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"Sansal ist ein Staatsfeind"

An Algerien ging der arabische Frühling bislang vorüber – Staatsoberhaupt Abdelaziz Bouteflika, ein korrupter Machthaber, regiert munter weiter. Ein Gespräch mit Boualem Sansal *


Boualem Sansal ist einer der bedeutendsten algerischen Schriftsteller, am kommenden Sonntag (16. Okt.) erhält er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2011. Im Merlin Verlag sind sechs Romane und zwei Essaybände von ihm erschienen.


Warum ist der arabische Frühling, der in Tunesien so hoffnungsvoll begonnen hat, in Algerien gescheitert – obgleich die algerische Jugend im Februar viele Anstrengungen unternommen hatte, um den Protest auf die Straße zu tragen?

Nicht nur im Februar sind junge Leute in Algerien auf die Straße gegangen, sondern immer wieder und überall im Land gehen ständig Gruppen auf die Straße und rebellieren. Viele sind arbeitslos und sehen keinerlei Perspektive mehr. Sie sind wütend und schmeißen deshalb Steine und zertrümmern Schaufenster. Wir, Schriftsteller, Rechtsanwälte, Intellektuelle, Leute aus Gewerkschaften sowie Menschen- und Frauenrechtsorganisationen, haben versucht, mit ihnen gemeinsam friedlichen, politischen Protest auf die Beine zu stellen. Damit man nicht sagt »das sind ja nur Randalierer«, und so die Polizeiknüppel und Inhaftierungen nach außen rechtfertigt.

Auf welche Weise wurde der Widerstand in Schach gehalten?

Das Regime Bouteflikas spielt auf allen Klaviaturen. Sie schicken agents provocateurs, die selber zerstören und andere zur Gewalt anheizen. Sie schleusen ihre Leute in fortschrittliche Organisationen ein, um diese zu bespitzeln. So fällt es dem Regime leicht, Proteste zu unterdrücken. Sie wissen im vorhinein, wer wo wann rebellieren will, und wirken entgegen: Hier eine Pro-Bouteflika-Demo organisiert, dort Regierungskritiker mit Polizeigewalt niedergeschlagen oder mit Intrigen jedes Aufbegehren im Keim erstickt. Polizei und Militär sind hochgerüstet. An einem Tag im Februar sahen wir uns plötzlich mit nur 2000 Demonstranten von 35000 Polizisten umringt! Sie manipulieren einflußreiche Persönlichkeiten, beispielsweise Imame an der Spitze großer Moscheen oder Professoren und Dozenten an den Universitäten. Algerien ist durch die Erdölproduktion ein reiches Land; die Eliten sind wohlhabend. Sie verteilen Geld an die richtigen Stellen, um ihren Einfluß geltend zu machen, wenn es darauf ankommt. Sie lassen Gerüchte und Unwahrheiten in die Welt setzen, in meinem Fall etwa: »Sansal ist ein Staatsfeind, er ist mit den Kolonialisten gut Freund.« Sie säen Mißtrauen. Das hat Folgen: Geht eine Gruppe auf die Straße, und wir kennen sie nicht, könnte das eine Falle aus Regierungskreisen sein, um weitere Regierungskritiker hinter dem Ofen hervorzulocken. Anschließend provoziert man Krawalle, um sie festzunehmen. So funktioniert eine Diktatur; überall sitzen Leute, die den Unterdrückungsapparat stützen.

Sie selber opponieren offen gegen das Regime Bouteflika und gegen ranghohe Militärs, die es schützen. Sie sind Religionskritiker insbesondere des Islam und setzen sich für Frauenrechte ein. Es ist anzunehmen, daß Sie aufgrund dessen nicht wirklich gut in Algerien leben. Warum wohnen Sie trotzdem im Küstenort Bourmerdés, nahe Algier, und haben sich nicht wie andere Schriftsteller-Kollegen ins Exil nach Frankreich begeben?

Ich bleibe; sollen sie doch gehen. Ich will dieses Land verändern, in dem es viele bunte, lebendige, oppositionelle Bewegungen gibt. Ich bin der Meinung, daß uns Europa dabei nicht helfen kann, selbst wenn man es wollte. Wir müssen dies selber im eigenen Land hinkriegen. Allerdings bin ich sauer, wenn sich ausländische Regierungen einzig für den Erdölpreis interessieren, mit Bouteflika schmusen und gezielt wegschauen, wenn sein Regime Menschenrechte mit Füßen tritt.

2006 haben Sie in »einem zornigen und hoffnungsvollen Brief« an ihre Landsleute offen zur Rebellion aufgerufen und formuliert: Algerien zähle zu den »unfreien, korrumpierten, bürokratischen, desorganisierten, instabilen, gefährlichen Staaten, mit denen man keinen Umgang pflegt«. Hatte das unangenehme Folgen für Sie?

Nein, das Bouteflika-Regime selber macht sich sowieso in solchen Fällen die Hände nicht schmutzig. Dazu sind sie zu schlau. Sie sagen, Sansal ist nur ein Schriftsteller, er ist allein. Lassen wir ihn doch schimpfen und kritisieren. Nach außen wirkt das wie Demokratie. Schaut her: Er lebt hier und kann alles sagen. Es gibt ein algerisches Sprichwort: »Der Hund bellt, aber die Karawane zieht weiter.« Das ist ihre Strategie. Freilich hat man mich bereits 2003 aus dem algerischen Ministerium für Industrie und Umstrukturierung hinausgeschmissen, wo ich als hoher Beamter tätig war. Ich hatte dementsprechend wenig Geld, weil ein Schriftsteller schlecht verdient. Meine Bücher wurden verboten, kursierten aber trotzdem. Einige Buchhändler haben sie sogar absichtlich in ihre Schaufenster gestellt, um so Kunden anzuziehen. Polizisten, die daran vorbeigehen, merken das kaum– viele von ihnen lesen überhaupt keine Bücher.

Wie steht es um die Meinungs- und Pressefreiheit in Algerien?

Mit Leuten, die internationale Beziehungen zu Menschenrechtsgruppen pflegen und sich organisieren, springt das Regime anders um als mit intellektuellen Einzelgängern. Aber Oppositionelle werden nicht einfach von Polizisten oder Militärs umgelegt. Sie kommen bei einem islamistischen Überfall um oder einem Autounfall. Keiner weiß anschließend, wer es war– die Ordnungskräfte schauen tatenlos zu.

Womit wir bei Religionskritik und Ihrem Eintreten für Frauenemanzipation wären. Beides äußern Sie in einem Land, in dem Fundamentalisten auf offener Straße einer Frau gegenüber Todesdrohungen aussprechen, etwa weil sie ihre Augen nicht auf den Boden senkt. Nicht nur religiöse Fanatiker, auch der Staat ist Frauen gegenüber repressiv.
Nach Anbruch der Dunkelheit trauen sich Frauen in ländlichen Gegenden kaum mehr auf die Straße. Weil sie wissen: Würden Sie im Fall einer Belästigung oder Vergewaltigung die Polizei rufen, würde sie nicht kommen. Es hieße dann nur: »Selbst schuld, warum bleibst du nicht zu Hause«. Haben Sie wegen Ihrer freiheitlichen Einstellung Probleme?


Faschistische Gesellschaften lassen der Religion meist freien Lauf, weil ihrer beider Ziele sehr ähnlich sind. Freie Meinungsäußerung will man einschränken, ebenso wie sexuelle Freiheiten, seien es die der Homosexuellen oder Frauen, letzteren wird eine untergeordnete Stellung zugeschrieben. Diktaturen profitieren vom Terror der Islamisten, darum läßt man sie gewähren. Ständige Bedrohungen und Überfälle bringen Unruhe in die Gesellschaft und machen Menschen ängstlich. Das ist im Sinn des Regimes. Denn sie trauen sich dann nicht mehr, demokratische Rechte einzufordern. Bouteflika erinnert gern an die algerische Revolution 1988, der nach drei Jahren Demokratie ein zermürbender Bürgerkrieg folgte, mit Versuchen radikaler Islamisten, mit Gewalt an die Macht zu gelangen. »Das wollt ihr doch nicht!« – mit dieser Drohung hält das Regime Widerständige in Schach.

Begünstigt also der autoritäre Staat arabischer Prägung den Terror radikal-religiöser Kräfte?

Es ist eine gefährliche Gemengelage, wenn es in einer nachrevolutionären Zeit eine große Menge von Islamisten gibt, die den säkularen Staat ablehnen und einen Staat fordern, in der die Scharia das Recht vorgibt. Diese Gefahr herrscht in Tunesien, Ägypten, Libyen und allen anderen arabischen Staaten. Das Prinzip ist immer gleich: Die Diktaturen hatten sich des Terrors durch islamische Fundamentalisten bedient. Sie sind die einzigen, denen die Möglichkeit gegeben wurde, sich zu organisieren. Neue demokratische Protestbewegungen hingegen sind in viele kleine Parteien zersplittert und befinden sich erst im Aufbau: Kommunisten, Sozialisten und Liberale, die einen kapitalistischen Staat nach westlichem Vorbild wollen. Sie streiten miteinander, statt zunächst zusammen gegen Diktatur und religiösen Wahn vorzugehen. Tunesien steht jetzt ebenfalls genau vor diesen Problemen, wie wir sie nach unserer kurzen Phase der Demokratie hatten.

Ihr Roman »Das Dorf des Deutschen« verkettet die Geschichte islamischen Terrors mit der des deutschen Holocaust – was auf einer wahren Geschichte beruht. Ein deutscher SS-Mann ist nach dem Zweiten Weltkrieg in einem kleinen algerischen Dorf untergetaucht. Was denken Sie über die Deutschen heute?

Viele haben ihre faschistische Vergangenheit noch im Bewußtsein – was gut ist. Die Form des industriellen Völkermords in Form von systematischer Tötung von Juden und Andersdenkenden in Auschwitz und anderen Konzentrationslagern, ist einzigartig in der Weltgeschichte. Derzeit gibt es eine ökonomische Krise in Deutschland, sicherlich auch Korruption. Man drückt die Preise für Rohstoffe und Bodenschätze der armen Länder und stürzt diese somit weiter ins wirtschaftliche Elend. Deutschland ist aber demokratisch, weil es offenen Austausch mit anderen europäischen Staaten pflegt, zum Beispiel Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien.

Interview: Gitta Düperthal

* Aus: junge Welt, 13. Oktober 2011


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