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Dreierrennen um die Präsidentennachfolge

Die Amtszeit Hamid Karsais endet, seine politische Ära aller Voraussicht nach nicht

Von Thomas Ruttig *

Nach mehr als zwölf Jahren wird am Sonnabend ein Nachfolger für Afghanistans scheidenden Präsidenten Karsai gewählt. Die zweite Amtsperiode des Paschtunen aus dem Süden endet am 22. Mai.

Laut Verfassung darf Hamid Karsai nicht wieder antreten, denn der 56-Jährige saß schon zwei Übergangsregierungen vor, die das Ergebnis der Afghanistan-Konferenz auf dem Bonner Petersberg 2001 waren. Über heftige Unregelmäßigkeiten bei den folgenden Wahlen wurde stets der Mantel des Schweigens gedeckt. Zum ersten Mal in Afghanistans Geschichte überhaupt scheidet nun aber ein Staatsoberhaupt freiwillig und friedlich aus dem Amt und wird durch Wahlen ersetzt.

Ursprünglich 27 Kandidaten wollten Karsai beerben, darunter nur eine – vorher politisch nicht in Erscheinung getretene – Frau. Sie gehörte aber zu den 16 Personen, die wegen Mängeln in den Bewerbungsunterlagen disqualifiziert wurden. Auch der einzige Vertreter einer demokratischen Partei, Salman Ali Dostzada von der Arbeits- und Entwicklungspartei, fiel durch. Von den übrigen elf Bewerbern warfen drei mittlerweile das Handtuch. Der prominenteste darunter ist Qayyum Karsai, ein älterer Bruder Hamid Karsais. Er unterstützt jetzt den ehemaligen Außenminister Zalmai Rassul, der auch als Favorit des jetzigen Präsidenten gilt. Antreten wird erneut auch Abdullah Abdullah, der ebenfalls – bis 2005 – Außenminister war. Neben Rassul und Abdullah, beide Mediziner, ist ein weiterer Promovierter der Dritte im Favoritentrio: Aschraf Ghani Ahmadzai. Er war Finanzminister unter Karsai, kandidierte 2009 schon einmal, kam aber nur auf drei Prozent der Stimmen.

Zwei weitere Warlords dürften es schwer haben, die zweite Wahlrunde am 28. Mai zu erreichen, mit der allgemein gerechnet wird: der Wahhabit Abdul Rabb Rassul Sayyaf und Gul Agha Sherzai, ein Rivale der Karsais, der wie sie aus der Provinz Kandahar stammt. Ihre Stimmenanteile sowie das Dreierrennen an der Spitze dürften jedoch dafür sorgen, dass es im ersten Wahlgang keinen Sieger geben wird.

Aber die Wahl wird nicht nur durch die Wähler entschieden, sondern auch von den Menschen, die auszählen und die Wahlinstitutionen kontrollieren – nämlich der bisherige Präsident und seine Allianz. Ohnehin endet die Ära Karsai nicht mit der Wahl am 5. April. Der Amtsinhaber hinterlässt seinem Nachfolger ein Patronage-Netzwerk, von dem er abhängig sein wird. Im Zentrum steht Karsais Hausmacht um die alte Paschtunenhauptstadt Kandahar: Da sind die Milizen, die eng mit US-Spezialeinheiten und der CIA kooperieren, und die wirtschaftlichen, zum Teil mafiösen Aktivitäten unter der Kontrolle seiner Brüder und anderer Verbündeter. Karsai hat es sogar geschafft, die oppositionellen Mudschahedin-Gruppen zu spalten und einige ihrer Führer einzubinden.

Dieses auf Patronage beruhende Machtgeflecht verhindert, dass Karsai eines der Grundübel im Nach-Taliban-Afghanistan bekämpfen konnte: eine von den Milliarden an Wiederaufbauhilfe gespeiste Korruption. Und es sichert ihm eine einflussreiche Position nach dem Ende seiner Präsidentschaft. Karsai selbst plant, weiter am Kabinettstisch zu sitzen, »nicht oben, aber an der Seite«. Vielleicht wird es auch einen neuen Präsidentschaftsrat geben, mit Karsai als grauer Eminenz an der Spitze. Auch die ambivalente afghanische Verfassung gehört zu seinem Erbe. Sie enthält einerseits das Bekenntnis zu internationalen Werten wie den Menschenrechten und der Geschlechtergleichheit, zugleich darf kein Gesetz dem Islam widersprechen. Das öffnet einflussreichen islamistischen Kräften die Hintertür, Rechte und Freiheiten immer wieder in Frage zu stellen. Angesichts der erdrückenden Präsenz islamistischer Warlords unter den Bewerbern, ihres gewachsenen Einflusses sowie des schwindenden internationalen Interesses an Afghanistan dürften die Islamisten nach 2014 leichteres Spiel haben, ihre Staatsvorstellungen durchzusetzen. Eine politische Regelung mit den Taliban würde diesen Trend sogar noch verstärken.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 4. April 2014


"Wir werden einen langen Atem brauchen"

Malalai Joya über die Wahlen in Afghanistan, das Abkommen mit den USA und die Chancen progressiver Kräfte **

Malalai Joya, geboren 1978, wurde 2005 als jüngste Politikerin Afghanistans in die Nationalversammlung gewählt. Als Flüchtling in Iran und in Pakistan aufgewachsen, wurde sie nach ihrer Rückkehr nach Afghanistan zur scharfen Gegnerin von Taliban und Warlords. Mit ihr sprach anlässlich einer Konferenz in Berlin Harald Neuber.

Frau Joya, in Afghanistan wird derzeit der Abzug der westlichen Besatzungstruppen vorbereitet. Jetzt finden Präsidentschaftswahlen statt. Das sind doch gute Nachrichten, oder?

Nein, leider kann ich Ihnen aus meinem Land keine guten Nachrichten bringen. Denn Tatsache ist, dass die alten Herrscher nach wie vor an der Macht sind. Es sind die gleichen alten Machthaber, die Blut an ihren Händen haben und nun sogar mit den Taliban verhandeln. Es stimmt, dass die Besatzungstruppen nun abgezogen werden sollen. Aber die Lage in Afghanistan ist sehr schlecht: die sozialen Probleme, Arbeitslosigkeit und Korruption, dazu tödliche Anschläge der Taliban. Wie kann man da von einem Fortschritt sprechen?

Was erhoffen Sie sich also von der Wahl eines Nachfolgers von Präsident Hamid Karsai?

Sehen Sie, es ist weniger eine freie Wahl als eine Auswahl aus Kandidaten der Warlords und Drogenhändler. Es wird acht Kandidaten geben, und alle haben Blut an ihren Händen. Etwa Abdullah Abdullah oder Ustad Abdul Rab Rasul Sayyaf.

Vor allem aber sind sie für die US-Regierung Garanten dafür, dass die Besatzungspolitik indirekt weitergeführt wird. Sie wollen, dass Karsai geht, um einen neuen Karsai zu installieren. Das ist der Grund, weshalb die demokratischen Parteien diese Präsidentenwahl boykottieren.

Mit den USA soll nach dem weitgehenden Abzug der Besatzungstruppen ein sogenanntes Sicherheitsabkommen geschlossen werden. Was halten Sie davon?

Ganz klar: Dieses Abkommen wird Afghanistan und seine Menschen in Sklaverei halten. Das Sicherheitsabkommen soll die militärisch-politische Dominanz der USA und der NATO in Afghanistan sichern. Dem Abkommen zufolge sollen in meinem Land neun US-amerikanische Militärstützpunkte eingerichtet werden. Zugleich soll US-Soldaten Immunität vor dem Gesetz zugesichert werden. Dabei haben wir schon jetzt zahlreiche Menschenrechtsverbrechen der Besatzungstruppen dokumentiert und angeklagt. Die USA unterhalten in mehr als 100 Staaten der Erde Militärbasen. Überall dort hat die Truppenpräsenz negative Folgen gehabt und den Menschen nicht selten schweres Leid beschert.

Sie setzen keine Hoffnungen in den bevorstehenden Truppenabzug?

Seit Beginn der Besatzungspolitik gilt: Der sogenannte Krieg gegen den Terrorismus ist eine allgemeingültige Ausrede für jede Art von Repression und Dominanzpolitik geworden. Von Beginn an ging es darum, die Interessen der USA durchzusetzen. Deswegen wird den Menschen mit diesem Truppenabzug Sand in die Augen gestreut. Der Plan sieht doch so aus: In Afghanistan soll ein Marionettenregime eingesetzt werden, um dank gezielter und reduzierter Truppenpräsenz die Kontrolle zu behalten. Die Unterdrücker werden in dieses System eingebunden. Der Warlord Gulbuddin Hekmatyar, in den 90er Jahren zweimal Ministerpräsident, kehrt nun in die Politik zurück, und mit den Taliban wird wieder verhandelt.

Aber auch mit den Taliban muss doch eine politische Lösung gefunden werden, oder?

Ich bin nicht grundsätzlich gegen solche Verhandlungen. Die Voraussetzung aber müsste sein, dass es eine demokratisch legitimierte Führung gibt. Wir haben in Afghanistan jedoch ein kriminelles Mafiaregime. Und wenn ein solches Mafiaregime mit den Taliban verhandelt, was soll da herauskommen?

Welche Alternativen sehen Sie?

Ich habe auch hier in Deutschland dafür geworben, demokratische Kräfte in Afghanistan zu unterstützen. Die Zukunft Afghanistans liegt etwa in der Frauen- und Menschenrechtsbewegung. Die deutsche Regierung ist dieser Bitte bislang nicht nachgekommen. Solange sich da aber nichts ändert, wird die politische und militärische Hilfe des Westens die entscheidende Stütze für die herrschenden Kriegsherren sein.

Gibt es außerhalb des Parlaments eine Alternative?

Wir demokratischen Akteure werden einen langen Atem brauchen. Uns stehen die kriminellen Machthaber, die USA und die Interessen der Nachbarstaaten gegenüber. Aber es gibt Hoffnung. Je stärker die Unterdrückung wird, desto stärker wird der Widerstand. Die Solidaritätspartei, der ich nun nahestehe, hat unlängst eine Demonstration mit 2000 Teilnehmern organisiert. Es gibt Bewegungen, es gibt aber auch viel Gewalt. Wir werden weiter vorsichtig sein müssen.

** Aus: neues deutschland, Freitag, 4. April 2014


Worum geht es in Afghanistan?

Roland Etzel zu den Wahlen ***

Der Wahltag in Afghanistan wird ein wichtiger politischer Indikator sein. Darin sind sich fast alle Beobachter einig. Die Übereinstimmung endet, wenn man nach den Kriterien fragt. Die westlichen Paten dieser Wahl flüchten sich bei der Beantwortung in wolkige Nichtigkeiten. Ja, selbstverständlich wünscht man einen Wahlgang frei von sichtbarer wie unsichtbarer Pression, so wie in jedem anderen Land bei jeder anderen Wahl auch.

Für Afghanistan reicht das nicht – wenn man nicht wenigstens dazu sagt, wie viele Menschen vermutlich an der Wahlteilnahme gehindert wurden. Dasselbe gilt für potenzielle Kandidaten, nicht zuletzt Kandidatinnen. Die Bilanz dürfte für letztere schlechter als bei der vergangenen Wahl 2009 ausfallen. Das weiß man hierzulande ebenso gut wie in Washington – und beschweigt es. Denn man müsste sonst sagen, warum man dazu nicht unwesentlich beigetragen hat: Indem man etwa die siegreichen Banditenchefs nicht nur zu regionalen Verbündeten beförderte, sondern sie ohne Not und, ohne auch nur sanften Druck auf sie auszuüben, am Endpunkt der reichlich fließenden Hilfsgelder Platz nehmen ließ. Das wird wohl auch nach dieser Wahl so bleiben.

Schließlich die Taliban. Nach unsteter Ein- und Wiederausladungspolitik zu Verhandlungen durch den Westen sind sie nun, da auch nicht über Umwege auf dem Kandidatenzettel, wieder die Oberbösen. Die Fortdauer des Grundkonflikts im Lande ist damit, unabhängig vom Wahlergebnis, programmiert.

*** Aus: neues deutschland, Freitag, 4. April 2014 (Kommentar)


Bundeswehr ist Wahlhelfer »in Grenzen«

»Angesichts der afghanischen Eigenverantwortung hält sich die Unterstützungsleistung für die Wahlen deutlich in Grenzen«, geben die deutschen Streitkräfte an. Zudem erfolge Unterstützung »nur auf Anforderung im Rahmen der eigenen Möglichkeiten« der Bundeswehr. Derzeit sind in den neun nordafghanischen Provinzen, in denen die Bundeswehr das Kommando über die Kampftruppen der internationalen ISAF-Mission hat, etwa 5100 ausländische Soldaten aus 17 Staaten stationiert, mehr als die Hälfte davon aus Deutschland. Gemeinsam mit knapp 39 000 afghanischen Soldaten und Polizisten stehen sie nach Bundeswehrangaben »zur Absicherung der Wahl bereit«. Sicherheitskonzepte zum Schutz der Abstimmung wurden aber von afghanischer Seite »eigenständig« geplant und sollen von ihr auch umgesetzt werden. Im Ernstfall könne sie jedoch auf die ISAF zählen, auch wenn die sich generell im Hintergrund halten will.

Der deutsche Generalmajor Bernd Schütt, der im Norden das ISAF-Kommando führt, bezeichnet die Arbeit der afghanischen Kollegen als »professionell«. Neben dem »Kernauftrag der Ausbildung und Beratung der afghanischen Sicherheitskräfte sowie dem routinemäßigen Abgleich der Sicherheitslage und dem Austausch von Verbindungsoffizieren« sollen die ausländischen Kontingente die Fähigkeiten der afghanischen Partner vor allem in den Bereichen Aufklärung, Luftbeweglichkeit und medizinische Versorgung verstärken.




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