Verwundete und Unverwundenes
Von der übrigen Welt fast vergessen: Opfer des armenisch-aserbaidshanischen Krieges um Berg-Karabach
Von André Widmer *
Europa dürfe den Konflikt um Berg-
Karabach 2013 nicht länger ignorieren,
verlautete zu Jahresbeginn aus
der aserbaidshanischen Hauptstadt
Baku. Obwohl Europarat, Europäisches
Parlament, OSZE und UN-Sicherheitsrat
an einer Lösung beteiligt
seien, mangele es an konkreten Ergebnissen.
Eine Ortsbesichtigung bestätigt
mehr als das.
»Sehr oft, praktisch jeden Tag gibt
es Schusswechsel«, erzählen die
Bewohner des Dorfes Alkhanli in
der Nähe eines Kontrollpunkts der
aserbaidshanischen Armee. In einem
Teil des Dorfes im Bezirk Fizuli
darf niemand mehr wohnen.
Ein paar Hundert Meter entfernt
von der Waffenstillstandslinie
zwischen Aserbaidshan und den
von Armeniern besetzten Gebieten
ist es für Zivilisten zu gefährlich.
Am Checkpoint der Armee wird
der Verkehr ins Niemandsland und
zum dahinter liegenden Militärposten
deshalb kontrolliert. Zwischen
den fenster- und dachlosen
Ruinen des menschenleeren Siedlungsteils
wuchern Pflanzen. Eine
eigenartige Stimmung liegt über
dem Gebiet, erst recht, als Sonnenstrahlen
nur noch durch ein
Loch in der Wolkendecke dringen.
Schützengräben durchfurchen das Land
Neun Kilometer südlich, in Ashagi
Abdurrahmanli, sieht es nicht
besser aus. Nur liegt das ganze
Dorf noch ungünstiger zu den armenischen
Stellungen. Die Spuren
des Krieges und der zeitweiligen
Besatzung sind ausgeprägter. Der
Ort ist eine einzige Ruinenlandschaft.
Die Decke im Parterre des
zweigeschossigen Schulgebäudes
ist rußgeschwärzt. Brandschatzungen
waren Teil der Kriegführung
der Armenier, die eine Politik
der verbrannten Erde verfolgten,
um eine Rückkehr der früheren
Bevölkerung auszuschließen.
Im Krieg um Berg-Karabach zu
Beginn der 90er-Jahre, als die Armenier
über das eigentliche frühere
»Autonome Gebiet Nagorno
Karabach« hinaus weitere Territorien
zu erobern begannen, tobte
im Bezirk Fizuli nahe der Grenze
zu Iran ein erbitterter Kampf. Nach
wie vor halten die armenischen
Separatisten 500 von 1394 Quadratkilometern
des Bezirks besetzt,
darin 62 Siedlungen. Dörfer wie
Alkhanli und Ashagi Abdurrahmanli
und über zwei Dutzend weitere
Ortschaften wurden 1994 bei
einer Gegenoffensive von den
Aserbaidshanern zurückerobert.
»Hier standen nach dem Krieg
noch 17 von 1850 Häusern, die
meisten Gebäude wurden während
der Besatzung niedergebrannt
«, erinnert sich Rahmiz
Behbudow, Bürgermeister von
Horadiz. Sein Städtchen dient derzeit
als Hauptort des Bezirks Fizuli,
denn die gleichnamige frühere
Bezirksstadt liegt jenseits der
Waffenstillstandslinie. In fast einem
Dutzend Siedlungen außerhalb
von Horadiz wurden Tausende
von Flüchtlingen aus benachbarten
besetzten Gebieten angesiedelt.
Über rund 300 Kilometer erstreckt
sich die Waffenstillstandslinie
zwischen Horadiz nahe Iran
und dem Berg Böyuk Hinaldag
nordöstlich Karabachs. Die Situation
entlang dieser »Grenze« ist
alles andere als stabil. Die Schützengräben
beider Konfliktparteien
liegen oft nur ein paar Hundert
Meter voneinander entfernt, teilweise
gar weniger. Zwar besteht
seit 1994 ein Waffenstillstand,
doch kommen nach offiziellen Angaben
jährlich etwa 30 Soldaten
und Zivilisten bei Schusswechseln
ums Leben. Beide Seiten machen
einander für die Verletzung des
Waffenstillstands verantwortlich.
Experten befürchten eine Zuspitzung
des Konflikts, sollten die
Armenier in Berg-Karabach den
Flughafen von Stepanakert wieder
in Betrieb nehmen. Nach mehr als
zwei Jahren Bauzeit wurde er
2012 fertiggestellt. Aserbaidshan
warnt vor der Aufnahme des Flugbetriebs
auf dem international als
aserbaidshanisches Territorium
anerkannten Gebiet. Für Unruhe
sorgte letztes Jahr auch die Freilassung
Ramil Safarows. Der aserbaidshanische
Offizier hatte 2004
bei einem NATO-Kurs in Budapest
einen Armenier ermordet. Nach
acht Jahren Haft in Ungarn wurde
er an seine Heimat ausgeliefert –
und umgehend begnadigt.
Kucerli – Endstation der Eisenbahn
Unsere Fahrt führt weiter nach
Norden zum Dorf Chirakli im Rayon
Agdam. Chirakli ist wie Alkhanli
zweigeteilt. Das Gelände ist
flach; die Waffenstillstandslinie ist
hier kein gerader Strich. Schützengräben
zerfurchen das Land.
Ein etwa zwei Meter hoher Wall
aus aufgeschütteter Erde, der die
Einwohner gegen armenische
Scharfschützen abschirmen
soll, zieht sich
mitten durch das Dorf.
Die jenseits dieses
Damms liegenden Felder
können nicht bearbeitet
werden.
Im unweit gelegenen
Orta Qarvand wurde
2011 der neunjährige
Fariz Badalow in der
Nähe seines Elternhauses
von einer Kugel getroffen.
Inzwischen
wurde eine drei Meter
hohe Mauer errichtet,
die das Land der Badalows
umgibt. Der Friedhof,
auf dessen vorderem
Teil sich Fariz'
Grab befindet, ist ebenfalls
nur wenige Hundert
Meter von der
Frontlinie entfernt. Wer
in geduckter Haltung
den hinteren Teil des Friedhofs
betritt, sieht auf der Rückseite
neuerer Grabsteine Einschusslöcher.
Nicht einmal diese letzte Ruhestätte
wird verschont.
Die Bezirke entlang der Waffenstillstandslinie
sind nicht nur
immer noch von der zeitweiligen
Besetzung durch armenische
Truppen vor fast 20 Jahren geprägt,
auch nicht nur von der Gefahr
neuerlicher Schusswechsel.
Viele Flüchtlinge aus dem eigentlichen
Berg-Karabach und den
umliegenden, ebenfalls armenisch
besetzten Gebieten haben sich in
den Regionen entlang der »Line of
Contact«, wie die gefährliche
Grenze auch genannt wird, niedergelassen
oder wurden dort angesiedelt.
Im Laufe der vergangenen
Jahre hat das durch Einnahmen
aus Erdölverkäufen gesegnete
Aserbaidshan zwar auch in den
Bau neuer Flüchtlingsdörfer investiert.
Doch noch immer leben
viele der insgesamt 586 000 Vertriebenen
unter menschenunwürdigen
Bedingungen.
In Kucerli existiert eine dieser
armseligen Siedlungen. Unmittelbar
nach dem Krieg wohnten
Flüchtlinge in Güterwaggons. Jetzt
säumen Lehmhütten die Bahnlinie.
Kucerli ist die Endstation, weiter
westwärts geht es nicht, dort liegt
besetztes Gebiet.
In der benachbarten Kleinstadt
Barda wurden öffentliche Gebäude
wie Schulen oder eine Turnhalle zu
Flüchtlingsunterkünften umfunktioniert.
So hausen in einer alten,
kleinen Sporthalle neun Familien –
alles in allem 35 Personen – in
Holzverschlägen. Die Bewohner
klagen über die misslichen Umstände:
Die Wasserleitung funktioniert
nicht, die sanitären Einrichtungen
sind ungenügend, es
gibt Insekten und Ratten.
Und in Hasankaya im Bezirk
Terter könnte man meinen, der
Krieg sei erst vor Kurzem zu Ende
gegangen. Häuserskelette ragen
aus der trostlosen, kargen Landschaft.
In behelfsmäßigen Hütten
haben sich ein paar Familien mehr
schlecht als recht eingerichtet, in
unmittelbarer Nachbarschaft zerstörter
Häuser.
Nach der Flucht über die Berge des Murovdag
Vor einer Ruine ein Autowrack,
Rauch steigt empor. Eine Frau
schaufelt einen kleinen Graben für
eine Leitung, neben sich drei Kinder.
Ihr Zuhause ist die Ruine. Im
Erdgeschoss des Gebäudes haben
sie sich eingerichtet, vom Obergeschoss
fehlen etliche Wände und
das Dach, sodass es unbewohnbar
ist. In der Nähe steht ein Mann mit
seiner Tochter. Sie ist 24 Jahre alt.
Als sie vier Jahre war, explodierte
direkt neben ihr eine Granate;
seither hört sie nichts mehr. Die
junge Frau hat nie die Gebärdensprache
gelernt. Aserbaidshans
Hauptstadt Baku, die Vorteile der
Zivilisation und eine adäquate Betreuung
für die Versehrte sind zu
weit entfernt.
Die Szenerie in Hasankaya, das
etwa einen Kilometer von der
Waffenstillstandslinie entfernt
liegt, mutet für Besucher wahrlich
apokalyptisch an. 20 Jahre sind
vergangen seit dem Krieg und den
Kämpfen in dieser Gegend. Fast
die ganze frühere Bevölkerung hat
die Ortschaft verlassen. Die meisten
der wenigen heutigen Einwohner
sind Flüchtlinge aus der
Region Kelbajar, die unmittelbar
an der Grenze zu Armenien liegt.
Im Frühling 1993 sind sie mühevoll
über die schneebedeckten
Berge des Murovdag vor der Besetzung
ihrer Heimat geflohen.
Hier haben sie Zuflucht gefunden,
fristen jedoch seit Jahren eine
karge Existenz zwischen Ruinen.
Der trockene Boden lässt wenig
Leben sprießen. Es sind Vertriebene,
die sich von der übrigen Welt
vergessen glauben. Nur ein großer
Wassertank des Internationalen
Komitees vom Roten Kreuz zeugt
davon, dass man sich ihrer erbarmt.
Bei Hasankaya war früher eine
landwirtschaftliche Forschungsanstalt
angesiedelt. Zwei der drei
Hauptbauten wurden dem Erdboden
gleichgemacht. Das dritte Gebäude
steht einsam in der Landschaft.
Der kleine eingezäunte
Vorgarten gibt nichts mehr her. Er
ist braun. Keine Pflanze wächst.
Das Gebäude selbst weist Spuren
der Kämpfe auf: Einschusslöcher,
Brandspuren. In einer Hälfte des
Erdgeschosses haben sich Flüchtlinge
einquartiert. Von diesem Gebäude
aus bietet sich ein imposanter
Blick über die tiefer liegende
grüne Ebene des Flusses Terter
hin zu den Bergen Karabachs, den
Ausläufern des Murovdag. Das
Gebirge liegt im armenisch besetzten
Teil des Distrikts Terter.
Nah und doch unerreichbar.
* Dieser Beitrag, den uns der Autor freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat, erschien in der Freitagsausgabe des "neuen deutschland" (11. Januar 2013), Seite 3.
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