Es gibt keine schnelle Lösung für das Karabach-Problem
Stepan Grigorjan beschreibt die armenische Sicht auf den "eingefrorenen" Konflikt *
Stepan Grigorjan ist Vorstandsvorsitzender
des Analysezentrums für
Globalisierung und Regionale Kooperation
(ACGRC), einer Denkfabrik in
Armeniens Hauptstadt Jerewan. Der
promovierte Physiker war bis 2002
Berater des armenischen Außenministeriums,
davor Abgeordneter der
Nationalversammlung. »nd« sprach
mit ihm über die armenische Sicht
auf den Konflikt um Berg-Karabach.
Die Fragen stellte für das "neue deutschland" (nd) Franz Altmann.
nd: Welche Position beziehen Armenien
und die international
nicht anerkannte Republik Berg-
Karabach in diesem Konflikt?
Berg-Karabachs Position ist eindeutig:
Sie wollen nicht mit Aserbaidshan
zusammenleben. Sie
wollen Autonomie und eine Republik.
Eine Konföderation, in
welcher Konstellation auch immer,
kommt für die Regierung in
Stepanakert nicht in Frage. Darin
ist sie sich mit 100 Prozent der
Bevölkerung Karabachs einig.
Die Position der Regierung Armeniens
ist ein bisschen weicher:
Jerewan befürwortet, dass die
Verhandlungen weitergeführt
werden und ein Kompromiss gesucht
wird. Die Regierung zeigt
sich offen, über alle Varianten zu
sprechen. Allerdings besteht Jerewan
auf zwei Punkten: einem
Korridor nach Berg-Karabach und
einem Sicherheitssystem um
Berg-Karabach herum. Prinzipiell
ist Jerewan aber bereit, über fünf
der sieben Territorien, die an
Berg-Karabach grenzen und derzeit
von Armenien kontrolliert
werden, zu verhandeln. Unsere
Regierung ist in dieser Frage realistisch,
im Gegensatz zu Großteilen
der Bevölkerung, die der Meinung
sind, wir müssten diese Gebiete
nicht zurückgeben. Armenien
wird Teile dieser Gebiete zurückgeben,
wenn Aserbaidshan
Berg-Karabachs Unabhängigkeit
anerkennt oder einem Unabhängigkeitsreferendum
in Berg-Karabach
zustimmt.
Inwieweit ist Berg-Karabach von
Armenien tatsächlich unabhängig?
Berg-Karabach hat eine gewisse
Autonomie von Armenien, auch
wenn beide generell in den meisten
Punkten sehr eng miteinander
verknüpft sind. Nur im Verhandlungsprozess,
der von der Minsker
Gruppe der OSZE geleitet wird, hat
Stepanakert eine andere Position
als Jerewan. Armenien und Aserbaidshan
sind Mitglieder in der
Minsker Gruppe, Berg-Karabachs
Interessen werden von der armenischen
Delegation vertreten. Armenien
kann dort keine gültigen
Entscheidungen treffen, ohne dass
Stepanakert dem zustimmt. Berg-
Karabachs Einfluss auf Armenien
ist in diesem Punkt sehr stark.
Ist es in Armenien politisch korrekt,
die Gebiete, die formell auf
aserbaidshanischem Territorium
liegen, aber von Armenien kontrolliert
werden, als besetzte Gebiete
zu bezeichnen?
Aserbaidshan spricht von besetzten
Gebieten. Armenier sagen dagegen:
Historisch gesehen sind das
unsere Gebiete. Aus armenischer
Sicht ist es ein Rekonstruktionsprozess.
Übrigens werden diese
Territorien offiziell von der lokalen
Armee Berg-Karabachs kontrolliert.
Jerewan sagt: »Wir helfen
Berg-Karabachs Armee.« Aber in
Wirklichkeit sind die Militäreinheiten
dort natürlich gemischt.
Wie sieht Armenien die großen
internationalen Spieler im Karabach-
Konflikt: die USA, die EU und
Russland?
Die Situation kann sich sehr
schnell ändern. Doch im Moment
wollen die USA, die EU und Russland
den Karabach-Konflikt lösen.
Alle drei haben eine positive Einstellung.
Und alle drei stimmen in
einem Punkt überein: Der Karabach-
Konflikt kann nicht schnell
gelöst werden. Russland ist zögerlich,
weil nicht klar ist, was
nach dem Ende des Konflikts passieren
wird. Vielleicht treten Armenien
und Aserbaidshan der EU
bei und Russland verliert an Einfluss?
Die USA und die EU auf der
anderen Seite verstehen, dass Armeniens
und Aserbaidshans Positionen
sehr gegensätzlich sind.
In Berg-Karabach denkt man
nicht in solch globalen Dimensionen.
Stepanakert ist auf die Unabhängigkeit
fixiert. Im armenischen
Mutterland verstehen alle
Russlands Rolle. Aber die Armenier
erinnern sich auch daran,
dass Russland 1918 bis 1921 die
Probleme im Südkaukasus dadurch
löste, dass es armenische
Gebiete an die Türkei und an
Aserbaidshan abgab. Aus unserer
Perspektive beweist das, dass
Russland auch antiarmenisch
handeln kann. Heutzutage überdenken
Armenier die alten Paradigmen,
wonach Russland gut und
die Türkei böse ist. Sie verstehen,
dass wir auch andere Spieler im
Südkaukasus brauchen, wie etwa
die EU oder die Vereinten Nationen.
Wie wahrscheinlich ist es, dass
der Karabach-Konflikt überhaupt
gelöst wird?
Hier nur ein Beispiel für ein mögliches
Zukunftsszenario: Aserbaidshan
akzeptiert Berg-Karabachs
Unabhängigkeit nicht, aber
de facto ist Berg-Karabach unabhängig.
An einem bestimmten
Punkt treten Aserbaidshan und
Armenien der EU bei. In der EU
ist die Frage der Grenzen dann eine
andere. Aber bis es soweit ist,
brauchen Armenien und Aserbaidshan
noch Zeit, um zu kooperieren.
* Aus: neues deutschland, 17. November 2011
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