Streitfrage: Das Grundgesetz - Grundlage für eine emanzipatorische Gesellschaft?
Es debattieren: Prof. Dr. Andreas Fisahn, Halina Wawzyniak und Dr. Marcus Hawel
Anlässlich des 60. Jahrestages der Verabschiedung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland veröffentlichte die Tageszeitung "Neues Deutschland" drei Beiträge, die sich aus unterschiedlichen Blickrichtungen mit der deutschen Verfassung auseinandersetzen. Wir dokumentieren im Folgenden die Beiträge von:-
Prof. Dr. Andreas Fisahn, Jahrgang 1960, Professor für
Öffentliches Recht an der Universität Bielefeld. Vor dem
Bundesverfassungsgericht vertritt er die LINKE bei ihrer Klage gegen den
»Vertrag von Lissabon«;
-
Halina Wawzyniak, Jahrgang 1973, stellvertretende Bundesvorsitzende der
Linkspartei, Bezirksvorsitzende im Berliner Stadtbezirk
Friedrichshain-Kreuzberg, und
-
Dr. Marcus Hawel, Jahrgang 1973, Lehrbeauftragter am Institut für
Politikwissenschaften der Leibniz Universität Hannover.
Partizipation der Eliten
Von Andreas Fisahn
Taugt das Grundgesetz für eine emanzipatorische Gesellschaft? Die
Antwort kann nach Radio Eriwan nur lauten: »Im Prinzip ja, wenn da diese
Gesellschaft nicht wäre.« Das Grundgesetz (GG) ist im Prinzip die
Verfassung Deutschlands, die mit 60 Jahren die längste Geltungsdauer für
sich verbuchen kann. Aber das hätte sie eigentlich nicht sein dürfen,
wenn sich diese Gesellschaft an den Wortlaut des GG gehalten hätte. Das
Grundgesetz sollte außer Kraft treten, wenn sich das Volk mit der
Einheit Deutschlands eine neue Verfassung gibt. Das wäre vor zwanzig
Jahren gewesen.
Beschlossen werden sollte eine Verfassung vom Volk. Nun hält Art. 146 GG
fest, dass das GG »nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands
für das gesamte deutsche Volk« gilt. Das ist gut, denn es beinhaltet
einen Verzicht auf weitere deutsche Gebietsansprüche. Aber wenn die
Einheit vollendet ist, hätte das Volk abstimmen müssen. Die regierende
Elite misstraut dem Volk - die demokratischen Exilanten misstrauten 1949
dem nazistisch verseuchten Volk und die bürgerliche Elite misstraute
1989 einem Volk im demokratischen Aufbruch. Man verzichtet auf einen
Gesellschaftsvertrag, dem jedermann seine Zustimmung geben muss.
Der Makel der Entstehung wirkt fort: Das Grundgesetz enthält - anders
als alle Landesverfassungen - keine Vorschriften für eine
Volksgesetzgebung. Demokratie ist nach dem Grundgesetz nur
repräsentative Demokratie. Die Juristen machen daraus: die Legitimation
von Herrschaft durch Wahlen. Das Volk glaubt, Demokratie sei der
Versuch, Herrschaft aufzuheben. Diese Meinung ist aber bisweilen stärker
als die Dogmatik der Juristerei: Denn natürlich gibt es
gesellschaftliche Partizipation z. B. durch Mitbestimmung, Rundfunkräte
oder »konzertierte Aktionen«. Korporative Demokratie gibt es neben dem
Grundgesetz - dieses verbietet sie ja nicht. Es regelt sie aber auch
nicht; so kann sie zurechtgestutzt werden zur Partizipation der Eliten.
Das Grundgesetz enthält - anders als alle Landesverfassungen - keine
sozialen Grundrechte, etwa das Recht auf Arbeit, Wohnen oder Bildung.
Aber es enthält das Sozialstaatsprinzip. Das wurde erst klein geredet
zum Staatsziel. Aber auch als Staatsziel gab es einen Anspruch auf ein
sozio-kulturelles Existenzminimum her, das die Obergerichte in den
goldenen Jahren des Sozialstaates großzügig auslegten. Aber die
Rechtsprechung wandelt sich: Urteile gegen sozialen Kahlschlag bleiben
vereinzelt. Mit der Rechtsprechung wandelt sich die Verfassung.
Das Grundgesetz von 1949 war eine Friedensverfassung. Das hallt wider in
Art. 139: »Die zur 'Befreiung des deutschen Volkes vom
Nationalsozialismus und Militarismus' erlassenen Rechtsvorschriften«
sollten in Kraft bleiben. Deutschland war entmilitarisiert. Das änderte
sich mit der Wiederbewaffnung. Die Verfassung ließ durch neue Artikel
eine Armee zu - aber eine Verteidigungsarmee. »Der Bund stellt
Streitkräfte zur Verteidigung auf« steht in Art. 87a GG. Aus der
Verteidigungsarmee wurde eine Parlamentsarmee, die in Jugoslawien oder
jetzt am Hindukusch schießt - angeblich jenseits von Kampfhandlungen.
Umgekehrt steht auch dies seit Langem im Grundgesetz: »Männer und Frauen
sind gleichberechtigt.« Deshalb blieb der Mann doch nach bürgerlichem
Recht Jahrzehnte das Familienoberhaupt mit Letztentscheidungsrechten.
Der Pater familias muss sich jetzt mit der Quotenregelung in den
Gleichstellungsgesetzen herumschlagen - auch ein Wandel im
Verfassungsverständnis. Das GG lässt es zu.
Das Grundgesetz ist wirtschaftspolitisch neutral. Die kapitalistische
Marktwirtschaft ist nur eine mögliche Wirtschaftsform. Zulässig sind
nach dem Grundgesetz auch Vergesellschaftungen wichtiger Industrien und
eine demokratische, solidarische Marktwirtschaft - jedenfalls im
Prinzip, aber wenn Banken verstaatlicht werden sollen, werden die
Verfassungsjuristen und die herrschende Politik zickig. Ein weiterer
Wandel ist wahrscheinlich - es kommt darauf an, die Richtung zu bestimmen!
Prof. Dr. Andreas Fisahn, Jahrgang 1960, studierte Rechts- und
Sozialwissenschaften u. a. an den Universitäten Köln, Marburg und
Göttingen und ist heute Professor für Öffentliches Recht an der
Universität Bielefeld. Vor dem Bundesverfassungsgericht vertritt er die
LINKE bei ihrer Klage gegen den »Vertrag von Lissabon«. Im März 2008
erschien Fisahns Buch »Herrschaft im Wandel - Überlegungen zu einer
kritischen Theorie des Staates«.
Verlockender Gedanke
Von Halina Wawzyniak
Das Grundgesetz von heute unterscheidet sich erheblich von dem im Jahr
1949 verabschiedeten. Es wurde seit seiner Entstehung fast
ausschließlich verschlechtert. Erinnert sei an die Notstandsgesetze, die
Wiedereinführung der Wehrpflicht und die Schaffung der Bundeswehr 1956.
Das Grundgesetz wurde noch von jeder Bundesregierung zurechtgestutzt
oder mittelbar angegriffen. Auch Bündnis 90/Die Grünen haben kräftig
mitgemacht, wie das von Hans-Christian Ströbele begründete und nur durch
das Bundesverfassungsgericht gestoppte Luftsicherheitsgesetz zeigt. Das
Grundgesetz wurde nicht in einer Volksabstimmung angenommen, 1990 wurde
aus bornierter Arroganz westdeutscher Parteien die Entstehung einer
gemeinsamen neuen Verfassung verhindert. Das alles ist ein Makel, den
das Grundgesetz mit sich herumträgt. Trotz alledem - das Grundgesetz ist
eine zivilisatorische Errungenschaft, und aus linker Sicht kann man
sagen: Mit dem Grundgesetz ist heute demokratischer Sozialismus eher zu
verwirklichen als mit Rückgriffen auf die historisch überholten und im
Kern widerlegten DDR-Verfassungen.
Keine DDR-Verfassung - auch nicht die nach einer Volksabstimmung im Jahr
1968 angenommene - war die Verfassung eines Rechtsstaates. In der
DDR-Verfassung war die Führung durch die Arbeiterklasse und ihre
marxistisch-leninistischen Partei (Artikel 1) festgeschrieben und das
Gesetzgebungsorgan Volkskammer entschied über die Verfassungsmäßigkeit
von Rechtsvorschriften (Art. 89). Die Formulierung, man könne seine
Meinung frei und öffentlich »den Grundsätzen dieser Verfassung nach«
(Artikel 27) äußern, lief faktisch ins Leere, weil gleichzeitig die
führende Rolle der Partei festgeschrieben war. Dies widerspricht
demokratischem Sozialismus.
Bei der Betrachtung des Grundgesetz in heutiger Zeit fällt eines auf:
Das Erreichte ist noch nicht das Erreichbare - soweit hat auch die SPD
dies vermeintlich erkannt und durch ihren Vorsitzenden als Wahlgeschenk
für Ostdeutsche verpackt eine Verfassung gefordert. Aber: Das
Erreichbare ist nicht nur eine Frage einer neuen Verfassung! Nehmen wir
für eine Sekunde an, die SPD-Überlegungen seien ernst gemeint. Wäre das
ein gangbarer Weg? Dieser Weg wäre zumindest gefährlich. Er kommt
nämlich emanzipatorisch daher ohne über das Desaster zu reden, in dem er
enden könnte.
So verlockend der Gedanke an eine neue Verfassung ist, so bedrohlich ist
das zu erwartende Ergebnis. Artikel 14 und 15 würden wohl nicht noch
einmal in eine Verfassung kommen, wie die Angriffe auf diese Artikel
immer wieder zeigen. Artikel 16 würde nicht wiederhergestellt, sondern
die Grenzen gleich ganz dicht gemacht werden. Das Sozialstaatsgebot
würde nicht untersetzt, sondern noch mehr verwässert werden. Nicht das
Grundgesetz ersetzen steht deshalb auf der Tagesordnung, sondern es
ergänzen und präzisieren.
Das Grundgesetz - seinerzeit als bürgerlich-westlicher Gegenentwurf zum
»Sozialismus« und als Provisorium formuliert - lässt heute
paradoxerweise die Möglichkeit einer demokratisch sozialistischen
Gesellschaftsordnung zu. Im Mittelpunkt steht - auf dem Papier - die
Würde des Menschen, und nach Artikel 14 soll der Gebrauch des Eigentums
auch dem Allgemeinwohl dienen. Unter bestimmten Bedingungen sind gar
Enteignungen erlaubt. Das ist eine Schlüsselbestimmung des
Grundgesetzes, die verteidigt werden muss. Der Artikel 15 regelt die
Vergesellschaftung. Das Grundgesetz ist wirtschaftspolitisch neutral -
das ist gut so und muss immer wieder betont werden. Das Grundgesetz
schreibt den sozialen Bundesstaat fest. Das ist ein verheißungsvoller
Anfang, mehr aber nicht. Was unter Sozialstaat verstanden wird, muss
genauer definiert und kann nicht der Rechtsprechung überlassen werden.
Auch dazu hat die Fraktion DIE LINKE im Bundestag einen Antrag
eingebracht. Wenn das Grundgesetz Realität wäre und nicht die Realität
sich das Grundgesetz anpassen würde, wären wir deutlich weiter.
DIE LINKE ist für die Möglichkeit eines früheren Renteneintritts, das
Grundgesetz ist trotz seiner 60 Jahre noch lange nicht reif für die Rente.
Halina Wawzyniak, 1973 in Königs Wusterhausen geboren, ist
stellvertretende Bundesvorsitzende der Linkspartei. 1990 trat die
Juristin in die PDS ein, war von 1995 bis 1999 im Parteivorstand und
stellvertretende Landesvorsitzende in Berlin. Halina Wawzyniak ist
Bezirksvorsitzende im Berliner Stadtbezirk Friedrichshain-Kreuzberg und
Mitglied im parteiinternen Zusammenschluss »Forum demokratischer
Sozialismus«.
Die alte Stadtmauer verteidigen
Von Marcus Hawel
Wenn Jubiläen gefeiert werden, steigt stets viel Trockennebel auf.
Festtagsredner sind zuweilen wie Magier, die auf der Showbühne mit viel
ablenkendem Spektakel aus der hohlen Hand weiße Tauben hervorzaubern.
Das Jahr 2009 bietet zu solch feierlichem und starke Aufmerksamkeit
erzeugendem Tamtam gleich mehrfachen Anlass: Vor 60 Jahren wurde in der
alten Bundesrepublik das Grundgesetz verkündet, das heute als eine
gesamtdeutsche »demokratische Erfolgsgeschichte« gepriesen wird. In
dasselbe zeitgeschichtliche Kontinuum gehört die vor 90 Jahren in Kraft
getretene, aber fatal gescheiterte republikanische Verfassung von
Weimar. Und vor 20 Jahren leitete der Mauerfall den Zusammenbruch der
DDR ein, die wie die Bundesrepublik vor 60 Jahren gegründet worden war.
Eingerahmt von lauter Scheitern gilt also das Grundgesetz als ein
»Erfolgsmodell«, das der Bundesrepublik und dann dem wiedervereinigten
Deutschland zu Wohlstand und einer stabilen rechts- und
sozialstaatlichen Demokratie verholfen habe. Das ist zugleich richtig
und falsch. Das Tamtam lenkt davon ab, dass unser Rechts- und
Sozialsystem in einer tiefen Krise steckt.
Das Grundgesetz kam 1949 als ein Kompromiss zwischen antagonistischen
Kräften zustande. Wenn auch die jeweiligen Länderverfassungen, deren
Verabschiedung dem Grundgesetz vorausging, in manchen Fragen wesentlich
emanzipativer sind, so einigte man sich doch aufgrund der unmittelbaren
Erfahrung von Faschismus und Krieg auf verfassungsrechtliche Normen, die
heute von manchem gerne ausgeblendet, uminterpretiert oder verleugnet
werden. Wer sich vor der derzeitigen Kapitalkrise wie Politiker der
Linkspartei auf die nach Art. 14 und 15 GG mögliche Enteignung bzw.
Sozialisierung von Privateigentum an Produktionsmitteln »zum Wohle der
Allgemeinheit« berief, wurde schon manches Mal als Verfassungsfeind
bezeichnet.
Das Grundgesetz wurde mit einer antifaschistischen Feder geschrieben.
Zwei ungeschriebene, aber lange Zeit wirkmächtige Präambeln
charakterisieren seinen Geist: »Nie Wieder Krieg!« und »Nie wieder
Faschismus!« Diese als Provisorium erdachte Verfassung hat allerdings in
all den Jahrzehnten durchaus Wandlungen durchgemacht. Ersetzungen,
Ergänzungen, Streichungen, gewandelte Auslegungen innerhalb der
Rechtsprechung und auch die normative Kraft praktizierter Verstöße haben
doch erheblich seinen Glanz verblassen lassen. Zu erinnern wäre etwa an
die Wehrverfassung von 1956, an die Notstandsgesetze von 1968 und an die
faktische Abschaffung des Asylrechts aus dem Jahr 1992. Der Liberale
Burkhard Hirsch bezeichnete den schlichten Satz »Politisch verfolgte
genießen Asylrecht« aus Art. 16, Abs. 2 GG als die »Fackel der
Freiheitsstatue«; mit der Grundgesetzänderung von 1992 - fatalerweise
auch noch als eine unmittelbare Antwort auf die Pogrome in
Rostock-Lichtenhagen gegen Asylsuchende - sei die Fackel erloschen.
Das Grundgesetz ist auch ohne brennende Fackel immer noch die beste
Verfassung, die in Deutschland je wirksam gewesen ist. Sich aber der
historischen Wurzeln zu erinnern, um seinen ursprünglichen Geist
wiederzubeleben, ist dringend geboten. Das Grundgesetz ist ein
unverzichtbarer Ausgangspunkt für die Einrichtung einer
emanzipatorischen Gesellschaft, gerade in der gegenwärtigen Zeit: Für
die herrschenden Eliten erweisen sich die rechtsstaatlichen Normen
zunehmend als formelle Schranke, als eine unbequeme Fessel ihrer
Gewaltausübung. Dann schlägt die Stunde des Dezisionismus. Der geistige
Wegbereiter des Nationalsozialismus, Carl Schmitt, hatte mit seiner
politischen Theologie die Legitimation geliefert, nach der die Nazis an
die Stelle eines verbindlichen Rechtssystems Willkür und das Recht des
Stärkeren setzten. Die Suspendierung der politischen Rechte ermöglichte
es den Nazis, auf scheinbar legalem Wege die in Parteien und
Gewerkschaften organisierte Arbeiterbewegung zu zerschlagen.
Schon Marx wusste sehr genau, dass die Gewähr der politischen Rechte -
Meinungsfreiheit, Koalitions- und Versammlungsfreiheit,
Demonstrationsrecht usw. - der Boden ist, auf dem sich weitere
Emanzipation bewegen muss. Sie kann in ihrem politischen Kampf für den
Sozialismus auf die bürgerlichen Freiheiten nicht verzichten und will
sie deshalb nicht liquidieren, sondern dialektisch aufheben: ihren
formalen Charakter abstreifen, ihren Inhalt aber bewahren und
konkretisieren. Das gilt auch heute noch. Die Verfassung ist
diesbezüglich ein wichtiger Bezugspunkt. Sie muss von den Linken
verteidigt werden wie eine Stadtmauer.
Dr. Marcus Hawel, Jahrgang 1973, ist Politikwissenschaftler,
Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaften der Leibniz
Universität Hannover, Mitherausgeber der Onlinezeitschrift »SoPos -
Sozialistische Positionen« und zur Zeit Wissenschaftlicher Mitarbeiter
im Studienwerk der Rosa Luxemburg Stiftung. Seine Arbeitsgebiete sind u.
a. Verfassungslehre und Staats- und Demokratietheorie.
Alles drei Beiträge dieser Seite aus: Neues Deutschland, 22. Mai 2009
Zurück zur Deutschland-Seite
Zur Seite "Verfassung, Verfassungsschutz"
Zurück zur Homepage