Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Die NATO wurde vom Verteidigungsbündnis zum weltweiten Sicherheitsdienstleister gemacht"

Mündliche Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht über die Organklage der Linksfraktion in Sachen Tornado-Einsatz in Afghanistan

Am 29. März 2007 hat das Bundesverfassungsgericht einen Eilantrag der Linksfraktion gegen den vom Bundestag beschlossenen "Tornado"-Einsatz in Afghanistan abgelehnt (siehe: "Für eine einstweilige Anordnung ist kein Raum"). Gleichzeitig beschloss das höchste deutsche Gericht, in der Sache selbst am 18. April mündlich zu verhandeln.
Diese erste Verhandlung hat nun stattgefunden. Im Folgenden dokumentieren wir Presseberichte über diesen Gerichtstag.



Holt Karlsruhe die Tornados zurück?

Vorwurf: Die NATO wird schleichend zum »globalen Sicherheitsdiensleister«

Von Claus Dümde *


Die Linksfraktion im Bundestag wirft der Bundesregierung vor, dass sie am Parlament vorbei an einer Veränderung der NATO mitgewirkt hat, die nicht mehr durch das Zustimmungsgesetz von 1955 gedeckt ist. Dadurch habe sie Rechte des Bundestages verletzt. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts muss prüfen und entscheiden, ob das zutreffend ist.

»Die Linke klagt gegen Tornado-Einsatz in Afghanistan«, teilte die Fraktion vor fünf Wochen mit. Verhindern konnte sie ihn nicht. Das Gericht lehnte es ab, ihn per einstweiliger Anordnung zu stoppen. Falls der Tornado-Einsatz zur als verfassungswidrig gerügten »Fortentwicklung« des NATO-Vertrags beitrüge, sei diese »jedenfalls nicht irreparabel«.

So absolvieren seit dem Wochenende die Besatzungen von jeweils zwei der sechs Tornados Aufklärungsflüge über Südafghanistan. Damit werde die Bundeswehr, so warnte Fraktionschef Gregor Gysi Mitte März, in den »Antiterrorkampf« der USA – die Operation »Enduring Freedom« (OEF) – hineingezogen, der nicht vom Selbstverteidigungsrecht der UNO-Charta gedeckt ist. Der Tornado-Einsatz sprenge das Mandat des UN-Sicherheitsrates für die internationale Schutztruppe ISAF, da die Ergebnisse der Luftaufklärung auch der OEF zur Verfügung gestellt werden. Durch die Kriegsführung der USA werde »unterschiedslos die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft gezogen«. All das sei mit dem Völkerrecht und dem Grundgesetz unvereinbar.

In der Verlautbarung des Gerichts wird hingegen der verfassungsrechtliche Ansatzpunkt der Klage in den Vordergrund gerückt:
Die Antragstellerin rügt eine Verletzung des Mitwirkungsrechts des Bundestags gemäß Artikel 59, Absatz 2 Grundgesetz. Darin heißt es, dass »Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln«, der Zustimmung in Form eines Bundesgesetzes bedürfen. Die Bundesregierung habe nach Ansicht der Linksfraktion an einer Fortentwicklung des NATO-Vertrags mitgewirkt, die die Grenzen des durch das Zustimmungsgesetz abgesteckten Integrationsprogramms überschreite. Der Tornado-Einsatz verstoße wegen seiner Verbindung zu OEF auch gegen das in Artikel 24 Grundgesetz verankerte Friedensgebot.

Im Grunde sind das dieselben Vorwürfe wie in der Organklage der PDS-Fraktion von 1999. Damals billigten die Richter der Bundesregierung aber einen sehr weiten Ermessungsspielraum zu. Sie »handelt nicht schon dann außerhalb des vom Zustimmungsgesetz zum NATO-Vertrag gezogenen Ermächtigungsrahmens, wenn gegen einzelne Bestimmungen des NATO-Vertrags verstoßen wird«, hieß es im Urteil [von 2001, siehe Kasten]. Und: Das Bundesverfassungsgericht könne »eine Überschreitung des gesetzlichen Ermächtigungsrahmens nur dann feststellen, wenn die konsensuale Fortentwicklung des NATO-Vertrags gegen wesentliche Strukturentscheidungen des Vertragswerkes verstößt«.

Dies sei »gegeben«, heißt es nun in der 80-seitigen Antragsschrift: »Die gundlegende Modifikation des NATO-Vertrages im Hinblick auf weltweit durchführbare und in keinem Bezug zur euro-atlantischen Region stehende ... Einsätze von Krisenreaktionskräften bedarf eines Zustimmungsgesetzes des Deutschen Bundestages.« Vom regionalen Militärpakt werde die NATO zum »globalen Sicherheitsdienstleister«, was insbesondere in der Erklärung des Rigaer NATO-Gipfels vom 29. 11. 2006 zum Ausdruck komme. Nach dem Karlsruher Urteil von 2001 schrieb der Verfassungsrechtler Georg Ress, die Bundesregierung habe zusammen mit ihren Partnern den NATO-Vertrag »auf Räder gesetzt«. Nun konstatieren die Kläger, die NATO sei ein Vertrag »auf Tornados« – »in grundlegender Hinsicht mit der NATO 1955 nicht-identisch«.

* Aus: Neues Deutschland, 18. April 2007

L e i t s ä t z e

zum Urteil des Zweiten Senats vom 22. November 2001
- 2 BvE 6/99 -
  1. Die Einordnung Deutschlands in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit bedarf nach Art. 24 Abs. 2 i.V.m. Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG der Zustimmung des Gesetzgebers.
  2. Die Fortentwicklung eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne des Art. 24 Abs. 2 GG, die keine Vertragsänderung ist, bedarf keiner gesonderten Zustimmung des Bundestags.
  3. Die Zustimmung der Bundesregierung zur Fortentwicklung eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit darf nicht die durch das Zustimmungsgesetz bestehende Ermächtigung und deren verfassungsrechtlichen Rahmen gem. Art. 24 Abs. 2 GG überschreiten.
  4. Der Bundestag wird in seinem Recht auf Teilhabe an der auswärtigen Gewalt verletzt, wenn die Bundesregierung die Fortentwicklung des Systems jenseits der ihr erteilten Ermächtigung betreibt.
  5. Die Fortentwicklung darf nicht die durch Art. 24 Abs. 2 GG festgelegte Zweckbestimmung des Bündnisses zur Friedenswahrung verlassen.
  6. Das neue Strategische Konzept der NATO von 1999 ist weder ein förmlich noch ein konkludent zu Stande gekommener Vertrag.
Quelle: www.bundesverfassungsgericht.de




Karlsruher Richter im Friedenstest

Verhandlung über Tornado-Klage der Linksfraktion vor dem Bundesverfassungsgericht **

Im Verfahren um den Tornado-Einsatz in Afghanistan hat die Linksfraktion gestern vor dem Bundesverfassungsgericht der Bundesregierung eine Verletzung des Friedensgebots im Grundgesetz vorgeworfen – diese verteidigte die Entsendung erwartungsgemäß.

Die am Sonntag aufgenommenen Aufklärungsflüge dienten auch der Unterstützung der US-geführten Operation »Enduring Freedom«, für die es sechs Jahre nach dem 11. September 2001 keine völkerrechtliche Rechtfertigung mehr gebe, sagte Bundestagsfraktions-Chef Gregor Gysi in Karlsruhe bei einer Anhörung im Bundesverfassungsgericht. »Irak und Afghanistan beweisen, dass der Krieg gegen den Terror nur zu mehr Terror führt«, erklärte Gysi. Wenn das Gericht die Organklage abweise, werde sich das Völkerrecht verändern, ohne dass das deutsche Parlament darauf Einfluss nehmen kann, sagte er.

Die Linke beanstandet mit der Organklage, durch weltweite Einsätze werde der NATO-Vertrag über den Kopf des Bundestages hinweg fortentwickelt. »Die NATO wurde vom Verteidigungsbündnis zum weltweiten Sicherheitsdienstleister gemacht«, kritisierte Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck. Dadurch seien Rechte des Bundestags verletzt, weil die Umwandlung nicht mehr vom deutschen Zustimmungsgesetz von 1955 gedeckt sei. »Die NATO des Jahres 2007 ist nicht die NATO des Jahres 1955«, bekräftigte Gysi. Trotzdem sei seither kein einziger Artikel des NATO-Vertrags geändert worden.

Die Bundesregierung widersprach: Der Tornado-Einsatz sei nicht völkerrechtswidrig, sagte Außenstaatssekretär Reinhard Silberberg. Nicht die NATO habe sich geändert, sondern das sicherheitspolitische Umfeld. Seit 2001 gehörten der internationale Terrorismus und die Probleme instabiler Staaten zu den Herausforderungen des Verteidigungsbündnisses, so Silberberg. Ziel des Bündnisses sei aber nach wie vor die Gewährleistung von Frieden und Sicherheit. Für die Bundesregierung gehe es in dem Verfahren darum, sich die außenpolitische Handlungsfähigkeit zu bewahren. »Es geht um die Bündnisfähigkeit unseres Landes.«

Udo Di Fabio, als Berichterstatter im Zweiten Senat federführend für das Verfahren, diagnostizierte eine gewisse Entwicklung des NATO-Vertrags: »Es fällt doch auf, dass immer einen Schritt weiter gegangen wird, dass immer noch etwas dazu kommt.« Für das Gericht stelle sich die Frage, was dies für das Grundgesetz bedeute: »Müssen wir den verfassungsrechtlichen Rückzug antreten?« Unklar ist, ob der Zweite Senat überhaupt zu einer inhaltlichen Prüfung der Klage gelangt. »Es gibt vielleicht ein Problem mit der Zulässigkeit der Organklage«, sagte Senatsvorsitzender Winfried Hassemer. Grund dafür ist eine Sechsmonatsfrist: Die Klage müsste plausibel machen, dass die entscheidenden Schritte für die Fortentwicklung des Vertrags im letzten halben Jahr vor ihrer Einlegung unternommen worden sind.

Linksfraktionschef Oskar Lafontaine erinnerte an die Kriterien, die das Gericht selbst in seinem Urteil von 2001 zur Organklage der PDS-Fraktion aufgestellt hatte und konstatierte, die Bundesregierung verstoße durch Zustimmung zu den Beschlüssen des NATO-Gipfels von Riga im November 2006 und die Entsendung der Tornados gegen die Artikel 1 und 5 des NATO-Vertrags: das Gewaltverbot und das Konzept des Verteidigungsbündnisses. Es gehe darum, »ob das Völkerrecht Grundlage der Außenpolitik der Bundesrepublik ist«. Mit dem Urteil wird nicht vor Frühsommer gerechnet.

** Aus: Neues Deutschland, 19. April 2007


"Mit Gewalt werden wir den Terror nicht besiegen"

Die Süddeutsche Zeitung veröffentlichte in ihrer Online-Ausgabe am 18. April 2007 ein Interview mit einem der Kläger, Fraktionssprecher Gregor Gysi. Wir zitieren daraus ein paar Passagen:

Herr Gysi, was genau erhoffen Sie sich von Ihrer Klage gegen den Tornado-Einsatz in Afghanistan?

Es geht um die Frage, ob die Nato des Jahres 2007 noch die Nato des Jahres 1955 ist. Das Zustimmungsgesetz des Bundestages zum Nato-Vertrag ist nämlich 51 Jahre alt und seither nicht verändert worden. Wir glauben aber, dass sich die Nato erheblich verändert hat.

Mit welcher Folge?

Das Parlament wurde mithin ausgeschaltet, wenn es um Veränderungen in der Nato ging. Wir sprechen also über Fragen von grundsätzlicher Bedeutung für die parlamentarische Demokratie, die das Bundesverfassungsgericht jetzt zu klären hat. Das ist der juristische Streit zwischen der Bundesregierung und uns. Politisch geht der Streit natürlich viel weiter.

Der Staatsrechtler Ulrich Battis sagt, es gäbe keine stillschweigende Veränderung des Nato-Vertrags, sondern eine Veränderung des Völkerrechts. Ist das nicht die eigentliche Baustelle?

In Afghanistan gibt es zwei parallel arbeitende Operationen: Zum einen die ISAF, die der zivielen Entwicklung helfen soll und ein Uno-Mandat hat. Zum anderen die Operation „Enduring Freedom“, die ohne Mandat gegen den Terrorismus kämpft. Die USA stützen sich hier auf ein vermeintliches Selbstverteidigungsrecht nach den Anschlägen vom 11. September 2001.
(...)

Die Bundesregierung sagt, die Tornados seien der ISAF unterstellt.

Das ist, gelinde gesagt, Blödsinn. Der stellvertretende Chef des Uno-Einsatzes ISAF ist zugleich Chef von Enduring Freedom, also der Kampftruppen gegen die Taliban. Damit bekommt er alle Fotos, die von den Tornados geschossen werden. Wir müssen wieder zurückkommen zum Völkerrecht und zum Grundgesetz. Sonst könnte man sagen, wir machen überall mit – egal, ob die Rechtslage dafür oder dagegen spricht.
(...)

Wie würden Sie gegen die Terroristen vorgehen?

Natürlich ist der Kampf gegen den Terrorismus schwierig. Aber der Konflikt ist doch militärisch nicht lösbar. Ich bitte Sie, die Taliban hatten abgewirtschaftet. Und jetzt haben die wegen des Krieges wieder Zulauf. Unter Saddam Hussein gab es furchtbare Zeiten im Irak, das wird niemand bestreiten. Aber so furchtbar wie heute waren sie nicht. Jeden Tag sterben da viele Menschen.
Der militärische Kampf führt dazu, dass der Terrorismus zunimmt. Krieg ist die höchste Form des Terrorismus. Mittels Gewalt werden wir den Kampf gegen den Terrorismus nicht gewinnen.

Wie dann?

Wir brauchen neue Denkansätze. Wir müssen die Welt sozialer gestalten. Wir müssen über kulturelle Fragen, über Austausch, über Dialog nachdenken. Im Konkreten gibt es auch polizeiliche Maßnahmen. Aber Krieg hilft gar nicht.
(...)

Sind Sie dafür, die Truppen in Afghanistan von heute auf morgen abzuziehen?

Ich bin jetzt erst mal dafür, dass die Tornados zurückkommen. Das ist auch im Interesse Deutschlands. Wir müssen uns nicht durch diesen Übereifer zur Adresse von Terrorismus machen. Prinzipiell bin ich natürlich für einen Rückzug, in angemessenen Schritten.
Niemand kann sagen, wie die politische Lösung aussehen soll. Im Kosovo ist das auch so. Ich frage, gibt es da einen Plan? Stehen wir da noch in 30 Jahren? Antworten habe ich von der Bundesregierung bis heute nicht gehört. Die erste Option soll ja immer eine militärische sein: Lass' mal die Generäle machen. Dann machen sie und hinterher weiß keiner mehr weiter. So kann man keine Politik machen.

Interview: Thorsten Denkler, Berlin

Aus: sueddeutsche.de, 18. April 2007


Zu weiteren Beiträgen über Afghanistan

Zur Bundeswehr-Seite

Zur NATO-Seite

Zurück zur Homepage