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Streit in Kabul

Angeblich unterlegener Präsidentschaftskandidat droht mit Bildung einer Gegenregierung

Von Knut Mellenthin *

In Afghanistan scheint ein wochenlanger Machtkampf um das Präsidentenamt bevorzustehen. Am Montag gab die zentrale Wahlkommission das vorläufige Ergebnis der Stichwahl vom 14. Juni bekannt. Danach läge Ashraf Ghani völlig überraschend mit 56,44 Prozent vor dem hochfavorisierten Abdullah Abdullah, auf den 43,56 Prozent der Stimmen entfallen sein sollen (jW berichtete). Abdullah behauptete daraufhin, dieses Ergebnis beruhe auf umfangreichen Fälschungen und erklärte sich vor Tausenden seiner Anhänger zum »zweifelsfreien« Wahlsieger. Im ersten Überschwang hatte er sogar mit der Bildung einer Gegenregierung gedroht. Scharfe Warnungen aus Washington veranlaßten ihn jedoch zum vorsichtigen Zurückrudern. Dafür wurde er von vielen seiner Anhänger niedergeschrien und ausgepfiffen, als er sie um etwas Bedenkzeit bat.

Die Stichwahl war erforderlich geworden, weil im ersten Durchgang am 5. April keiner der acht Kandidaten die absolute Mehrheit erreicht hatte. Abdullah lag damals mit 45 Prozent weit vor Ghani, für den nur 31,56 Prozent gestimmt hatten. Insgesamt ergab sich schon das gleiche Bild wie bei der Stichwahl: Der Tadschike Abdullah gewann die Wahl in fast allen Provinzen der nördlichen Hälfte Afghanistan, während der Paschtune Ghani in der ganzen Südhälfte führte.

Entscheidend für Ghanis Sieg in der Stichwahl war, falls die Angaben der zentralen Wahlkommission zutreffen, daß am 14. Juni fast acht Millionen Menschen ihre Stimme abgaben, während es im April nur 6,6 Millionen gewesen waren. Vor allem damit begründet Abdullah seine Fälschungsvorwürfe. In Wirklichkeit, so behauptet er, hätten sich nur zwischen knapp fünf und maximal sechs Millionen an der Stichwahl beteiligt.

Verhandlungen zwischen den beiden Kandidaten über eine Nachprüfung des Wahlergebnisses hatten schon kurz nach dem 14. Juni begonnen. Es schien sich sogar eine Einigung abzuzeichnen, nachdem Ghani öffentlich zugestimmt hatte, die Stimmen in 7100 Wahllokalen neu auszuzählen und Beschwerden über den Ablauf nachzugehen. Davon betroffen wären rund drei Millionen Stimmen. In diese Lage platzte am Montag als Provokation die Bekanntmachung des vorläufigen Ergebnisses. Nicht nur Abdullah, sondern auch die US-Regierung hatte sich dringend dafür eingesetzt, diesen Schritt zu verhindern. Da die Wahlkommission selbst davon ausgeht, daß das amtliche Endergebnis erst am 22. Juli festgestellt werden kann und daß bis dahin Tausende Wahllokale überprüft werden müssen, ist unklar, welcher Teufel sie geritten hat, schon am Montag an die Öffentlichkeit zu gehen.

Die US-Regierung unterstützt zwar die Untersuchung des Wahlergebnisses, hat aber Abdullah in äußerst scharfer Form vor »gewalttätigen oder nicht verfassungsmäßigen« Aktionen gewarnt: In diesem Fall könne Afghanistan nicht mehr mit US-amerikanischen Hilfsgeldern rechnen, von denen es existentiell abhängig ist. Außenminister John Kerry wird am Freitag nach Kabul kommen, um beide Konkurrenten unter Druck zu setzen. Washington will die Bildung einer »Regierung der nationalen Einheit« erzwingen, die »alle relevanten Parteien und wichtigen Gruppen innerhalb Afghanistans« einschließen müsse, »so daß sich niemand ausgeschlossen fühlt«. Mit Ausnahme der Taliban, muß man wohl ergänzen.

Die USA, die in der Vergangenheit Abdullah unterstützten, könnten auch mit einem Präsidenten Ghani gut auskommen. Der jetzt 65jährige hat seit Ende der 1970er Jahre bis zur Besetzung Pakistans durch die NATO im Oktober 2001 in den Vereinigten Staaten gelebt und als Dozent an angesehenen Universitäten gearbeitet. Der ersten Regierung unter Hamid Karsai gehörte er von Juli 2002 bis Dezember 2004 als Finanzminister an. Seine US-amerikanische Staatsbürgerschaft gab Ghani erst 2009 auf, als er sich zum ersten Mal um das Präsidentenamt bewarb.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 10. Juli 2014


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