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Konfliktregion Arktis? Russland setzt auf militärische Präsenz

Ein Beitrag von Björn Müller in der NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien" *

Andreas Flocken (Moderator):
Russland hat in dieser Woche mit mehreren Militärmanövern begonnen. Insge-samt sollen knapp 40.000 Soldaten beteiligt sein. Auch hoch im Norden - in der Arktis. In dieser Region hat Russland in den vergangenen Jahren seine militärische Präsenz erheblich verstärkt. Über die Motive und Hintergründe – Björn Müller:

Manuskript Björn Müller

Was Russland als seinen Teil der Arktis betrachtet, definierte schon 1926 die sowjetische Führung. Sie legte eine Art „Arktisches Dreieck“ fest. Dazu wurde von der Ostgrenze der UdSSR an der Beringsee eine Linie bis zum Nordpol gezogen. Eine zweite Linie verlief von der West-Grenze bei Norwegen zum Pol. Dazwischen liegt Russlands nördliche Küste zum Polarmeer. Vor allem in dieser Region hat Russland seit einiger Zeit seine militärischen Aktivitäten verstärkt. Der Militärexperte Dieter Stockfisch:

O-Ton Stockfisch
„Russland baut ganz gezielt die Küstenwachen auf. Es aktiviert die alten Flugplätze, die nach dem Kalten Krieg deaktiviert wurden. Es baut Radarstationen zur Kontrolle des Luftraumes auf. Es baut Stützpunkte für U-Boote und Kriegsschiffe. Und Russland wird vor allem seine arktischen Truppen weiterhin verstärken. Es baut auch entlang der Arktis militärische Unterkünfte für die Soldaten.“

Das Rückgrat der russischen Militärpräsenz in der Arktis bildet die Nordflotte – Russlands größter Flottenverband, der über die meisten Atom-U-Boote verfügt, da ihnen das Eis der Arktis Schutz gegen eine Ortung bietet. Russland baut gegenwärtig neue solcher U-Boote. Auch der von Frankreich für Russland gebaute Hubschrauberträger WLADIWOSTOK, der im Zuge der Ukraine-Krise nicht ausgeliefert wurde, ist für die russische Nordflotte vorgesehen. Welche Ziele verbergen sich hinter der russischen Aufrüstung in der Arktis? Ein Motiv liegt auf der Hand: Russland will seine Streitkräfte auf Augenhöhe mit jenen der NATO bringen. Der zurückgehaltene Hubschrauberträger ist Teil dieser Strategie. Er würde den russischen Streitkräften ermöglichen, von See aus im größeren Stil Truppen anzulanden; über diese amphibischen Fähigkeiten verfügt Russland zurzeit nur in einem sehr begrenzten Umfang. Was das Land an amphibischem Gerät wie Landungsbooten noch besitzt, stammt aus der Zeit des Kalten Krieges und ist völlig veraltet. Doch gibt es auch noch weitere Motive für die russische Militärpräsenz in der Region?

Eine in der deutschen Öffentlichkeit beliebte Interpretation: Die Russen rüsten auf, um sich in der Arktis noch unerschlossene Rohstoffquellen zu sichern. Der Arktisexperte und Referent im Verteidigungsministerium, Golo Bartsch, warnt vor dieser Sichtweise:

O-Ton Bartsch
„Sämtliche, wirklich interessanten Rohstoffgebiete für die Russen, speziell in den Schelfmeeren und der Barents- und Karasee liegen vollkommen unbestritten völkerrechtlich bereits auf russischem Gebiet. Das heißt, die Dynamik, dass in irgendeiner Art und Weise durch offensive militärische Operationen das größte Stück vom Kuchen gesichert werden müsste, ist eine relativ beliebte Vorstellung, die de facto aber nicht zutrifft.“

Es geht also nicht um neue Rohstoffe. In der Arktis militärisch präsent zu sein, hat für Russland andere Gründe. Die Arktis ist für Russland kein Hinterhof, sondern nördlicher Grenzraum und damit eine wichtige geostrategische Flanke. Der Militärexperte Dieter Stockfisch:

O-Ton Stockfisch
„Die Arktis ist für Russland eine geostrategische Zone, die es unbedingt zu sichern gilt. Hinzu kommt, dass der Weg von der Arktis in die USA der kürzeste ist. Zu Zeiten des Kalten Krieges war der Abschuss strategischer Nuklearraketen aus der Arktis in Richtung USA geplant und umgekehrt natürlich auch. Außerdem ist der arktische Raum das Ausfalltor in den Atlantik.“

Durch die Erderwärmung schmilzt das Eis der Arktis und Russlands weitläufige Nordgrenze wird immer zugänglicher. Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Arktis in rund 35 Jahren in den Sommermonaten schiffbar sein wird. Um der wachsenden Offenheit seiner Nordflanke gerecht zu werden, verstärkt Russland dort sein militärisches Engagement. Der Arktisexperte im Verteidigungsministerium Golo Bartsch, kennt die Gründe:

O-Ton Bartsch
„Man muss sich vor Augen halten, dass aufgrund der schwierigen nautischen Bedingungen und der großen Distanzen Streitkräfte die einzige Organisation sind, um grenzpolizeiliche, rettungsdienstliche Küstenwachaufgaben wahrzunehmen. Ein Großteil der Reformen der russischen Streitkräfte und auch der geänderten technischen Ausstattung, lässt sich so erklären.“

Dass Russland sein Militär in der Arktis mit der Gründung eines Arktiskommandos aufwertet hat, dient vor allem dazu, die klassische Aufgabe des Militärs, nämlich die Sicherung des Staatsgebietes, an kommende Veränderungen anzupassen. Dazu gehört eine bessere Grenzraumkontrolle durch neue Radarstationen, aber auch neue Atom-U-Boote zum Erhalt der atomaren Abschreckung. Allerdings finden auch verstärkt spektakuläre Militärmanöver in der Arktis statt. So ließ der Kreml während der Annexion der Krim in der Nähe des Nordpols zwei große Luftlandeübungen mit Fallschirmjägern durchführen. 10 Diese Muskelspiele haben einen speziellen Grund, sagt Golo Bartsch vom Berliner Verteidigungsministerium:

O-Ton Bartsch
„Hier geht es weniger darum, Aggression gegenüber dem Westen zu demonstrieren, sondern vielmehr muss man diese Zeichen verstehen als eine Show of Force, das an die russischen Bürger gerichtet ist. Man möchte klar zeigen: Wir sind hier die arktische Gestaltungsmacht. Wir lassen uns das von niemandem nehmen.“

Die Rolle der Arktis als Resonanzboden für den russischen Patriotismus kommt nicht von ungefähr. Die Erschließung der unwirtlichen Eiswüste zu Zeiten der Sowjetunion gilt in Russland bis heute als große nationale Leistung. Wie der Kampf gegen Nazideutschland ist die Arktiserschließung in der russischen Wahrnehmung Teil der historischen Größe des eigenen Landes. Die Potsdamer Arktis-Expertin Kathrin Keil:

O-Ton Keil
„Die Arktis hat für viele Russen eine starke emotionale Bedeutung. Es gibt Umfragen. Danach sehen sich viele Russen als arktisch. Sie sagen auch: wir haben eine arktische Identität. Hier tut es Not, in die Geschichte zu schauen – auf die Zeit der Explorationen, wo man ja auch die Nordwestpassage gesucht hat und die Nordostpassage. Da gibt es viele Mythen. Und es gibt ganz große Namen, die viele Leute heute noch kennen.“

Wie beliebt die Arktis als Projektionsfläche nationaler Größe in der Politik ist, zeigte erst kürzlich eine Polit-Posse zweier Duma-Abgeordneter. Die Angehörigen der Putin-Partei „Einiges Russland“ zogen los, um auf dem höchsten Gipfel der Arktis eine russische Fahne zu hissen. Es blieb allerdings beim Versuch. Denn sie blieben im ewigen Eis stecken.

In den nächsten Monaten werden die russischen Muskelspiele in der Arktis wohl weitergehen und sogar zunehmen. Schließlich ist der Kreml angesichts des Konflikts mit dem Westen bestrebt, den Patriotismus und möglicherweise auch den Nationalismus der russischen Bevölkerung zu mobilisieren. Hinzu kommt: am Polarkreis verfolgen wichtige Akteure des Ukrainekonflikts, wie Deutschland, keine vitalen Interessen. Die Region eignet sich somit für den Kreml bestens für Machtdemonstrationen. Dass dadurch weitere politische Kosten wie Sanktionen entstehen könnten, ist unwahrscheinlich. Die Arktis hat sogar Potenzial, zu einer Annäherung zwischen dem Westen und Russland beizutragen. Denn mit dem Arktischen Rat gibt es ein bewährtes Kooperationsforum. Und da im Arktischen Rat harte, sicherheitspolitische Themen nicht auf der Tagesordnung stehen, könnte dieses Gremium eine Art Türöffner für verbesserte Beziehungen zwischen Russland und dem Westen werden. Der Arktis-Experte Golo Bartsch:

O-Ton Bartsch
„Man kann sich auch vor Augen halten, dass bereits frühere krisenhafte Situationen, wie beispielsweise die russisch-westlichen Verwerfungen während der Georgienkrise, in der Arktis zu keinem signifikanten Abbruch der Beziehungen geführt haben. Es wäre daher vorstellbar, dass, wenn sich in naher Zukunft, die russisch-westlichen Verhältnisse normalisieren, dass die Arktis, bildlich gesprochen, als eine Art Eisbrecher wirken kann, da man hier auf eine sehr bewährte und langjährige Kooperation zurückgreifen kann.“

Eine optimistische Sicht. Auf einer internationalen Konferenz zu Fragen der Arktis Anfang des Jahres im norwegischen Tromsø war auffällig, dass es kaum russische Teilnehmer gab. Einer der wenigen Experten aus Russland sagte der SÜDDDEUTSCHE ZEITUNG, dass die Ukraine-Krise durchaus die Arbeit im Arktischen Rat beeinflusse. Wegen der westlichen Sanktionen hätten russische Ölfirmen Projekte aufgeben müssen. Ob die Zeichen am Nordpol letztlich auf Kooperation oder aber auf Konflikt stehen, könnte sich Ende April zeigen. Dann findet im kanadischen Iqaluit das nächste Treffen des Arktischen Rates statt.

* Aus: NDR-Sendung "Streitkräfte und Strategien" vom 21. März 2915; www.ndr.de/info


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