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"Wir haben nichts zur Klärung beigetragen"

Truppenabzug aus Afghanistan: Profitieren werden die Taliban sowie die großen Gauner. Ein Gespräch mit Fabio Mini *


Generalleutnant a.D. Fabio Mini war Direktor der Führungsakademie des italienischen Heeres, Generalstabschef der NATO-Streitkräfte in Südeuropa und 2002 / 2003 KFOR-Kommandeur im Kosovo. Heute arbeitet er als Autor und Militärexperte für renommierte Zeitschriften wie LiMes, Rivista Militare etc.


Was ist das für ein Afghanistan, das sich anschickt, einen neuen Präsidenten zu wählen?

Ein sehr konfuses Afghanistan. Und wir, die wir seit mehr als zehn Jahren dort sind, haben gewiß nicht dazu beigetragen, die Situation zu klären. Vor allem leiten die politischen Kräfte eine Revision der nationalen politisch-institutionellen Ordnung ein, die von den USA beschlossen und durchgesetzt wurde. Die neue politische Gestalt des Landes wird also sehr von den Auswirkungen des Rückzugs der NATO und der USA abhängen.

Ist dieser Abzug, der im Laufe des Jahres abgeschlossen sein soll, für die Afghanen eine Befreiung?

Das ist sicherlich eine Befreiung, allerdings im entgegengesetzten Sinne dessen, was wir wollten. Heute sind alle politischen Kräfte – von den gemäßigten bis zu den extremistischsten – der Ansicht, daß sie nach dem Abzug der Militärkontingente eine neue Chance haben, auch die zentrale Macht zu erobern. Daher nützt der Abzug auch allen großen Gaunern, die entweder weiter in aller Ruhe ihre Geschäfte gemacht oder auf diesen Augenblick gewartet haben, um sich eine neue Legitimität zu verschaffen.

Zumindest formell besiegeln diese Wahlen auch das Ende der Ära von Hamid Karsai.

Das war die Ära der Amerikaner. Und sie ist mit dem Abtreten beider von der Bühne nicht beendet. Karsai hatte nicht einmal Skrupel, seine amerikanischen Beschützer zu beschuldigen, sie hätten ihn im Stich gelassen und verraten. Ich weiß nicht, was er persönlich erwartet hatte – in den zehn Jahren an der Macht hat er nicht eine eigenständige Entscheidung getroffen und vor allem keinen innenpolitischen Konsens zur Unterstützung des eigenen Handelns geschaffen. Ein amerikanischer Kollege sagte mir vor sieben Jahren, daß es in Afghanistan keine Alternativen zu Karsai gegeben habe. Ich erlaubte mir einzuwenden, daß man auch keine Strategie haben könne, wenn es keine Alternative gebe.

Welche Ziele können in diesem Szenario die Taliban haben?

Die Taliban werden vor allem versuchen, die Kontrolle des Territoriums zu reorganisieren. Da keine gemäßigten und keine westlich orientierten Taliban existieren, hat sich nicht einmal Obama getraut, die Bezeichnung »islamisch« aus dem Namen der Afghanischen Republik zu streichen. Die Führung der Taliban ist nur auf der Suche nach Rache und der Durchsetzung der islamischen Werte. Die Gefahr betrifft nicht nur Afghanistan, sondern vor allem Pakistan, das sich nun mit einem neuen Taliban-Staat konfrontiert sieht. Oder vielleicht mit zehn verschiedenen Staaten, denn so viele Provinzen kontrollieren sie heute.

In zwölf Jahren Krieg, den die USA und die NATO geführt haben, ist es nicht gelungen, diese Aufständischen in die Knie zu zwingen.

2014 ist auch das Jahr des Endes der italienischen Präsenz in Afghanistan. Welche Bilanz ziehen Sie?

Das hängt davon ab, für wen – für uns Italiener als Bürger oder als Soldaten? Für die Nation halten sich, sagen wir mal, die positiven und negativen Aspekte die Waage. Positiv ist, daß wir der Welt gezeigt haben, daß wir den Tragödien der Völker gegenüber nicht gleichgültig sind. Negativ ist, daß wir der Welt demonstriert haben, daß uns auch die amerikanischen Interessen nicht egal sind, daß wir sie immer vor unsere eigenen gestellt haben – egal, ob es um unsere nationalen Interessen oder die Europas ging. Vom militärischen Standpunkt aus gesehen hatten wir zehn Jahre Zeit zu begreifen, daß solche »humanitären« Operationen ohne Krieg nicht zu machen sind.
Interview: Umberto De Giovannangeli

Übersetzung: Andreas Schuchardt.

Dieses Interview erschien zuerst in der italienischen Tageszeitung l’Unità vom 5. April 2014.


* Aus: junge Welt, Samstag, 12. April 2014


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