Wenige Kilometer von der fernen Heimat
Hunderttausende Flüchtlinge, verminte Landstriche und ungeduldig werdende Militärs 15 Jahre nach dem Konflikt um Berg-Karabach
Von André Widmer, Baku *
Einsam hütet ein Hirte auf einer
Anhöhe in der kargen Gegend von
Zobucq seine Schafe. Das Gebiet ist
unwirtlich. Fernab von den fruchtbaren
Tiefebenen Aserbaidshans,
viele Fahrstunden entfernt von der
Hauptstadt Baku.
Zobucq in der Provinz Fizuli umfasst
fünf Siedlungen. Hier leben
Flüchtlinge, die 1993 während des
Krieges um Berg-Karabach ihre
Heimatprovinzen verlassen mussten.
Die Häuschen der Flüchtlingssiedlungen
sind relativ modern, jedes
hat einen kleinen Garten, in
den meisten wächst ein wenig
Mais. Wenige Kilometer entfernt
verläuft die ehemalige Front. Dahinter
liegen die von Armenien besetzten
Provinzen Aserbaidshans,
eingeschlossen Bergkarabach.
Tatenlos in unwirtlichem Gebiet
Cechran Khudawerdi und einige
Männer stehen vor einem der Siedlungshäuser
von Zobucq. Khudawerdi
und seine Kollegen arbeiteten
in der Sowjetzeit als Lehrer,
Journalisten, Regierungsangestellte,
in Sowchosen oder Kolchosen.
Hier in Zobucq müssen sie tatenund
arbeitslos ausharren. In dieser
Gegend gibt es nicht viel zu tun.
Immerhin werden die Flüchtlinge
finanziell unterstützt. Die Männer
stammen aus den besetzten Provinzen,
nur wenige Kilometer jenseits
der Demarkationslinie. »Wir
sind bereit zurückzukehren. Wir
möchten wieder die Gräber unserer
Urahnen besuchen. Wenn sie
das Friedensabkommen unterzeichnen,
wären wir bereit, mit
den Armeniern zusammen zu leben«, sagt Khudawerdi.
Als Anfang der 90er Jahre der
Krieg zwischen Armenien und
Aserbaidshan um das mehrheitlich
armenisch besiedelte, aber völkerrechtlich
zu Aserbaidshan gehörige
Gebiet Berg-Karabach wütete,
rückten armenische Truppen weit
ins Innere des Nachbarlandes ein
und besetzten sieben weitere Provinzen.
40 000 Menschen starben.
Wie Chechran Khudawerdi mussten
rund 800 000 Aserbaidshaner
fliehen. 300 000 Armenier nahmen
den Weg in die andere Richtung
unter die Füße. Aserbaidshan sah
sich plötzlich mit einer riesigen
humanitären Aufgabe konfrontiert.
Über das gesamte Staatsgebiet verteilt
wurden zunächst Zeltlager errichtet,
Schulen und Turnhallen
umgenutzt. Nach und nach wurden
die Zeltlager durch 61 Häusersiedlungen
ersetzt.
Die Nacht ist über der Provinz
Fizuli hereingebrochen. In einem
Gebäude der Minenräumgesellschaft
Anama in Horadiz sitzt Ramasan
Heydarow an einem Tisch
und trinkt Tee. »Ich habe keinen
Computer und keinen Fernseher.
Ich will von all der Gewalt in der
Welt nichts mehr sehen. Wenn ich
denke, was sich Menschen alles
antun, bin ich zufrieden, mit Hunden
zu leben«, sagt er. Heydarow
betreut 32 Minensuchhunde. Zuvor
führte er Drogenspürhunde auf
dem Flughafen von Baku. Und in
den 80ern diente er in Afghanistan.
»In einem Spezialkommando«
– weiter geht er darauf nicht ein.
Minenfelder und Kampfgebiete
Am Morgen darauf bei den Flüchtlingssiedlungen
von Zobucq. »Wir unterscheiden zwischen Minenfeldern
und Kampfgebieten«, erläutert
Habil Babayew. Er ist Gruppenführer
bei der Minenräumgesellschaft.
Seine Männer sind
draußen bei der Arbeit. Sie suchen
die Felder nach Minen und Blindgängern
ab, »damit das Gebiet für
Landwirtschaft genutzt werden
kann«. In einem Bereich suchen
die Männer mit Metalldetektoren,
im zweiten Feld pflügt sich ein
ferngesteuerter Metallkoloss 20
Zentimeter in den Boden. Der Maschinenführer
steht etwa 150 Meter
entfernt, um bei einer Detonation
nicht getroffen zu werden. Verrostete
Granaten und Panzerminen
sind in einem separaten Sektor deponiert.
Im Hintergrund steht ein
Ambulanzwagen. »Wie lautet Ihre
Blutgruppe?«, will Babayew zur Sicherheit
wissen. Werden Minen
oder Blindgänger gefunden, werden
sie möglichst an Ort und Stelle
zur Explosion gebracht. Die Nachkontrolle
übernehmen die Suchhunde.
Die Gesellschaft Anama, 1998
gegründet, beschäftigt mehr als
500 Leute. Die Aufgabe ist immens
und wird noch viele Jahre dauern:
Von 305 Quadratkilometern Aserbaidshans,
die verseucht sind oder
waren, sind erst 78 Quadratkilometer
geräumt. In Berg-Karabach und
den anderen besetzten Provinzen
rechnet man mit weiteren 350 bis
800 Quadratkilometern.
Zurück in Baku. Ali Hasanow ist
Vorsitzender der Flüchtlingskommission
Aserbaidshans. Stattlich,
grau meliert, mit dicken schwarzen
Augenbrauen erinnert er an den
früheren sowjetischen Staatsführer
Leonid Breshnew. »Ich arbeite seit
41 Jahren in ähnlichen Funktionen
«, beginnt Hasanow das Gespräch
und hält zunächst einen
20-minütigen Monolog über die
Psychologie der Armenier, die er
für fremdgesteuert hält. Dann aber
kommt er zum Thema. »Das Thema
der Flüchtlinge betrifft meine
Familie selber. Meine Eltern mussten
fliehen«, erzählt er. Insgesamt
1,3 Millionen Flüchtlinge lebten
derzeit in Aserbaidshan. »Bei den
ersten Unruhen zwischen 1988
und 1992 kam es zu einer ersten
Flüchtlingswelle von 250 000
Aserbaidshanern, die in Armenien
wohnten«, sagt Hasanow. Wegen
des Krieges umBerg-Karabach und
der Besetzung mehrerer umliegender
Provinzen durch armenische
Truppen und Paramilitärs flohen
weitere 600 000 Menschen ins
Landesinnere. »Die internationale
Gemeinschaft ließ uns mit dem
Problem alleine, nur Hilfsorganisationen
halfen uns zunächst.« Da die
Betroffenen innerhalb des eigenen
Landes flohen, gelten sie nach internationalen
Kriterien nicht als
Flüchtlinge, sondern als »Internally
displaced persons«, kurz IDP. »Das
Problem ist, dass die UNO-Konventionen
nur Flüchtlinge betreffen,
nicht aber IDPs. Doch 70 Prozent
der Geflüchteten weltweit sind
IDPs«, weiß Hasanow.
»Langsam verlieren wir die Geduld«
General Ramiz Nadjafow ist im
Verteidigungsministerium zuständig
für internationale militärische
Zusammenarbeit. Bereits 1994, im
Jahr des Waffenstillstandsabkommens
mit Armenien, unterzeichnete
der damalige aserbaidshanische
Präsident Heydar Alijew den Vertrag
über die »Partnerschaft für
den Frieden« mit der NATO. General
Nadjafow betont die gut funktionierende
Kooperation mit dem
Militärbündnis. Im Zuge dieser Zusammenarbeit
habe man die eigenen
Streitkräfte modernisiert und
auf NATO-Niveau gebracht. 1200
Offiziere durchlaufen die NATO-Ausbildung.
»Wir lernen von den
führenden Nationen«, sagt der General.
Derzeit stehen 65 000 Soldaten
an den etwa 1000 Kilometer langen
Grenzen zwischen Armenien
und Aserbaidshan. Täglich gebe es
Schusswechsel an der Demarkationslinie.
»Scharfschützen, keine
schweren Waffen«, bemerkt Nadjafow.
Man lasse sich nicht provozieren,
doch: »Unsere Armee ist nicht
mehr die von 1993. Wir haben
neue Waffensysteme, sind stärker.
Wir sind in der Lage, diese Mission
zu erfüllen.«
Mit »dieser Mission« meint er die
Befreiung Berg-Karabachs und der
umliegenden Provinzen. Seit 15
Jahren werde der Karabachkonflikt
im Rahmen der sogenannten
Minsker Gruppe der OSZE erörtert
– ohne konkrete Ergebnisse. Sein
Land habe alles Recht, seine territoriale
Integrität wiederherzustellen.
»Es gibt mehrere UNO-Resolutionen,
die Armenien zum Verlassen
dieser Gebiete auffordern.
Doch der Druck der internationalen
Gemeinschaft ist zu gering«,
sagt er. Auch Nadjafow hält die diplomatischen
Mittel zwar für noch
nicht ausgeschöpft. »Aber in der
Realität verlieren wir langsam die
Geduld.« Man habe die Möglichkeiten,
die Gebiete innerhalb kurzer
Zeit zu befreien, sagt der General.
»Nicht weitere 15 Jahre Diskussionen«
Ähnlich sieht das Elchan Polukhow,
Sprecher des aserbaidshanischen
Außenministeriums. Man sei
bereit für weitere Verhandlungen,
behalte sich aber das Recht vor, alle
Mittel auszuschöpfen, auch die
militärischen: »Potenzial für die
Diplomatie ist noch vorhanden.
Aber wir werden kaum noch einmal
15 Jahre weiter diskutieren.«
Aserbaidshans Angebot stehe:
höchstmögliche Autonomie für
Berg-Karabach innerhalb Aserbaidshans.
So wie die Exklave
Nachitschewan würde Karabach
ein regionales Parlament erhalten
und könnte in Baku ein Verbindungsbüro
betreiben. »Wir würden
auch finanzielle Investitionen in
Armenien selber tätigen«, sagt Polukhow.
Zuerst aber müssten die armenischen
Truppen aus den besetzten
Gebieten um Karabach zurückgezogen
und die Verkehrsverbindungen
wieder hergestellt werden.
Friedenstruppen der UNO oder der
OSZE sollten die Rückkehr der aserischen
Flüchtlinge in ihre Heimat
überwachen und ein friedliches
Zusammenleben von Armeniern
und Aserbaidshanern sichern.
»Auch wenn wir verstehen, dass
die Vermittler eine neutrale Position
einnehmen müssen: Wir wollen,
dass sie die Sache beim Namen
nennen: Es handelt sich um eine
Aggression und um die Okkupation
durch Armenien«, stellt er fest.
Und dann erzählt Polukhow eine
Begebenheit, die von ausländischen
Medien gänzlich ignoriert
wurde: 2007 und 2009 hat der in
Moskau stationierte aserbaidshanische
Botschafter von aserbaidshanischer
Seite aus Berg-Karabach
besucht und ist weiter zu Gesprächen
nach Jerewan gefahren.
Es mag ein symbolischer Schritt
sein, doch die Zugeständnisse
Aserbaidshans sind signifikant.
Andererseits ist eine Eskalation
dieses Konflikts im Südkaukasus
nach wie vor nicht auszuschließen.
* Aus: Neues Deutschland, 11. Dezember 2009
Hintergrund: Ungelöster Konflikt
Die Geschichte Karabachs ist von
wechselnden Hoheitsansprüchen geprägt,
formuliert und durchgesetzt vom
mittelalterlichen armenischen Königreich,
von Persien oder dem russischen
Zarenreich. 1923 wird Karabach auf
Josef Stalins Betreiben hin von der
Sowjetunion als autonomes Gebiet
in die Sowjetrepublik Aserbaidschan
eingegliedert, obwohl zur damaligen
Zeit der christlich-armenische Bevölkerungsteil
weit grösser ist als der muslimisch-
aserbaidschanische. Während
der Perestroika in den achtziger Jahren
bis zum Ende der Sowjetunion spitzt
sich der lange schwelende Konflikt
zwischen den Ethnien zu. In Karabach,
später auch in anderen Gebieten Aserbaidschans
mit armenischen Minderheiten
und in Regionen Armeniens, die
von AserbaidschanerInnen bewohnt
werden, kommt es immer häufi ger zu
Zusammenstössen und Vertreibungen.
1992 bricht dann der Krieg aus.
Zunächst noch überlegen, muss die
aserbaidschanische Armee entscheidende
Niederlagen gegen die paramilitärischen
Einheiten Karabachs
hinnehmen, die von im Kaukasus
verbliebenen Teilen der russischen Armee
unterstützt werden. Mithilfe der
armenischen Streitkräfte werden die
aserbaidschanischen Truppen hinter
die heutige Demarkationslinie zurückgedrängt.
Bis zum Waffenstillstandsabkommen
1994 verlieren auf beiden
Seiten 40 000 Menschen ihr Leben,
etwa 800 000 Aserbaidschaner und
300 000 Armenierinnen werden durch
den Krieg zu Flüchtlingen.
Die Republik Nagornyj-Karabach
mit ihren 145 000 EinwohnerInnen
ist international nicht anerkannt, das
Gebiet wird von Aserbaidschan nach
wie vor beansprucht. In vier Uno-Resolutionen
wurde die Besetzung durch
Armenien verurteilt. Vermittlungsversuche
der sogenannten Minsker
Gruppe der Organisation für Sicherheit
und Zusammenarbeit (OSZE) und vermehrte
bilaterale Treffen Armeniens
und Aserbaidschans haben bisher zu
keinen zählbaren Ergebnissen geführt.
André Widmer
** Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 1. Oktober 2009
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