Wer den Tod liebt
Gezielte Tötungen in Afghanistan
Von Arnold Schölzel *
Im Jahr 2004 befragte der Spiegel den damaligen Bundesinnenminister
Otto Schily zur Praxis der »gezielten Tötungen« durch US-Spezialkräfte
in Afghanistan. Der wand sich zunächst, sagte etwas von »rechtlicher
Grauzone«, rang sich aber dann zu dem einigermaßen klaren Eingeständnis
durch: »Wer den Tod liebt, kann ihn haben.« So klang es, wenn Vertreter
der SPD und der Grünen, die wegen des »Verteidigungsfalls«, der in den
USA am 11. September 2001 angeblich eingetreten war, über das sprachen,
was sie in »uneingeschränkter Solidarität« (Bundeskanzler Gerhard
Schröder) mit angezettelt hatten: Einen Krieg gegen ein Land, aus dem
die Attentäter von New York nicht kamen.
Sechs Jahre nach dem Schily-Interview hat der Feldzug das erbracht, was
seine Gegner von Anfang an als sein Ergebnis vorhergesagt hatten:
Ungezählte Opfer unter der afghanischen Zivilbevölkerung, keine
Unterbindung terroristischer Aktivitäten, statt dessen ein Konglomerat
von korrupter Marionettenregierung, Drogenbaronen, Bürgerkriegsparteien
und Warlords. Die Karre ist im Dreck, nur die US-Spezialeinheiten gehen
unermüdlich und zumeist der öffentlichen Aufmerksamkeit entzogen ihrer
»Arbeit« nach: Killen sogenannter Taliban. Das sind offenbar alle, die
den Besatzungstruppen irgendwie in die Quere kommen. »Kollateralschäden«
unter Zivilisten sind inbegriffen.
Über diese High-Tech-Barbarentruppe, die den Tod liebt, wurde in den
offiziösen Kreisen des neuen Deutschland, in Politik und Kriegsmedien
bislang à la Schily gesprochen. Dem Bundesvolk, an Mythen wie
»Verteidigung«, »Demokratie« und »Rechtsstaat« gewöhnt, durften die
konkreten Umstände der »Landesverteidigung am Hindukusch« offenbar nur
langsam beigebracht werden. Das ist seit Mittwoch anders. Der
Kriegsminister wußte schon am Dienstag, kurz nachdem die Geheimdokumente
aus dem Pentagon an die Öffentlichkeit gelangt waren, daß alles bekannt
sei, also auch die »gezielten Tötungen«. Sein Sprecher schob am
folgenden Tag die Dreistigkeit nach, sie seien mit dem Völkerrecht
vereinbar. Die Vokabel selbst ist ein Propagandaeuphemismus, denn - und
das ist tatsächlich nicht neu - die nun ans Licht gekommenen Berichte
besagen, wie »gezielt« die Herrschaften Spezialisten arbeiten. Sie
hinterlassen eine Blutspur Hunderter, wenn nicht Tausender getöteter
Unbeteiligter. Die Verhältnismäßigkeit des Vorgehens spielt von
vornherein keine Rolle, das Völkerrecht ohnehin nicht. Wozu Genfer
Konvention, wozu Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966,
die Hinrichtungen ohne rechtskräftiges Urteil verbieten? Wenn sich Grüne
und SPD nun von dem, was sie seit 2001 Jahr für Jahr durch die
Mandatsverlängerung für die Bundeswehr mit befördert haben,
distanzieren, heißt das lediglich: Sie lieben das Killen nur, solange es
andere besorgen. Das unterscheidet die Exregierungsparteien von der Task
Force 373.
* Aus: junge Welt, 29. Juli 2010
Liefert Bundeswehr Informationen für gezielte Tötungen in
Afghanistan?
Verteidigungsministerium schließt aktive Beteiligung an
Spezialoperationen gegen Taliban aus **
Deutschland beteiligt sich nach Angaben des Verteidigungsministeriums
nicht an gezielten Tötungen führender Taliban in Afghanistan.
Der Sprecher des Verteidigungsministeriums, Christian Dienst, sagte am
Mittwoch in Berlin, deutsche Soldaten würden zwar beim Erstellen von
NATO-Fahndungslisten helfen, sie schrieben aber Personen nur zur
Gefangennahme aus. Im Sinne dieser Selbstbeschränkung seien auch die
deutschen Spezialkräfte in Afghanistan unterwegs. Bei Festnahmen, die
von Kämpfen begleitet würden, könne es aber dazu kommen, dass
Aufständische durch deutsche Kräfte getötet würden.
Im Internet waren kürzlich rund 90 000 überwiegend geheime US- Dokumente
veröffentlicht worden. Sie enthalten auch Informationen über die US-Task
Force 373, der im Einzelfall die gezielte Tötung von Taliban erlaubt
sein soll. Regierungssprecher Ulrich Wilhelm und Ministeriumssprecher
Dienst erklärten, der Einsatz tödlicher Gewalt sei nach dem Völkerrecht
und dem Regelwerk für den ISAF-Einsatz zulässig, wenn unter anderem
angemessen Rücksicht auf Zivilisten genommen werde. Die US-Task-Force
373 ist im deutschen Lager in Masar-i-Scharif und damit im deutschen
Zuständigkeitsgebiet des ISAF-Einsatzes stationiert.
Dienst sagte, die Amerikaner informierten den deutschen Befehlshaber in
Masar-i-Scharif über anstehende Operationen. Sie seien aber nicht
verpflichtet, über die Inhalte und Ergebnisse der Einsätze ihrer
Spezialkräfte zu berichten. Nach den Worten von Dienst liefert die
Bundeswehr Informationen zu, die in ISAF-Operationen - möglicherweise
mit gezielten Tötungsabsichten - münden können. An wie vielen
Operationen gegen Taliban deutsche Spezialkräfte in jüngster Zeit
beteiligt waren und wie viele Tote es dabei unter Aufständischen gab,
wollte Dienst nicht sagen.
Die SPD will unterdessen ihre Zustimmung zur Verlängerung des
Afghanistan-Mandats davon abhängig machen, wie umfassend die Regierung
die neuen Details aus den veröffentlichten Geheimakten aufklärt. Dies
kündigte der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Rolf
Mützenich, an. Die SPD werde die Regierung »in den Ausschüssen intensiv
befragen und mit den Informationen konfrontieren«. Auch die Vorsitzende
der LINKEN, Gesine Lötzsch, hält eine Überprüfung und Neuabstimmung der
Afghanistan-Mandate der Bundeswehr für notwendig. »Es wird immer klarer,
dass in Afghanistan Krieg herrscht, wie wir es von Anfang an gesagt
haben«, erklärte sie.
** Aus: Neues Deutschland, 29. Juli 2010
Mord erwünscht
Von Arnold Schölzel ***
Die Bundesregierung nimmt in Kauf, daß von ihr benannte Personen, die
als mutmaßliche Terroristen bezeichnet werden, in Afghanistan von
Spezialeinheiten anderer Staaten ermordet werden. Wenn man der
Verdächtigen nicht anders habhaft werden könne, sei im Rahmen der
Verhältnismäßigkeit »auch die gezielte Tötung im Einklang mit dem
Völkerrecht«, behauptete der Sprecher des
Bundesverteidigungsministeriums, Christian Dienst, am Mittwoch in
Berlin. »Und so handeln auch die Amerikaner«, ergänzte er. Es gebe keine
Überlegung, die Zusammenarbeit einzuschränken. Demgegenüber hatte der
Grünen-Bundestagsabgeordnete Christian Ströbele am Mittwoch (28. Juli)
im jW-Interview zu dieser Praxis erklärt: »Das ist eindeutig extralegal.
Wenn jemand auf so eine Liste kommt, ist das häufig sein Todesurteil,
ohne Gerichtsverfahren.«
Die jüngst durch das Internetportal Wikileaks veröffentlichten
Geheimakten belegen, wie die US-Spezialeinheit Task Force 373 (TF373)
Jagd auf hochrangige Talibankämpfer macht. Die Dokumente belgen, daß die
Zahl der bei den Killeraktionen getöteten Unbeteiligten erheblich höher
ist als bisher zugegeben. Dienst betonte, Deutschland habe zwar auch
Personen auf die Feindesliste der ISAF gesetzt, sich selbst aber die
»Selbstbeschränkung auferlegt«, daß diese nur gefangengenommen werden
sollten. Gleichzeitig räumte er jedoch mit Blick auf die deutsche Task
Force 47 (TF47) ein, in einem Gefecht »kann es natürlich auch bei
Aktionen, die das Ziel haben, Zugriff herbeizuführen, zu tödlichen
Ereignissen kommen«. Zu den Aktionen der TF373 erklärte Dienst: »Was sie
en detail dort tun, und welche Ergebnisse sie erzielen, dazu gibt es
keine Berichtspflicht seitens der Amerikaner.«
Zu den vor Jahren vorgebrachten rechtlichen Vorbehalten der Weitergabe
deutscher Aufklärungsergebnisse sagte der Ministeriumssprecher, es gehe
hier nicht um »Vergangenheitsbewältigung«. Klar sei jedenfalls, daß man
»natürlich« wisse, daß diese Ergebnisse »in ISAF-Operationen eingebracht
werden«. Wenn es von der Bundeswehr »personenbezogene Empfehlungen«
gebe, dann seien sie mit dem Zusatz »capture« (gefangenzunehmen)
versehen. Ausdrücklich wies Dienst Spekulationen zurück, der von einem
deutschen Oberst befohlene Luftschlag von Kundus im September 2009 sei
im Rahmen einer Spezialoperation erfolgt.
Der außenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Rolf Mützenich, hatte
zuvor der Berliner Zeitung mit Blick auf das deutsche Afghanistan-Mandat
gesagt, die Regierung müsse klären, ob die Aktionen der US-Armee
völkerrechtlich gedeckt seien. Mützenich machte deutlich, daß die SPD
ihre Zustimmung zur Verlängerung des Afghanistan-Mandats im März 2011
davon abhängig machen will, wie umfassend die Regierung die Details aus
den bei Wikileaks veröffentlichten Geheimpapieren aufklärt. Die Details
zur Sicherheitslage im deutschen Einsatzgebiet und zu Vorgängen um die
US-Spezialeinheit Task Force 373 »lassen die positive
Regierungserklärung des Außenministers fragwürdig erscheinen«.
Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) hatte am
Dienstag erklärt, viele Inhalte der veröffentlichten Dokumente seien
»nicht gänzlich überraschend«. Zu den Berichten über die Task Force 373
sagte Guttenberg, die Existenz dieser Einheit sei »jedem Informierten«
und auch Fachjournalisten über Jahre hinweg bekannt gewesen.
*** Aus: junge Welt, 29. Juli 2010
Was folgt aus Afghanistan-Akten?
Friedensforscher Otfried Nassauer fordert eine realistische
Lagedarstellung ****
ND: Nach dem Bekanntwerden geheimer US-Akten dreht sich die deutsche
Debatte besonders um den Einsatz von Spezialkräften in Afghanistan, die
gezielt Menschen töten. Ist das auch für Sie die wichtigste Frage, die
sich aus der Veröffentlichung ergibt?
Nassauer: Diese Fokussierung in der deutschen Berichterstattung ist
völlig normal, weil in den letzten Monaten die Stationierung
amerikanischer Spezialkräfte in Nord-Afghanistan zu einem Thema wurde,
dem Bundestagsabgeordnete wie Hans Christian Ströbele intensiv
nachgegangen sind. Für die internationale Debatte ist entscheidend, dass
die veröffentlichten 75 000 Dokumente belegen, dass das Bild, das
Spitzenmilitärs und Politik in der Öffentlichkeit vom
Afghanistan-Einsatz gezeichnet haben, sehr verharmlosend war. Die
Wirklichkeit liegt sehr viel näher an dem, was Skeptiker und Kritiker
immer wieder gesagt haben. Das ist nun quasi offiziell bestätigt.
Politiker behaupten, die Informationen seien längst bekannt. Ist die
Öffentlichkeit tatsächlich nur vergesslich?
Nein, in dieser Detailliertheit waren die Vorgänge nicht bekannt. Das
betrifft z.B. die Zahl der zivilen Opfer, die Jagd auf Top-Taliban,
mögliche Verstöße gegen das humanitäre Kriegsvölkerrecht,
Friendly-Fire-Zwischenfälle und vieles andere. Diese Papiere erlauben
einen detaillierten Einblick in das, was in Afghanistan stattfand, und
in die wirklichen Probleme.
Inwiefern gefährdet die Veröffentlichung Soldaten vor Ort, wie Wikileaks
vorgeworfen wird?
Kaum. Es sind meist Politiker, die die Veröffentlichung als
Sicherheitsgefährdung darstellen. Die Militärs sagen, daraus könne ein
Gegner kaum wichtige Schlussfolgerungen ziehen. Man könnte auch boshaft
sagen, manch Politiker demonstriert, dass er an Geheimhaltung
interessiert ist, weil er seinen Vorsprung des partiellen Geheimwissens
behalten will, um öffentlich leichter argumentieren zu können.
Müssten die Afghanistan-Mandate der Bundeswehr auf Grundlage dieser
Informationen neu zur Abstimmung gestellt werden?
Aus diesen Unterlagen kann man das nicht ableiten. Die Dokumente enden
zu dem Zeitpunkt, wo Obama seine neue Afghanistan-Strategie verkündet.
Man kann nicht belegen, dass alles unverändert weitergelaufen ist. Man
kann nur vermuten, dass weiterhin ein großer Widerspruch zwischen der
öffentlichen Darstellung und der Realität vor Ort besteht. Die
entscheidende Frage ist, ob die Hoffnung des Westens, in einigen Jahren
ohne Gesichtverlust Afghanistan verlassen zu können und eine halbwegs
stabile afghanische Regierung zu hinterlassen, realistisch ist. Ich war
skeptisch, jetzt bin ich noch skeptischer.
Muss sich die Afghanistan-Strategie gar nicht ändern, wenn die Kritiker
nun bestätigt wurden?
Ich warne davor, dass jeder jetzt behauptet, diese Unterlagen bewiesen,
seine persönliche Haltung zum Afghanistan-Einsatz sei die einzig
richtige. Die Situation ist im Prinzip unverändert. Der Einsatz steckt
tief im Schlamassel, so tief, wie es keiner zugeben will. Und trotzdem
kann die Bundeswehr nicht von Heute auf Morgen komplett abgezogen
werden. Notwendig ist eine ehrliche Lagedarstellung, eine realistische
Vorgabe, was man noch erreichen kann und eine ebenso realistische
Umsetzungsstrategie. Eine neue Strategie ist nur dann besser als das,
was im Blick auf 2014 vereinbart wurde, wenn sie realistischer ist. Ohne
die Einsicht, dass es einen westlichen Gesichtsverlust geben wird, wird
das nicht abgehen. Nur diese Einsicht wird den Abzug beschleunigen.
Fragen: Ines Wallrodt
**** Aus: Neues Deutschland, 29. Juli 2010
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