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Guttenberg stimmte Afghanistan-Durchhaltestrategie ab

Treffen der Nord-Front-Chefs in Berlin / Karsai tritt heute im Weißen Haus an / Hilfsorganisationen kaltgestellt

Von René Heilig *

Die Verteidigungsminister der Truppensteller für Nordafghanistan sind am Dienstag (11. Mai) in Berlin zusammengekommen, um »ein Signal der internationalen Geschlossenheit, aber auch der internationalen Entschlossenheit« auszusenden, wie Verteidigungsminister zu Guttenberg sagte.

Das Treffen in Berlin ist die erste Truppenstellerkonferenz auf Verteidigungsministerebene für Nordafghanistan. Deutschland hat das Kommando über die von 16 Ländern gestellte internationale Schutztruppe ISAF in der Region. Zu den Teilnehmern zählten der stellvertretende afghanische Verteidigungsminister Sher Karimi sowie Vertreter der NATO und der Europäischen Union (EU).

Geschlossen und entschlossen wollte man bereits nach der Londoner Konferenz im Februar antreten, um erstens die afghanische Bevölkerung besser zu schützen, um zweitens die afghanischen Sicherheitsbehörden besser auszubilden und um drittens die Entwicklungshilfe für das Land am Hindukusch zu verstärken. Doch offenbar kam man mit diesen Floskeln und Phrasen nicht so recht voran.

»Wir alle wissen, dass sich die Lage in der Nordregion in den letzten Jahren noch nicht so entwickelt hat, wie wir uns das eigentlich erhofft hätten«, sagte Minister Karl Theodor zu Guttenberg (CSU) gestern. Schon seit Wochen versuchen deutsche Militärbefehlshaber dem Minister klar zu machen, dass der Londoner Strategiewechsel frühestens Ende des Jahres umsetzbar sein wird. Wider besseres Wissen behauptet das Verteidigungsministerium dagegen, dass die Bundeswehr das Konzept des so genannten »Partnering – Ausbildung und Unterstützung afghanischer Truppen in der Fläche« ab Spätsommer umsetzen kann.

Landesweit haben die Attacken der oppositionellen Gruppen im ersten Quartal 2010 im Vergleich zum Vorjahr um 35 Prozent zugenommen. In mindestens acht Distrikten der Nordregion tobt offener Guerillakrieg. Allein fünf Gebiete um Kundus und zwei um Baghlan sind betroffen. Das sind jene Regionen, in denen die Bundeswehr zunehmend Verluste erleidet.

Der Bundestag hatte die Obergrenze für das Bundeswehrkontingent im Februar auf bis zu 5350 Soldaten erhöht. Auch die USA stocken ihre Kräfte im Norden deutlich auf. Derzeit operieren bereits Spezialkräfte der USA in dem von Deutschland überwachten Gebiet. Bis Mitte Mai wird dort das 1. Bataillon der 10. US-Mountain-Brigade samt einer schlagkräftigen Hubschrauberunterstützung eintreffen.

Insgesamt sind damit über 86 000 US-Soldaten in Afghanistan. Bis August will man rund 98 000 US-Soldaten in den Kampf führen können – um 2011 mit dem schrittweisen Abzug zu beginnen. Im Lande sind derzeit weitere 46 000 ISAF-Soldaten vor allem aus anderen NATO-Staaten. Dennoch ist ISAF nur in der Lage, Soldaten in knapp 50 der 121 afghanischen Distrikte zu schicken.

Die Bundeswehr stattet ihre Kräfte derzeit mit zusätzlichem Gerät aus. Die Truppe bekommt zwei Panzerhaubitzen sowie 15 Schützenpanzer »Marder«, die die vorhandenen vier Kampffahrzeuge verstärken sollen. Auch schweres Pioniergerät wird verlegt, um in der Fläche des Landes gesicherte Stützpunkte zu errichten.

Dass die Bundeswehr nach der Verlegung zusätzlicher US-Offensivtruppen in die Nordregion weiter das Kommando ausüben kann, wird von Experten bezweifelt. »Deutschland ist sich seiner Rolle als Führungsnation bewusst«, sagte Guttenberg bei der gestrigen vierstündigen Konferenz. Sowohl Bundeswehr- wie US-Militärs haben eine faktische Übergabe der Kommandogewalt an die USA bislang zurückgewiesen. Doch allein die Tatsache, dass Deutschland jüngst einen General an die Spitze seiner ISAF-Truppe gestellt hat, um Autorität zu beweisen, bestätigt entsprechende Befürchtungen.

US-Außenministerin Hillary Clinton hat dem afghanischen Präsidenten Hamid Karsai weitere Unterstützung zugesagt. »Während wir einen verantwortungsvollen und geordneten Übergang des internationalen Kampfeinsatzes in Afghanistan anstreben, werden wir das afghanische Volk nicht im Stich lassen«, sagte Clinton am Dienstag beim Treffen mit Karsai in Washington. Afghanistan werde auf lange Sicht Verbündeter der USA bleiben, versicherte Karsai.

Unterdessen hat die afghanische Regierung 172 nationalen und internationalen Hilfsorganisationen die Arbeit untersagt. 152 lokalen und 20 internationalen Organisationen sei die Genehmigung entzogen worden, weil sie angeblich ihren Rechenschaftspflichten nicht nachgekommen seien, berichtete der UN-Informationsdienst IRIN.

Für den heutigen Mittwoch (12. Mai) ist ein Treffen Karsais mit US-Präsident Barack Obama geplant.

* Aus: Neues Deutschland, 12. Mai 2010


Weder Hirn noch Geist

Von René Heilig **

Lassen wir die NATO aufmarschieren! Machen wir sie platt, diese Spekulanten, die uns Euro-Bürgern so frech den Krieg erklärt haben ... Geht nicht? Wieso nicht? Keine Ziele auszumachen? Na und?! So hat die »freien Welt« doch vor rund zehn Jahren auch dem weltweiten Terrorismus den Krieg erklärt. Obwohl dessen Drahtzieher ebenso wenig auszumachen waren wie die, die jetzt EU-Europas Heiligstes attackieren.

Da wir aber gerade beim Thema Spekulanten sind: Nehmen wir uns einfach mal jene vor, die noch immer behaupten, sie könnten Afghanistan mit immer mehr Soldaten zum Frieden führen. Verteidigungsminister zu Guttenberg hatte gestern Bündnispartner beim Befrieden der Nordregion nach Berlin eingeladen. Und alle beteuerten, dem Feind geschlossen und entschlossen die Stirn zu bieten. Also den Teil des Körpers, hinter dem normalerweise Hirn und Geist versammelt sind. Beides scheinen die Konferenzteilnehmer jedoch nicht allzu sehr strapaziert zu haben. Wie sonst hätten sie – statt konkrete Ausstiegsszenarien zu debattieren – über die Fortführung eines nicht gewinnbaren Krieges sinnieren können. Fast drei Monate sind vergangen, seit uns die westlichen Kriegsfürsten aus London signalisierten, nun werde man mehr denn je Entwicklungshilfe leisten und die Afghanen zum selbstbestimmten Dasein befähigen. Was dabei erreicht wurde, ist blamabel. Doch Glück im Unglück – die Finanzkrise überdeckt so manches. Sogar das Sterben in Afghanistan.

* Aus: Neues Deutschland, 12. Mai 2010 (Kommentar)

Die Stimme des Verteidigungsministeriums:

Truppensteller für Nord-Afghanistan bekräftigen ihr Engagement

Berlin, 11.05.2010.

Verteidigungsminister Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg traf am 11. Mai die Verteidigungsminister und Generalstabschefs der Truppen stellenden Nationen des ISAF-Regionalkommandos Nord sowie Vertreter der EU und NATO in Berlin. Der Minister hatte zu dem informellen Treffen geladen, um sich mit den Partnerländern über das weitere gemeinsame Vorgehen in Afghanistan abzustimmen.

Die Umsetzung der auf der internationalen Afghanistan-Konferenz in London getroffenen Beschlüsse war Schwerpunkt des informellen Treffens. „Zusammen mit der afghanischen Armee (Afghan National Army) und der afghanischen Polizei (Afghan National Police) werden wir die Sicherheitslage für die im Norden Afghanistans lebenden und arbeitenden Menschen verbessern“, heißt es im Abschlusskommuniqué. Ferner könne mit „den nun vorgesehenen Ressourcen und in enger Zusammenarbeit von und mit der afghanischen Regierung eine schrittweise Übergabe der Sicherheitsverantwortung erreicht werden“. Dies dürfe jedoch nicht als Anreiz zur sofortigen Truppenreduzierung gesehen werden, heißt es darin weiter.

Zeichen der Entschlossenheit

Verteidigungsminister zu Guttenberg zeigte sich zufrieden über den Verlauf der Konferenz. Sie sei „"ein Zeichen der Geschlossenheit und der Entschlossenheit"“, sagte der Minister in der anschließenden Pressekonferenz. „"Die 16 Nationen sprechen mit einer Stimme, wenn wir sagen, dass wir auch weiterhin klar zu unserer Verpflichtung stehen, dem afghanischen Volk auf dem Weg in eine friedvolle Zukunft zu helfen."“

Deutschland trage im Norden Afghanistans als Führungsnation eine besondere Verantwortung. Daran werde sich auch der Aufwuchs der Kräfte im Norden, insbesondere durch US-Truppen nichts ändern, betonte zu Guttenberg. Insgesamt sollen rund 12.000 Soldaten der ISAF-Schutztruppe im Regionalkommando Nord eingesetzt werden.

„"Ein stabiles Afghanistan ist ein entscheidender Beitrag für den Frieden in der gesamten Region und damit für die internationale Sicherheit insgesamt"“, hob der Minister hervor und warnte vor den Folgen für die Nachrbarstaaten, sollte der „Dominostein Afghanistan“ fallen. Für den derzeitigen Einsatz gebe es deshalb keine Alternative.

Mehr afghanische Sicherheitskräfte

Das in diesem Jahr weiter verstärkte zivile und befristet militärische Engagement lege die Grundlagen für eine Übergabe in Verantwortung an die afghanische Regierung, hob der Minister hervor. Die Umsetzung des auf der Londoner Afghanistankonferenz beschlossenen Strategiewechsels werde positive Effekte für den gesamten Norden haben. Zugleich habe man auch an die afghanische Regierung klare Erwartungen.

Zu Guttenberg begrüßte das von der afghanischen Regierung angestrebte Ziel, innerhalb der kommenden fünf Jahre die Verantwortung für die Sicherheit in ganz Afghanistan zu übernehmen. Dabei seien sich die Partner einig, dass zivile Hilfe auch über diesen Zeitraum hinaus notwendig sein werde. Bis Ende 2011 soll die Zahl der afghanischen Sicherheitskräfte von 200.000 auf 300.000 erhöht werden.

Während der Pressekonferenz hob ebenso der oberste zivile Vertreter der NATO in Afghanistan Mark Sedwill die Bedeutung des Strategiewechsels hervor. Mit dem verstärkten Engagements möchte die internationale Schutztruppe die Initiative gegenüber den Aufständischen wiedererlangen, sagte der britische Diplomat.

Auf der Londoner Konferenz im Januar dieses Jahres hatten sich die Partnerländer auf eine neue Strategie verständigt. Im Kern wurden verstärkte Anstrengungen bei der Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte beschlossen, damit diese in absehbarer Zeit in die Lage versetzt werden, Verantwortung für die Sicherheit im Land zu übernehmen. Eine wesentliche Rolle spielt dabei das Konzept des Partnering, bei dem afghanische Soldaten und Polizisten auch im Rahmen gemeinsamer Einsätze und Operationen ausgebildet werden.

Quelle: Website des Verteidigungsministeriums; www.bmvg.de


Die Stimme der Opposition:

Truppenstellerkonferenz bestätigt Kriegskurs in Nordafghanistan

„In Berlin wurden die Truppensteller in Nordafghanistan auf noch mehr Krieg eingeschworen. Die bis Ende 2010 angekündigte Verdopplung der Truppenstärke im Norden untergräbt die Glaubwürdigkeit der Afghanistanpolitik der Bundesregierung, hat sie doch vorher den Beginn des Abzuges der Bundeswehr im nächsten Jahr angekündigt“ kommentiert Paul Schäfer den Verlauf der Truppenstellerkonferenz für Nordafghanistan in Berlin. Schäfer weiter:

„Neun Jahren kontinuierlicher Aufstockung und Ausweitung der NATO-Militärintervention in Afghanistan haben zu einer desolaten Sicherheitslage geführt. Umso zynischer ist das ungebrochene Festhalten an der bisherigen Interventionsstrategie. Gerade die Mischung von mehr Truppen, mehr schwerem Gerät und Waffen und neuen militärischen Offensiven hat Afghanistan immer tiefer in den Kriegsstrudel hineingezogen. Statt einer ernsthaften Weichenstellung für den Frieden wird versucht mit Durchhalteparolen die Reihen geschlossen zu halten. Der auch aufgrund von öffentlichem Druck von der Bundesregierung angekündigte Abzug aus Afghanistan ab 2011 droht damit immer mehr zu einem reinem Lippenbekenntnis zu werden.

Die Bundesregierung muss dazu gebracht werden, endlich die Alternativen zum militärischen Vorgehen zur Kenntnis zu nehmen. Sie liegen längst auf dem Tisch und allen ist gemeinsam, dass erst der Abzug der NATO-Truppen den Raum für tragfähige Vereinbarungen der afghanischen Konfliktparteien öffnen.“

Quelle: Newsletter des Abgeordneten Paul Schäfer (DIE LINKE), 12. Mai 2010




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