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Gorillas im Nebel

Medien und Politiker geben die Zahl der in Afghanistan stationierten ausländischen Soldaten viel zu niedrig an. Auch die Sprachregelung der Mission ohne Kampfauftrag ist irreführend

Von Knut Mellenthin *

Die Zahl der zivilen Opfer des Krieges in Afghanistan ist 2014 gegenüber dem Vorjahr um 22 Prozent gestiegen. Hauptgrund dafür ist die Zunahme der Bodengefechte, bei denen weitreichende Waffen wie Mörser, Artillerie und Raketen nicht sehr zielgenau eingesetzt werden. In der Vergangenheit waren Minen und andere im Boden vergrabene Sprengkörper die Hauptursache für Verletzungen und Tod von Zivilpersonen gewesen. Das ergibt sich aus dem am Mittwoch veröffentlichten Bericht der UN-Mission in Afghanistan, UNAMA. Danach wurden im vergangenen Jahr 3.699 Zivilisten getötet und 6.849 weitere verletzt. Der Bericht schreibt zwar, wie in früheren Jahren, die meisten zivilen Opfer den Aufständischen zu, verzeichnet aber für die Zahl der Zivilpersonen, die durch Operationen der Regierungsstreitkräfte verletzt oder getötet wurden, einen außerordentlich hohen Anstieg um 141 Prozent gegenüber 2013.

Seit Jahresanfang ist in Afghanistan anstelle der im Dezember 2001 gegründeten ISAF eine neue internationale Truppe unter dem Namen »Resolute Support« (Entschiedene Unterstützung) tätig. Wahrheitswidrig wird sie in der Sprachregelung des Mainstream als »non-combat mission« bezeichnet, also als Mission, die keinen Kampfauftrag hat. In Wirklichkeit gilt das zumindest für mehr als die Hälfte der an diesem Einsatz beteiligten Soldaten nicht.

Generell liegt über der neuen Interventionstruppe viel mehr Nebel als über ihrer Vorgängerin. Außer der Angabe, dass alle 28 NATO-Staaten und 14 weitere »Partner« an »Resolute Support« beteiligt seien, erfährt die Öffentlichkeit nicht viel. Das beginnt schon bei der Zahl der Militärangehörigen, die an diesem zunächst bis Ende 2016 befristeten Einsatz teilnehmen. Während man die entsprechenden Fakten für die ISAF stets leicht und annähernd genau im Internet finden konnte, wird man auf der Website der Nachfolgemission mit der vagen Information »ungefähr 12.000« abgespeist. So steht es zumeist auch in den Medien des Mainstream. Journalisten, die etwas mehr wagen, schreiben manchmal »rund 12.500« oder höchstens »13.000«.

Dass diese Zahlen falsch sein müssen, liegt auf der Hand. Allein die US-Streitkräfte sind in Afghanistan nach offiziellen Angaben mit 10.600 bis 10.800 Männern und Frauen vertreten. Die Bundeswehr darf laut Parlamentsbeschluss mit bis zu 850 Angehörigen an der Mission teilnehmen. Ihrer Website zufolge befanden sich Anfang Februar 808 deutsche Soldaten in Afghanistan. Die Stärke US-amerikanischer und deutscher Truppen im Rahmen von »Resolute Support« liegt also bei 11.400 bis 11.600. Demnach blieben, wenn die im Mainstream gehandelten Zahlen stimmen würden, höchstens 1.600 Personen für die anderen 40 Staaten, die an der Mission beteiligt sind.

Man kann jedoch versuchen, die realen Zahlen im Internet anhand der Medien einzelner Staaten zu ermitteln. Eine solche Rechnung ergibt auf Basis von 18 der insgesamt 42 beteiligten Länder eine Summe von rund 17.000 Soldaten. Vollständig ist diese Rechnung nicht, aber sie enthält vermutlich die wichtigsten truppenstellenden Staaten. Darunter sind Italien mit 1.300, die Türkei mit 1.100, Georgien als wichtigstes Land außerhalb der NATO mit 750, Rumänien mit 650, Großbritannien mit 470 und Australien mit 400 Männern und Frauen. Insgesamt ist die Personalstärke von »Resolute Support« mit über 18.000 anzunehmen. Das sind 6.000 mehr als die Standardzahl.

Es handelt sich auch keineswegs um eine »non-combat mission«. Das ergibt sich schon daraus, dass das US-amerikanische Kontingent, das mehrheitlich aus Angehörigen verschiedener Spezialeinheiten besteht, einen offensiven Kampfauftrag hat. Die Truppen mehrerer anderer Nationen, so die Georgier und die Rumänen, sind zudem hauptsächlich stationär für den Schutz von Stützpunkten und mobil als schnelle Eingreiftruppe für die Unterstützung anderer Verbände abgestellt.

* Aus: junge Welt, Freitag, 20. Februar 2015


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