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Unzulässiger Vergleich

Boualem Sansals Roman: Ein Mann zwischen Nazis und Islamisten

Von Lilian-Astrid Geese *

Wenn ich sehe, was die Islamisten bei uns und anderswo tun, dann sage ich mir, dass sie eines Tages, wenn sie an der Macht sind, selbst die Nazis übertreffen werden.« Der Autor dieser Zeilen, Boualem Sansal, wurde 1949 in Algerien geboren. Als Ingenieur arbeitete er in hoher Stellung für das Industrieministerium, bis man ihn 2003 »wegen unmuslimischen Verhaltens« aus dem Amt drängte.

Seit 1999 hat Sansal fünf Romane und zwei Essaybände veröffentlicht. In Algerien sind seine Werke verboten. Er bleibt dennoch: »Ich lebe«, so der Autor, »im eigenen Land im Exil.«

In seinem jüngsten Buch »Das Dorf des Deutschen« legt Sansal den eingangs zitierten Satz dem jungen Algerier Malek Ulrich Schiller in den Mund. Seit seinem achten Lebensjahr (1985) lebt »Malrich« in Frankreich in einem Wohnghetto der Vorstadt.

Er ist ein typisches Kind des »Banlieue«. Ohne Schulabschluss, ohne Hoffnung, ohne Zukunft kokettiert er eine Weile mit dem islamischen Fundamentalismus, bis eine zweifache Todeserfahrung den orientierungslosen jungen Mann auf eine andere Piste bringt: 1994 fallen seine Eltern einem von der islamistischen GIA im algerischen Dorf Ain Deb verübten Massaker zum Opfer. Gleichzeitig erlebt Malrich den grausamen Mord an einem Mädchen in der »Cité«. Die Täter sind fanatische Anhänger eines radikalen Imam. Die junge Frau muss sterben, weil sie sich weigert, die traditionelle Kleiderordnung zu respektieren.

Seit Erscheinen des Romans in Frankreich im vorigen Jahr wird heftig darüber gestritten, ob man die einleitend zitierte Parallele ziehen darf. Die Debatte »im Land der Täter« dürfte kaum weniger leidenschaftlich geführt werden.

Worum geht es in den beiden Tagebüchern aus den Jahren 1994 bis 1996, die Boualem Sansal zu einer Geschichte verknüpft, die heute, fünfzehn Jahre später, nicht minder aktuell ist?

Hans Schiller, geboren 1918 in Uelzen, ist Soldat der Wehrmacht, ranghoher Nazi, williges Rädchen der Tötungsmaschine in den Vernichtungslagern des Faschismus. Nach Kriegsende flieht er nach Algerien, schließt sich dem Befreiungskampf der FLN an. 1963 konvertiert er zum Islam, ändert seinen Namen, heiratet und lebt in der Ehrenposition des Sheikh im entlegenen Ain Deb, wo er schließlich eines gewaltsamen Todes stirbt.

Seinen älteren Sohn Rachid Helmut, genannt Rachel, schickte er bereits 1970 im Alter von sieben Jahren nach Frankreich. Rachel ist integriert: Karriere in einem großen Konzern, verheiratet, ein Eigenheim am Rand der Stadt. Doch die Vergangenheit des Vaters holt ihn ein, als er in dessen Nachlass ein Soldbuch findet: Dachau, Lublin, Auschwitz sind Stationen auf dem Weg des Hans Schiller. Verzweifelt bemüht, zu verstehen, liest sich der Sohn durch die Geschichte Europas zur Zeit des Dritten Reiches, bereist Deutschland und Polen, befragt Zeitzeugen. Am Ende realisiert er, dass er die Verbrechen des Vaters nicht sühnen kann und inszeniert seinen eigenen Tod.

Für Malrich, seinen Bruder, fallen dessen Selbstmord und die Erkenntnis, dass ihr Vater Nazi war, zusammen mit der muslimischen Radikalisierung seiner Umwelt. Seine Schlussfolgerung: Er muss gegen den Islam(ismus) kämpfen, denn der Imam und dessen Leute sind für ihn - »ein neuer Hitler«.

Recht subtil zeigt Sansal, wohin es führt, wenn man die Politik des Augenblicks von jeglicher historischen Reflektion ungetrübt verfolgt. Und fast naiv hoffnungsvoll scheint seine dem jungen Tagebuchschreiber in die Feder diktierte Forderung, man möge ihm und seinen Freunden, die von der Nazizeit so gar nichts wissen, Unterricht erteilen.

Der Vergleich mit der Shoa aber bleibt unzulässig. Dem Autor ist zu Gute zu halten, dass er selbst ein Verfolgter ist. Und dass es ihm sehr ernsthaft um die Warnung vor der Entstehung einer Parallelgesellschaft geht, die - verlassen vom demokratischen und laizistischen Staat Frankreich - leichte Beute für die Familienersatz bietenden Fundamentalisten ist. Sein Roman ist überdies ein einfühlsamer Versuch, das klassische Vater-Sohn-Verhältnis aufzubrechen.

Äußerlich drei sehr verschiedene Männer und Lebensentwürfe. Innerlich der Kampf, über das Verstehenwollen und Nichtverstehenkönnen eine Gemeinsamkeit zu finden. »Das Dorf des Deutschen« wirft schließlich einen anderen Blick auf die Opfer-Täter-Konstellation, die, weit über Deutschland hinaus, Familien über Generationen prägt. Dieser Blick bleibt jedoch pessimistisch, denn am Ende führt die Gewalt zu immer neuer Gewalt. Und zum Tod. Es erfordert unglaublich viel Kraft, der Tradition der französischen Existenzialisten folgend, den Versuch zu unternehmen, zu leben.

Boualem Sansal: Das Dorf des Deutschen oder Das Tagebuch der Brüder Schiller. Aus dem Französischen von Ulrich Zieger. Merlin Verlag. 360 S., geb., 22,90 .

* Aus: Neues Deutschland, 29. Juli 2009


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