche geschlagen werden in den blinden und pauschalen Antikommunismus, diese kriegsträchtige Mentalität bürgerlich-pharisäischer Selbstgerechtigkeit. Wir können mit den östlichen Nachbarn nicht in Frieden leben, wenn wir ihr politisches System aushöhlen und zum Zusammenbruch zu führen trachten. Wir haben gegen die Propaganda, welche die psychologische Bereitschaft zum Kriege schaffen soll, ebenso Widerstand zu leisten, wie gegen die militärische Kriegsvorbereitung.« (ebd.) Verwundert es, daß hiernach eine Sintflut von Verleumdungen auf Heinemann niederprasselte, vom »bezahlten Sprecher« oder »Briefträger Sowjetrußlands« über den »Verführer« zum »Katholikenfresser, Säufer, Ehebrecher«? (ebd.)

In Opposition und Regierung

Im November 1951 gründete Heinemann zusammen mit Helene Wessel, die die Deutsche Zentrumspartei verließ, die »Notgemeinschaft für den Frieden Europas«. Ein Jahr danach ging aus dieser die Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP) hervor. Sie setzte sich für die Wiedervereinigung und Neutralisierung Deutschlands ein. »Demokratie riskieren«, das hieß für Heinemann nicht zuletzt die verfassungsrechtliche Anerkennung des Volksentscheids und die Eliminierung der Fünf-Prozent-Klausel aus dem staatlichen Leben. Als GVP-Vorsitzender ließ er alle Kandidaten seiner Partei die Verpflichtung unterschreiben: »Ich werde mich dafür einsetzen, daß der Volksentscheid als demokratisches Grundrecht wieder in die Verfassung eingefügt wird«; die Fünf-Prozent-Hürde bezeichnete er als »ein häßliches Kapitel der jungen Bonner Demokratie« (ebd.). Als die GVP selber an dieser Bestimmung scheiterte, lösten Heinemann und seine Mitstreiter die Partei 1957 auf. Er und Helene Wessel traten der SPD bei. Im selben Jahr in den Bundestag gewählt, führte er dort seinen Kampf gegen »die Grundtorheit des Jahrhunderts« (Thomas Mann) fort. So argumentierte er: »Antikommunismus hat uns schon einmal ins Verderben, ja sogar in die Verbrechen geführt … Setzen Sie an die Stelle der Erbfeindschaft gegen Frankreich nicht eine Erb- oder Todfeindschaft gegen die östlichen Nachbarn.« (ebd.)

Am 19. Dezember 1957 vereinbarten die Regierungschefs der NATO-Mitgliedsstaaten, die europäischen Armeen mit Mittelstreckenraketen und Atomsprengköpfen auszurüsten. In der turbulenten Bundestagsdebatte vom 23. Januar 1958 griffen Thomas Dehler (FDP) und Heinemann die – wie sie darlegten – verfehlte Außen-, Deutschland- und Militarisierungspolitik Adenauers und die geplante atomare Bewaffnung der Bundeswehr scharf an. Sie warfen dem Kanzler vor, mit der Ablehnung des sowjetischen Angebots vom 10. März 1952 die Chance zur Wiedervereinigung vertan, auch diese weder gewollt zu haben noch zu wollen. Den Mauerbau 1961 in Berlin verstand Heinemann als Ergebnis der »verfehlten Deutschlandpolitik« Adenauers.

Die Völker des Ostens empfanden die angestrebte atomare Bewaffnung der Bundeswehr als erneute tödliche Bedrohung, die von deutschem Boden ausging. Schon im Herbst 1957 hatte der polnische Außenminister Rapacki einen Abrüstungsplan vorgelegt, der zur Befriedung des alten Kontinents auf die Umwandlung Mitteleuropas in eine kernwaffenfreie Zone abzielte. Die Bundesregierung lehnte den Vorschlag gereizt ab. Heinemann hingegen bejahte ihn als eine vortreffliche Einstiegsmöglichkeit ins Ost-West-Gespräch. Nach Kräften unterstützte er die gemeinsam von der SPD, dem DGB und zahlreichen Wissenschaftlern und Künstlern initiierte Protestbewegung »Kampf dem Atomtod!«

Bei der Bildung der »großen« Koalition aus CDU/CSU und SPD (1. 12. 1966) erhielt Heinemann das Justizministerium. Unter seiner Federführung gelangen eine durchgreifende Strafrechtsreform, auch des politischen Strafrechts, und des Unehelichenrechts im Sinne weitgehender Liberalisierung – nach fortschrittlichen Maßstäben die bedeutendsten Verbesserungen in der Geschichte der Bundesrepublik. Auf dem Gebiet des Sexualstrafrechts waren endlich Forderungen erfüllt, die von Modernisten seit dem Anfang des Jahrhunderts erhoben worden waren, 1908 gleichzeitig in Deutschland von Kurt Hiller (Schrift »Das Recht über sich selbst«) und in Österreich von Karl Kraus (Schrift »Sittlichkeit und Kriminalität«). So entfiel etwa der Paragraph, der die mannmännliche Liebe unter Strafe stellte. Heinemann widersetzte sich zudem nachdrücklich der Verjährung bei Mord, deren Anwendung auf Nazitäter von deren Sympathisanten gewollt war (das 3. Strafrechtsänderungsgesetz hob indes die Verfolgungsverjährung für Völkermord am 4. 8. 1969 auf), sowie auch Versuchen, eine Vorbeugehaft einzuführen.

Die Sozialdemokratie, obwohl vor vierzig Jahren ihrer einstmals fortschrittlichen Tradition noch keineswegs komplett entfremdet, zahlte für die Regierungsbeteiligung 1966 u.a. den Preis der Zustimmung zu den »Notstandsgesetzen«, diesem, wie Kritiker es präzise formulierten, »Kriegsrecht in Friedenszeiten«. Jetzt wurde diese fatale Rechtsverschlechterung ausgerechnet in der Amtszeit des Justizministers Heinemann Realität. Auch während seines Wirkens als Bundespräsident sollte er zu seinem Unmut mit einer äußerst bedenklichen Politik konfrontiert werden: diesmal einer Praktik, die von der Exekutive ausging und sich im »Extremistenerlaß« niederschlug, der Praktik der verfassungswidrigen »Berufsverbote«. In seine Zeit als Justizminister fiel ebenfalls der Höhepunkt der »Außerparlamentarischen Opposition« samt den Studentenunruhen (Ostern 1968). Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke im April 1968 wandte er sich in einer fulminanten Rede gegen allerlei Schuldzuweisungen, wie sie dem Selbstgerechten nahelägen; aber: »in der Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger« würden allerdings »zugleich drei andere Finger auf ihn selbst zurückweisen«. Alle hätten sich zu fragen, »was wir selber in der Vergangenheit dazu beigetragen haben könnten, daß ein Antikommunismus sich bis zum Mordanschlag steigerte und daß Demonstranten sich in Gewalttaten der Verwüstung bis zur Brandstiftung verloren haben«.[2]

Ein »Machtwechsel« oder keiner?

Am 5. März 1969 wählte die Wahlversammlung Heinemann zum dritten Bundespräsidenten, wozu die FDP mit ihrer fast geschlossenen Stimm­abgabe erheblich beitrug. Auf z. T. erbosten Widerspruch stieß der Gewählte, als er in seinem nachfolgenden Interview erklärte, es habe sich jetzt »ein Stück Machtwechsel vollzogen, und zwar nach den Regeln einer parlamentarischen Demokratie«. Einräumend, daß die Vokabel nicht völlig zutraf, fügte er präzisierend hinzu, es sei »doch eine wesentliche Position unter all unseren staatlichen Organen erstmalig auf die bisherige Opposition übergegangen«.[3] Aber selbst wenn man dies Kriterium anerkennt – das Wort fiel zu schwer in die Waagschale angesichts der ärmlichen Befugnisse, die das Grundgesetz einem Bundespräsidenten zugesteht. Dennoch mangelte es ihm nicht ganz an Wahrheitsgehalt, bedachte man, aus wessen Munde es kam; welches der Mann war, der es aussprach; auf was dieser Mann hindeutete, als er es aussprach. Immerhin kam ein Repräsentant der Gegenwehr gegen Adenauers Deutschlandpolitik, des entschlossenen Widerstands gegen die Remilitarisierung ins höchste Amt der Republik. Bemerkenswerterweise war es das Ausland, wo Heinemanns Wahl im wesentlichen positiv beurteilt wurde.

Bevor der neue Mann am 1. Juli 1969 als Bundespräsident vereidigt wurde, gab er der Zeitung Die Welt ein Interview (30. 6. 1969), worin sich einmal wieder seine Eigenart bekundete: die Kunst, griffige Formeln zu prägen, um sein (radikal-)demokratisches Verständnis des Amtes wie der Politik zu verdeutlichen. Zwei Beispiele aus dem Interview:

Er sagte: »… schon das Wort ›Staatspräsident‹ würde mir nicht liegen: dann schon lieber ›Bürgerpräsident‹«, womit er andeutete, daß er selbst in seiner neuen Funktion den Zusammenhang mit den Menschen in den Nöten ihres Alltags nicht verlieren möchte. Und: »Ich bin ja einmal gefragt worden, ob ich den Staat liebe. Ich habe darauf geantwortet, ich liebe nicht den Staat, sondern meine Frau.« Ein drittes, seither oft zitiertes Wort: »Der Frieden ist der Ernstfall«.

Antifaschismus als Maßstab

Heinemann betrachtete als vornehmste Verpflichtung der Demokratie in Deutschland die antifaschistische. Niemals bloß in dem oberflächlichen Sinne, daß man den Widerstand gelten läßt, womöglich unter Ausschließung des Beitrags der Kommunisten, als wäre er eine Strömung unter anderen. Für ihn bildete Antifaschismus den Maßstab, an dem die Geschichte und Gegenwart der Bundesrepublik zu messen sind. Im Gedenken an die Opfer sagte er: »Sie alle handelten und starben für eine bessere Welt, für Recht und Gerechtigkeit. Der Hamburger Arbeiterführer Fiete Schulze, auf dessen Namen die DDR übrigens eines ihrer Schiffe getauft hat, schrieb vor seiner Hinrichtung im Juni 1935 in einem Abschiedsbrief an seine Schwester: ›Du haderst mit den Verhältnissen, die Dir den Bruder nehmen. Warum willst Du nicht verstehen, daß ich dafür sterbe, daß viele nicht mehr einen frühen und gewaltsamen Tod zu sterben brauchen? Noch ist es nicht so, doch hilft mein Leben und Sterben es bessern.‹ Solches Vermächtnis stellt uns vor die immerwährende Aufgabe des demokratischen Rechtsstaates. Die Widerstandskämpfer, die nur mit einem Anschein von Justiz einfach niedergemacht wurden, fragen uns, ob wir gegen antidemokratische Geistesrichtungen immun bleiben, ob wir den Geist der ruhigen Vernunft in der Politik bewahren, ob wir Recht und Gerechtigkeit gegen jedermann obwalten lassen.«[4]

Eine humane Welt des Rechts und der Gerechtigkeit kann man nicht haben ohne den Frieden. Was die verhängnisvolle Tradition Preußen-Deutschlands für sich beanspruchte und was Bundesregierungen seit 1999 geltend machen, nämlich das »ius ad bellum«, bestritt Heinemann energisch: das Recht, Krieg zu führen. (In Wahrheit ist es bereits seit dem Briand-Kellogg-Pakt von 1928 beseitigt, zu dessen Signatarmächten Deutschland zählte, sowie abermals durch die Charta der Vereinten Nationen.) Er sagte: »Krieg ist ohnehin keine Möglichkeit mehr, weil es ohne den Frieden keine Existenz mehr gibt.« (ebd.) Das sogenannte Dritte Reich aber sei nach seinem Urteil »kein Betriebsunfall gewesen«, setzte es doch bloß jenen »gewalttätigen Nationalismus« fort, der seit 1870 die deutsche Politik prägte, mit den Merkmalen: »Selbstüberhebung, Rassenwahn, Eroberungssucht« (ebd.).

Gerechtigkeit hatte ihr Dasein auch als »Gerechtigkeit in der Teilhabe an den Gütern des Lebens«.[5] »Unsere Gesellschaft soll nicht nur demokratisch verfaßt, sondern auch und entscheidend sozial sein.«[6]

Vor allem verwies Heinemann – selber vielleicht nicht der neue Lessing verdienstlicher Freiheitsbewegungen, gewiß aber ihr getreuer He-rold – unaufhörlich auf die originäre demokratische Tradition der Deutschen. Er gedachte der mittelalterlichen Bauernerhebungen und Aufstände der städtischen Unterschichten; des großen Bauernkriegs; der deutschen Jakobiner; der Mainzer Republik von 1792. Keine Gelegenheit ließ er ungenutzt, um die Erinnerung wachzuhalten an allerlei, was manchem Hörer bisher lediglich als wilder Tumult, tolles Jahr, Aufbegehren der Gosse, nationaler Verrat bekannt gewesen war: die Bestrebungen des Vormärz, 1848, die Freiheitskämpfer von 1849 – zur Erinnerung an sie inaugurierte er die Gründung des Revolutionsmuseums in Rastatt –, die Republiken in der Pfalz und in Baden, August Bebels und Wilhelms Liebknechts Kämpfe, die roten Matrosen der Novemberrevolution von 1918. Bisher hatten die Sieger die Geschichte geschrieben? Aber: »Es ist Zeit, daß ein freiheitlich-demokratisches Deutschland unsere Geschichte bis in die Schulbücher hinein anders schreibt.« (Frankfurter Rundschau, 14.2.1970) Seine gesammelten Reden sind selber Teil des dringend benötigten wahren Geschichtsbuches.

Seine geistige Hinterlassenschaft ist zu wichtig, als daß nicht auch auf sie der Satz von Jaurès Anwendung finden sollte, den er liebte und gern zitierte: »Nicht Asche verwahren, sondern eine Flamme am Brennen halten.« (ebd.)

Fußnoten:
  1. Zit. bei Arno Behrisch, in: Deutsche Volkszeitung, 15.7.1976
  2. Zit. bei Peter Borowsky, Deutschland 1945 bis 1969, Hannover 1993, S. 324
  3. Abdruck des Interviews: Hamburger Abendblatt, 10.3.1969
  4. Rede zum 25. Jahrestag des 20. Juli 1944, zit.n. Bulletin Nr. 96, 22.7.1969
  5. Ansprache zum Jahreswechsel, zit.n. Die Welt 2.1.1970
  6. Rede zum 100. Jahrestag der Reichsgründung, zit.n. Frankfurter Rundschau, 18.1.1971
* Dr. Wolfgang Beutin, Jg. 1934, Privatdoz. an der Universität Bremen; Autor, veröffentlichte zuletzt: Knief, Oder des großen schwarzen Vogels Schwingen (Roman über die Bremer Räterepublik, Würzburg 2003); Aphrodites Wiederkehr (Beiträge zur Geschichte der erotischen Literatur, Frankfurt/M. 2005)

Aus: junge Welt, 22. Juli 2006


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