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Talokan: Bundeswehr schoss in die Menge

Erneut Afghanistan-"Informationspannen"?

Von René Heilig *

»Die Selbstverteidigungslage ist unstrittig«, betonte gestern das Einsatzführungskommando in Potsdam spürbar bemüht. Denn man musste einen Verdacht vom Mittwoch (18. Mai) bestätigen: Bundeswehrsoldaten haben im nordafghanischen Talokan in eine Demonstration gefeuert und möglicherweise abermals Zivilisten getötet.

Erneut kommt die Wahrheit über einen Einsatz deutscher Soldaten in Afghanistan nur scheibchenweise ans Licht. Die erste Meldung der Bundeswehr am Mittwoch um 11.55 Uhr lautete: »Am 18. Mai begann gegen 8 Uhr Ortszeit (5.30 Uhr MESZ) eine gewaltsame Demonstration vor dem Provincial Advisory Team (PAT) Talokan.« Es seien sechs Menschen, zwei Bundeswehr-Soldaten und vier afghanische Wachleute verletzt worden. Die Menschen waren aufgebracht über eine der nächtlichen Operationen, bei der offenbar US-Spezialeinheiten vier – wie die Demonstranten behaupten – Unschuldige getötet hatten.

Um 16.35 Uhr vermeldete die Bundeswehr (noch unbestätigt) zehn getötete und 40 verletzte Demonstranten. Grund: Die lokale Polizei »machte offenbar auch von Schusswaffen Gebrauch«. Am Donnerstag (19.Mai) um 18.30 Uhr bestätigte die Bundeswehr, dass »Warnschüsse durch deutsche Soldaten abgegeben« wurden.

Am Freitag (20. Mai) um 9.30 Uhr hieß es, ein ISAF-Ermittlungsteam habe Ermittlungen aufgenommen, eine Kommission des afghanischen Präsidenten sei eingetroffen. Um 11.45 Uhr dann wurden »gezielte Schüssen« von Bundeswehrsoldaten »im Schwerpunkt auf den Beinbereich« zu lesen. »In drei, gegebenenfalls vier Fällen wurden Schüsse auf gewalttätige Angreifer (Handgranaten, Molotowcocktails) in den Rumpfbereich, bzw. Arme und Hände abgegeben.« In einem Fall sei »ein Treffer im Hals-Kopfbereich nicht auszuschließen«. Der Generalbundesanwalt wurde informiert.

Bis zum Freitagabend hat sich Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) nicht geäußert. Er vermeidet voreilige Behauptungen, die seine beiden Vorgänger Franz-Josef Jung (CDU) und Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) nach dem verheerenden Bombenangriff bei Kundus im September 2009 in Bedrängnis gebracht hatten.

Wie ernst die Situation ist, zeigt sich unter anderem daran, dass der für die Nordregion zuständige und landesweit bekannte Polizeichef General Daud nach Talokan kam, um die Situation zu beruhigen. Das 209. afghanischen Korps unter General Wesa organisiert den Schutz des deutschen PAT neu.

* Aus: Neues Deutschland, 21. Mai 2011


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