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Noch drei Wochen Zeit

In Afghanistan geht der Streit um das Präsidentenamt auch nach Kerrys zweiter »erfolgreicher Vermittlung« weiter

Von Knut Mellenthin *

Bis zu ihrem Gipfeltreffen im südwalisischen Newport am 4. und 5. September wünscht die NATO Klarheit, wer der nächste afghanische Präsident sein wird. Denn die Regierenden der westlichen Allianz wollen dann endlich beschließen, mit wie vielen Soldaten sie auch nach ihrem »Truppenabzug« Ende des Jahres präsent bleiben werden. Das geht nur mit einem neuen Präsidenten, weil Amtsinhaber Hamid Karsai es abgelehnt hat, ein Besatzungsabkommen mit den USA zu unterzeichnen, das ihren Soldaten Schutz vor afghanischen Gerichten garantiert.

Am Freitag schien das Ziel schon fast zum Greifen nah, als US-Außenmister John Kerry mit den streitenden Anwärtern auf den Präsidentenposten, Abdullah Abdullah und Aschraf Ghani, in Kabul vor die Presse trat und eine Einigung verkündete. Aber schon am Sonnabend machte Ghani im Gespräch mit dem britischen Sender BBC deutlich, daß er das gerade unterschriebene Abkommen erheblich anders interpretiert als sein Gegner. Der Vorgang ist nicht durchschaubar, weil die umstrittene gemeinsame Erklärung bisher nicht veröffentlicht wurde und die Pressekonferenz am Freitag zwar endloses Geschwätz und Selbstlob, aber nur wenige konkrete Informationen lieferte.

Inzwischen liegt die erste Runde der Präsidentenwahl schon vier Monate zurück. Der frühere Außenminister Abdullah, jahrelang klarer Favorit des Westens, lag weit vor seinen Konkurrenten, verfehlte aber die erforderliche absolute Mehrheit um fünf Prozent. In der Stichwahl am 14. Juni landete jedoch unerwartet sein Gegner Ghani mit 56 Prozent auf dem ersten Platz. Das amtliche Endergebnis weist einen starken Anstieg der abgegebenen Stimmen auf, der anscheinend in erster Linie dem Paschtunen Ghani zugute gekommen ist. Wie schon im ersten Durchgang holte Abdullah, der tadschikische Wurzeln hat, im Norden des Landes die absolute Mehrheit, während Ghani den Süden gewann. Der Westen würde auch mit diesem Präsidenten voraussichtlich gut auskommen: Er war nicht nur Finanzminister, sondern hatte zuvor jahrelang für die Weltbank gearbeitet.

Aber Abdullah erhob noch während der Stimmauszählung heftige Fälschungs- und Manipulationsvorwürfe. Das hatte er auch schon bei der letzten Wahl vor fünf Jahren getan, als er gegen Karsai unterlegen war. Damals gelang es ihm mit kräftiger Unterstützung der USA, die Ansetzung einer Wiederholungswahl zu erzwingen. Die fand allerdings nicht statt, weil Abdullah kurz vor dem Termin seine Kandidatur mit der Begründung zurückzog, daß doch nur wieder ein Wahlschwindel zu erwarten sei.

Diesmal gelang es Kerry, die beiden Konkurrenten dazu zu überreden, einer Nachzählung und Prüfung aller Stimmzettel unter Aufsicht der Vereinten Nationen zuzustimmen. Ein entsprechendes Abkommen wurde am 12. Juli unterzeichnet. Es hielt aber nicht lange, weil gleich wieder Streit um die technischen Modalitäten der Nachzählung ausbrach. Auch über die praktischen Einzelheiten der unter amerikanischem Druck vereinbarten Bildung einer »Einheitsregierung« war man sich in Wirklichkeit alles andere als einig.

Ob der am Freitag unterschriebenen gemeinsamen Erklärung ein besseres Schicksal beschieden sein wird, bleibt abzuwarten. Kerrys Spruch, es gehe bei der Nachzählung der Stimmen nicht um Gewinnen oder Verlieren, sondern um ein glaubwürdiges Ergebnis, erinnert eher an das Motto der Olympischen Spiele als an reale Politik.

Bisherigen Pressemeldungen zufolge unterscheidet sich das neue Abkommen kaum vom alten: Es sieht die Schaffung des Amts eines Regierungschefs vor, das dem Verlierer der Wahl, so er denn irgendwann ermittelt werden kann, zufallen soll. Er soll auch erheblichen Einfluß auf die Besetzung der Ministerposten bekommen.

Bis zum NATO-Gipfel sind noch gut drei Wochen Zeit. Der Countdown hat begonnen. Unterdessen zeigten die Taliban am Sonntag in der Hauptstadt mit dem Angriff auf einen NATO-Konvoi Präsenz. In ersten Meldungen war von vier getöteten Zivilisten, aber nicht von militärischen Verlusten die Rede.

* Aus: junge Welt, Montag 11. August 2014


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