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Auch in Jerewan regieren Karabach-Armenier

Für eine Anerkennung Südossetiens und Abchasiens erwartet Armenien Russlands Gegengabe

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Sie weisen verblüffende Ähnlichkeit auf - die luftigen Arkadenhäuser mit der halbkreisförmig geschwungenen Fassade, die das Zentrum Jerewans ebenso wie das iranische Isfahan prägen. Kein Zufall: 50 000 Armenier ließ Schah Abbas 1590 holen, als er die zentraliranische Stadt zum Mittelpunkt seines Reiches ausbaute.

Neben Russland, das sich traditionell als Schutzmacht seiner christlichen Glaubensbrüder im Südkaukasus versteht, ist Iran heute erneut der wichtigste Partner Armeniens. Über die Brücke, die sich seit Mitte der 90er über den Grenzfluss Aras spannt, wickelt Armenien fast seinen gesamten Außenhandel ab. Zwangsläufig. Zu Russland gibt es keine direkten Grenzen und die Beziehungen zu Georgien - Nachbar im Norden - sind kühl. Tbilissi gesteht der armenischen Minderheit in der Südwestprovinz Dschawacheti nur begrenzte Autonomie zu. Überdies fürchten die Regierenden in Jerewan, die georgische »Rosenrevolution« könnte sich in Armenien wiederholen. Zwar gehört Jerewan zu Moskaus treuesten GUS-Verbündeten, die Opposition aber ist stramm proamerikanisch.

Dass die handgreiflichen Auseinandersetzungen, die beide Lager sich regelmäßig nach Wahlen liefern, bisher nicht zum Bürgerkrieg eskalierten, hat vor allem mit Bergkarabach zu tun. Der Kampf um Karabach und dessen künftigen Status, um den Jerewan und Baku wie die Kesselflicker streiten, ist für das unabhängige Armenien zu einer Art nationaler Idee geworden, die Regierung und Opposition eint. Denn beim Gerangel um die Exklave und den Latschin-Korridor, die Nabelschnur, die Karabach mit dem »Mutterland« verbindet, lechzt die armenische Volksseele auch nach Revanche für älteres Unrecht: Ethnisch sind die Aserbaidshaner (Aseri) die engsten Verwandten der Türken. Und das Verhältnis zwischen Armeniern und Türken ist seit Jahrhunderten nachhaltig gestört.

Im Staatswappen der Republik Armenien figuriert der Ararat als Nationalsymbol. Der Fünftausender, an dem Noahs Arche gestrandet sein soll, gehört zu jenen Gebieten im Osten der heutigen Türkei, die in der Antike Teile armenischer Großreiche waren und bis heute von armenischen Nationalisten wie der zum Regierungslager gehörenden Daschnaktsutyun-Partei beansprucht werden. Dazu kommt, dass das Osmanische Reich, aus dem die Türkei entstand, der armenischen Bevölkerung im Ersten Weltkrieg Sympathien für die nach Südwesten vorrückende russische Armee unterstellte und rund zwei Millionen Menschen in die Wüsten Mesopotamiens deportieren ließ. Die meisten kamen dort durch Hunger und Wassermangel um. Armenien verlangt eine offizielle Entschuldigung und das Eingeständnis, es habe sich um Völkermord gehandelt. Ankara weigert sich. Und als der Karabach-Konflikt 1993 einem neuen Höhepunkt zustrebte, schloss die Türkei ihre Grenze zu Armenien - aus Solidarität mit den Stammesbrüdern in Aserbaidshan.

Dass Abdullah Gül, der türkische Präsident, am 6. September seine Kicker zum WM-Qualifikationsspiel nach Armenien begleitete, deuteten viele als hoffnungsvolles Signal. Dabei wird jedoch verdrängt, dass die Normalisierung der türkisch-armenischen Beziehungen und der Karabach-Konflikt mehr denn je verwoben sind.

In Jerewan wurde 1998 Präsident Lewon Ter-Petrosjan, der vorsichtig auch Bereitschaft zu Verhandlungen mit der Türkei signalisiert hatte, von armenischen Falken gestürzt. An die Macht kam der sogenannte Karabach-Clan. Präsident Armeniens wurde Robert Kotscharjan, der zuvor erster Präsident der Separatistenrepublik Bergkarabach gewesen war. Nach zwei Amtszeiten übergab Kotscharjan im März dieses Jahres an die Nummer zwei des Karabach-Clans: Sersh Sarkisjan, der die Milizen der Separatisten während des Karabach-Kriegs befehligt hatte und dem Aserbaidshan Kriegsverbrechen und Massaker an der Zivilbevölkerung vorwirft. Eine einvernehmliche Lösung des Karabach-Konflikts, zu der die OSZE seit Jahren drängt, ist daher trotz der ökonomischen Verluste, die vor allem das rohstoffarme Armenien hart treffen, in überschaubaren Zeit- räumen wenig wahrscheinlich: Die Forderungen beider Seiten schließen einander faktisch aus.

Aserbaidshan verlangt die etappenweise Rückgabe jener sieben an Karabach grenzenden Bezirke, die die Armenier 1993 besetzten, um Gebietskorridore zwischen Karabach und Armenien zu öffnen. Außerdem besteht Baku auf einer Reihe vertrauensbildender Maßnahmen, die die Rückgabe flankieren. Vorrang haben dabei die Wiederaufnahme der bilateralen Wirtschaftskooperation und die Rücksiedlung von Kriegsflüchtlingen. Die Regierung in Baku spricht von einer Million Vertriebener.

Armenien indes will die okkupierten Gebiete en bloc zurückgeben - allerdings erst nach einem Referendum über den künftigen Status Bergkarabachs. Das aber scheiterte bisher, weil Kotscharjan wie Sarkisjan sich gegen das Stimmrecht für die geflüchteten Aseri sperren.

Nach Russlands Krieg mit Georgien sind Armenien und Bergkarabach weniger denn je bereit, von ihren Forderungen abzurücken. Nach Südosseten und Abchasien, so kalkulieren beide, müsse Moskau auch Bergkarabach anerkennen. Im Gegenzug wäre Jerewan bereit, Russlands Wunsch zu erfüllen und die Unabhängigkeit der beiden abtrünnigen Provinzen Georgiens anzuerkennen. Allerdings drohte daraufhin die Gefahr, dass Georgien den Transit über Land zwischen Russland und Armenien gänzlich unterbindet. In Jerewan sieht man sich also nach dem russisch-georgischen Krieg durchaus in einer Zwickmühle. Zumal man sich der Dauerhaftigkeit russischer Unterstützung nicht sicher ist: Auf längere Sicht könnte Moskau das öl- und gasreiche Aserbaidshan als attraktiveren Partner einschätzen.

* Aus: Neues Deutschland, 4. Oktober 2008


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