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"Wir sinisieren den Marxismus"

Gespräch mit Li Junru. Über die Leistungen und Schwierigkeiten der Kommunistischen Partei Chinas als Regierungspartei. Die Gründung der mitgliederstärksten Partei der Welt jährt sich im Juli zum 90. Mal. Marxismus nach wie vor theoretische Richtschnur


Li Junru (*1947) ist Mitglied des Ständigen Ausschusses der Konsultativkonferenz des Chinesischen Volkes (PKKCV). Er ist Stellvertretender Direktor der Forschungsstelle für Parteigeschichte beim ZK der Kommunistischen Partei Chinas und war bis vor kurzem stellvertretender Rektor der Hochschule des ZK der KPCh.

Vor 90 Jahren, im Juli 1921, wurde die Kommunistische Partei Chinas gegründet. Seit über 60 Jahren übt die Partei in China die Regierungsverantwortung aus. Seitdem hat das Land sich grundlegend gewandelt, von einer Agrarnation zu einer der größten Volkswirtschaften der Erde. Was waren die wesentlichen Beiträge der KP Chinas zu dieser Entwicklung?

Die Kommunistische Partei Chinas hat drei bedeutende Beiträge zur Entwicklung des Landes geleistet. Zunächst war China früher eine halbkoloniale und halbfeudale Gesellschaft. Das Land litt unter der Demütigung und Unterdrückung durch die Imperialisten. Die KP Chinas hat die Unabhängigkeit des Landes möglich gemacht und die VR China gegründet. Durch sie ist das chinesische Volk aufgestanden. Des Weiteren war China früher ein ökonomisch und kulturell rückständiges Land. Durch einen friedlichen sozialistischen Umbau hat die KP Chinas ein sozialistisches System in China aufgebaut. Und drittens arbeitet die Kommunistische Partei durch die Reform- und Öffnungspolitik daran, aus einem einst schwachen und armen Land ein starkes, demokratisches, zivilisiertes und harmonisches sozialistisches Land zu schaffen. Diese Leistungen der Partei bringen Vorteile für das ganze Volk, für jeden einzelnen Chinesen. In der langen Regierungsgeschichte der KP Chinas haben wir erkannt: Nur eine Partei, die die fortschrittliche Kultur, die fortschrittlichen Produktivkräfte und die Interessen der Mehrheit des Volkes vertritt, kann sich langfristig als Regierungspartei etablieren. Genau das ist eigentlich die Theorie des »dreifachen Vertretens«. Das heißt: die Partei muß immer progressiv sein, die Partei muß Schritt mit der Zeit halten. Und die Partei muß immer die wachsenden Bedürfnisse der Menschen befriedigen.

1989 konnte sich die Volksrepublik behaupten, während die europäischen sozialistischen Staaten und die UdSSR untergingen. Woher rührt diese Stabilität des politischen Systems in der VR China?

Vor dem Hintergrund der Niederlage des Sozialismus in Europa hat China eine gute Entwicklung des Sozialismus im eigenen Land erlebt, weil wir einen richtigen Weg gefunden haben: den Sozialismus den chinesischen Erfordernissen anzupassen. Nach den Ereignissen 1989 boten sich für die VR China zwei Optionen: Erstens befürchteten viele Leute, daß die Reformpolitik China in das gleiche Schicksal wie das der Sowjetunion treiben könnte, also daß die Reformen China verbürgerlichen würden. Deshalb solle China zum alten sozialistischen Weg zurückkehren. Die zweite Meinung war, daß der Zusammenbruch des Sozialismus in der Sowjetunion und Osteuropa als eine historische Tendenz analysiert werden müsse. China solle daher auch eine kapitalistische Liberalisierung durchführen. Die KP China hat diese Frage sehr nüchtern analysiert und dann folgende Schlußfolgerung erzielt: Ein Zurück zum alten Weg ist eine Sackgasse. Die kapitalistische Liberalisierung, der Kapitalismus ist für China ebenfalls eine Sackgasse. China muß einen eigenen Weg gehen. Dieser Sozialismus chinesischer Prägung umfaßt drei wichtige Punkte: 1. die Zentralaufgabe ist wirtschaftliche Entwicklung. 2. China muß am Sozialismus unter der Führung der KP Chinas festhalten, und 3. muß die Reformpolitik der Öffnung des Landes fortgeführt werden. Die Praxis hat bewiesen, daß dieser Weg eine richtige Wahl ist. Dieser Weg hat einen Beitrag zum Wiederaufstieg des chinesischen Volkes geleistet.

Der XVIII. Parteitag der KP Chinas ist für 2012 geplant, dort soll eine neue Führung gewählt werden. Der Generalsekretär der Partei, Staatspräsident Hu Jintao, und auch Wen Jiabao, der Politbüromitglied und Premierminister ist, werden nicht mehr kandidieren. Damit übernimmt eine neue Generation die Verantwortung für die VR China. Wird mit dem Generationenwechsel ein politischer Kurswechsel einhergehen?

Auf dem XVIII. Parteitag wird eine neue Führungsgeneration der Kommunistischen Partei Chinas auf die politische Bühne treten. Ich denke, die Partei wird diejenigen Leute, die den Geist der Epoche verkörpern, die das Land geöffnet haben, zu ihren Führungspersönlichkeiten wählen. Ich glaube nicht, daß diese neue Generation einen radikalen Kurswechsel vornehmen wird. Sie wird die grundlegenden Theorien und die großen Richtlinien der Partei beibehalten, den heutigen Kurs mit der zukünftigen Realität kombinieren und weiter den Weg des Sozialismus chinesischer Prägung gehen. Die KP Chinas wird an der Reform- und Öffnungspolitik festhalten, denn dafür bekommt sie die Unterstützung der Parteimitglieder und des chinesischen Volkes. Wer nicht daran festhält, bekommt keine Unterstützung. Diejenigen würden auch nicht zu den Führern der Partei gewählt.

Welchen Aufgaben wird sich die neu zu wählende Parteiführung Ihrer Meinung nach im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts zu stellen haben?

Ihre Aufgaben sind auch die Hauptaufgaben der gesamten Partei. Wir haben ein Ziel für das Jahr 2020 formuliert: In diesem Zeitraum wollen wir den Aufbau einer Gesellschaft in bescheidenem Wohlstand vorbereiten. Das ist die größte Aufgabe der neuen Parteiführung. Und mit der Erledigung dieser Aufgabe wird auch auch eine solide Basis für unser Fernziel bis 2050 geschaffen, nämlich die Vollendung der Modernisierung Chinas. Die neue Führung muß die Konflikte und Widersprüche unserer Partei in der heutigen Zeit lösen ...

... welchen Widersprüchen sieht sich die KP Chinas gegenüber?

Zum Beispiel den Unterschieden zwischen Stadt und Land, zwischen verschiedenen Regionen und Provinzen, zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und gesellschaftlicher Entwicklung. Wir müssen gesellschaftliche Harmonie entwickeln.

In den 62 Jahren an der Regierung hat die KP China die Hungersnöte beseitigt und den Wohlstand aller Chinesen erhöht. Gleichzeitig aber tut sich eine Kluft auf zwischen Arm und Reich, zwischen Stadt und Land und Ostküste und westlichen und zentralen Provinzen, was das Lebensniveau der Menschen betrifft. Wie geht die Partei mit dieser Herausforderung um, welche Maßnahmen werden zu ihrer Überwindung ergriffen?

Erstens: Die großen Unterschiede hat nicht die KP Chinas gebracht, eigentlich gab es in der Geschichte in China schon immer große Unterschiede zwischen Ost und West, zwischen Stadt und Land. Der zweite Punkt: nach 30 Jahren Reform- und Öffnungspolitik hat die Partei jetzt eine solide Basis für die Lösung dieser Probleme geschaffen. Und drittens: Die KP Chinas ergreift jetzt alle möglichen Maßnahmen, um diese Unterschiede zu beseitigen. Wir sind realistisch. In kurzer Zeit können wir diese Unterschiede nicht beseitigen, das ist ein langer Prozeß, das wissen wir auch. Jetzt haben wir günstige Bedingungen dafür. Das chinesische Volk hat gesehen, daß sich die Kommunistische Partei um die Minderung, die Verkleinerung dieser Unterschiede bemüht. Und das Volk glaubt auch, daß die KP die Unterschiede minimieren kann.

In vielen westlichen Medien wird seit Jahren darüber spekuliert, daß das chinesische Wirtschaftswachstum eine »Blase« produziert, insbesondere im Immobi­liensektor, die irgendwann »platzen« müsse ...

... die westlichen Medien schreiben seit geraumer Zeit Schlechtes über die chinesische Wirtschaft, sie wollen sogar einen Zusammenbruch der chinesischen Wirtschaft voraussehen können. Aber bisher ist jede dieser Prognosen gescheitert, weil dabei die wirtschaftlichen Aspekte Chinas nicht richtig analysiert wurden. Die KP China hat eine Stärke: Einerseits nimmt sie alle guten Erfahrungen in der menschlichen Geschichte und in der ganzen Welt auf, andererseits analysiert sie nüchtern die Probleme und Herausforderungen. Das gehört zu unserer Regierungsfähigkeit, genau das haben die westlichen Medien nicht erkannt. Mit der Beseitigung der internationalen Finanzkrise haben wir ein riesiges Konjunkturpaket ...

... im Umfang von mehr als 1,2 Billionen Euro ...

... verabschiedet. Damit haben wir diese Krise sehr gut überwunden. China ist als erstes aus dieser Krise herausgekommen.

Woran liegt das?

Bei der Bewältigung dieser Krise haben wir nicht nur die Beseitigung der Krise selbst im Blick, wir wollen in diesem Prozeß auch die Art und Weise der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas verändern, wir wollen unsere Wirtschaftsstruktur optimieren, damit wir in Zukunft solchen Krisen noch besser begegnen können. Beispielsweise die Veränderung der ökonomischen Struktur, der Industriestruktur, der Branchenstruktur. Dieses Ziel haben wir jetzt noch nicht erreicht. Das ist für uns eine große Aufgabe.

Wie akut ist die Gefahr einer wirtschaftlichen »Überhitzung«, einer Hyperinflation tatsächlich?

Das ist ein großes Problem. Im Vergleich zur Veränderung der Art und Weise der Produktion ist die Inflation aber ein nachgeordnetes Problem, wir wollen vor allem die wirtschaftliche Struktur ändern. Natürlich legen wir auch sehr viel Wert auf das Problem der Inflationsgefahr. Wir haben die Gründe, die Ursachen analysiert. Das sind andere als früher. Früher hatten wir vielleicht Mängel, zum Beispiel Mißernten oder andere Probleme in der Wirtschaft. Auch damals gab es Inflation. Diesmal ist die Ursache der Inflation zu viel Liquidität.

Zu den Ursachen gehört zum Beispiel die Währungspolitik der USA. Aber auch unsere eigene Politik ist eine Ursache für die Inflation. Aber wir denken, daß die Inflation jetzt noch kontrollierbar ist. Und wir können das kontrollieren und dann das Problem lösen. Um die Schäden, um die Folgen für die normalen Menschen zu minimieren, haben wir auch viele Maßnahmen ergriffen, z.B. Lohnerhöhungen, deren Vorteile das Volk zu spüren bekommt.

Noch einmal zur Wirtschaftskrise: In der Europäischen Union geraten Staaten unter Schuldendiktat, Staatsbankrotte drohen in einer Reihe von EU-Mitgliedsstaaten. Die VR China hat mehrfach betont, helfend einzugreifen und auch Anleihen solcher Staaten zu kaufen, die akut von Zahlungsunfähigkeit bedroht sind – Griechenland, vielleicht Portugal, möglicherweise auch Irland. Welche Überlegungen stecken aus Sicht der Volksrepublik dahinter? Zumal ja nicht damit zu rechnen ist, daß diese Staaten in kürzerer Zeit ökonomisch wieder auf die Beine kommen werden ...

China hat gewaltige Devisenreserven, und wie wir mit ihnen umgehen, das ist eine große Frage. Früher haben wir vor allem US-amerikanische Anleihen gekauft, da gibt es allerdings große Risiken. Jetzt wollten wir das Risiko verkleinern und müssen deshalb auch Staatsanleihen anderer Länder erwerben. China befürwortet die wirtschaftliche Globalisierung und Handelsliberalisierung. Wir denken, das nützt allen Ländern. Der Protektionismus schadet allen. Durch Einkauf von europäischen Staatsanleihen wollen wir einen Beitrag zum Freihandel leisten, dadurch wollen wir fairen Wettkampf zwischen entwickelten Ländern und Entwicklungsländern ermöglichen. Wir wollen sowohl für entwickelte, als auch für Entwicklungsländer eine »win-win«-Situation schaffen.

Das chinesische Engagement in Afrika stößt im Westen, auch in Deutschland, oft auf Kritik. Einige der Staaten Afrikas, mit denen die VR China enge wirtschaftliche Beziehungen pflegt, sind mittlerweile enormem Druck unterworfen: Der Sudan steht vor der Spaltung, Libyen wird täglich bombardiert. Findet dort eine Verschiebung der internationalen Kräfteverhältnisse statt, und würde dies für Chinas außenpolitischen Kurs bedeuten?

China verfolgt mit großem Interesse die Entwicklung Afrikas. Der Kontinent hat in der Geschichte unter Kolonialismus und Imperialismus gelitten. Auch das chinesische Volk hat diese Erfahrungen gemacht, nämlich Unterdrückung unter Mitwirkung der Imperialisten. Die Menschen Afrikas, unsere afrikanischen Freunde, wollen unsere Hilfe, und wir wollen ihnen Hilfe geben, wo dies möglich ist. Das ist eine gleichberechtigte Hilfe, das ist eine freundschaftliche Beziehung zwischen beiden Seiten. Und diese Zusammenarbeit birgt für beide Vorteile. Wir wollen, daß das afrikanische Volk die Armut und die Rückständigkeit so schnell wie möglich beseitigt. In dieser Frage haben wir keine Hintergedanken, wir haben keine kolonialen Motive. Und das weiß das afrikanische Volk auch! Die westlichen Politiker reden immer davon, daß China mit Hintergedanken in Afrika tätig wird, aber das ist Verleumdung. Auch in dieser Frage verfolgen wir das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten. Die Innenpolitik in diesen Ländern spielt keine Rolle, wenn es um unsere Hilfe geht. Wir hoffen, das diese Länder, wenn sie Probleme haben, diese selbst lösen können. Wir glauben, daß die Völker dieser Länder selbst befähigt sind, ihre Probleme zu lösen – und nicht andere. Das ist der größte Unterschied zwischen uns und den Imperialisten.

Sie waren stellvertretender Rektor der Hochschule des ZK der KPCh, also der höchsten Bildungseinrichtung der chinesischen kommunistischen Partei. Welche Rolle spielt der Marxismus in China heute?

Der Marxismus ist die theoretische Basis für die Weltanschauung der KP Chinas. Unser Leitgedanke ist in diesem Sinne ein an die chinesichen Verhältnisse angepaßter Marxismus: der Marxismus und Leninismus, die Mao-Zedong-Ideen, die Theorien Dengs, die »dreifache Vertretung« und das wissenschaftliche Entwicklungskonzept. Wir lernen den Marxismus nicht dogmatisch, sondern wir verbinden ihn mit der Realität Chinas.

Welche Antworten kann der Marxismus auf die Widersprüche der internationalen Entwicklung, auf die Probleme des Aufbaus eines Sozialismus chinesischer Prägung geben?

Wir sinisieren den Marxismus. Durch zwei Maßnahmen lernen die Parteifunktionäre und Mitglieder den Marxismus. Erstens wählen wir die wichtigsten Artikel von Marx aus, die aufschlußreich für die Entwicklung Chinas sind. Das sind Pflichtartikel für die Parteifunktionäre, sie müssen diese Artikel lesen. Zweitens werten wir die wichtigsten historischen Erfahrungen des Marxismus zur Lösung der Probleme aus. Wir wollen mit marxistischen Methoden die Probleme in der chinesischen Realität lösen.

In der VR China wird an der Fertigstellung und Übersetzung der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) ins chinesische gearbeitet. Werden auch weitere marxistische Quellen ausgewertet und veröffentlicht?

Im letzten Jahr haben wir zwei wichtige Projekte veröffentlicht. Zum einen zehn Bände der MEGA-Ausgabe, zum zweiten gesammelte Werke von Lenin in fünf Bänden. Wir werten die wichtigsten Inhalte dieser 15 Bände aus und fassen sie in einem Sammelband zusammen. Dieses Buch ist dann auch Pflichtlektüre für die Funktionäre und Mitglieder unserer Partei.

Interview: Sebastian Carlens

* Aus: junge Welt, 16. Juli 2011


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