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Taliban töteten drei deutsche Polizisten

Drei Tote, ein Verletzter in Kabul / Erneute Debatte um Afghanistan-Mandatsverlängerung

Von René Heilig *

Drei deutsche Polizisten sind bei Kabul ums Leben gekommen, als neben ihrem Fahrzeug ein Sprengsatz explodierte. Ein vierter Beamter wurde verletzt. Die Taliban sollen sich zu dem Attentat bekannt haben. Es war gegen 9.15 Uhr unweit des ISAF-Stützpunktes Camp Warehouse. Die Geröllpiste galt nach Angaben der Bundeswehr, die auch für die Überwachung der Region Bagrami im Osten Kabuls zuständig ist, als gesichert. Das gepanzerte Fahrzeug der Polizisten befand sich offenbar in einem multinationalen Militärkonvoi. Man wollte zu Schießplatz, um dort übliche Trainings zu absolvieren. Bei den Toten handelt es sich, so Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU), um den Leiter des Personenschutzkommandos der deutschen Botschaft, einen Oberkommissar des Bundeskriminalamtes (BKA), um einen weiteren zum BKA abgeordneten Obermeister sowie einen gleichrangigen Beamten der Bundespolizei. Ein weiterer zum BKA abgestellter Bundespolizist wurde verletzt, ist aber außer Lebensgefahr.

Das Bundeskriminalamt entsendet auf Antrag des Auswärtigen Amtes und auf Weisung des Bundesinnenministeriums Polizeibeamtinnen und -beamte des Bundes und der Länder an deutsche Auslandsvertretungen. Dort übernehmen sie den Schutz der politischen Mitarbeiter. Nach ND-Informationen hat das BKA derzeit 40 Beamte in Kabul. Schäuble betonte, dass die Beamten nichts mit der Ausbildung afghanischer Polizisten zu tun hatten. Doch der Minister merkte an: »Wir werden aber alle Maßnahmen zum Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte und zu deren Ausbildung ... gemeinsam mit unseren europäischen Partnern zielstrebig fortführen.«

Experten bezweifeln, dass die Strategie, die langfristig auch einen deutschen Ausstieg aus dem »Abenteuer Afghanistan« zum Ziel hat, aufgehen wird. Seit 2002 haben deutsche Polizisten rund 4000 höhere afghanische Polizeibeamte ausgebildet und weitere 14 000 geschult. Seit Mai 2007 zeichnet nun die EU für die Ausbildung verantwortlich. Seit Juni sind in ihrem Auftrag 160 deutsche Polizisten als Ausbilder in dem Bürgerkriegsland tätig. Doch zu ungleich sind die Aufwendungen. Der im Sinne von Demokratisierung auch im sechsten Jahr weitgehend ineffektive Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr kostet den Steuerzahler jährlich 450 Millionen Euro. Mit nur 80 Millionen Euro versucht Deutschland dagegen den zivilen Aufbau zu unterstützen. Drei Viertel davon verschlingt die Polizeiausbildung, der klägliche Rest kommt der traditionellen Entwicklungshilfe zu.

Anti-Terror-Experten kommen nicht umhin, den Taliban eine gewachsene Kampfkraft zu attestieren. Mit Geschick setzen sie auf die medial verstärkte Wirkung von Anschlägen in Heimatländern der Besatzer. Im September steht die Verlängerung deutscher Afghanistan-Mandate durch den Bundestag an. Weitgehend einig sind sich die darin vertretenen Parteien in der Verurteilung des Anschlages. Doch ergeben sich daraus kontroverse Folgerungen. Die Unionsfraktion verlautet: »Die internationale Gemeinschaft muss trotz dieser schrecklichen Rückschläge ihr Engagement fortsetzen – das liegt auch in unserem Sicherheitsinteresse.« Dagegen betont der Bundesgeschäftsführer der LINKEN, Dietmar Bartsch, der Anschlag sollte Anlass sein, die Mandate der Bundeswehr für ISAF und Enduring Freedom »nicht routiniert zu verlängern«, sondern »verstärkt auf friedliche, wirtschaftliche Aufbauhilfe zu setzen«.

Auch aus der FDP kommen Forderungen, den deutschen Einsatz nicht zu verlängern. So meint Wolfgang Kubicki, Mitglied des Bundesvorstandes und Chef der Kieler Landtagsfraktion gegenüber dem »Stern«: »Die Befriedung des Landes gelingt offenbar nicht. Die Deutschen werden immer mehr zu Angriffszielen, weil sie zunehmend als Besatzer betrachtet werden.« Der Chef der Gewerkschaft der Polizei, Konrad Freiberg, merkte an, deutsche Polizisten würden immer häufiger in krisengeschüttelte Länder geschickt. Er forderte die Regierung auf, deren Arbeit den gestiegenen Gefährdungslagen anzupassen, Lage-Analysen neu zu erstellen sowie Fragen der Ausstattung und Ausbildung dementsprechend zu klären.

* Aus: Neues Deutschland, 16. August 2007

Auszüge aus Presse-Kommentaren

Kalkül der Taliban

(...)
Wer, wie die Linke, dem Abzug aus Afghanistan das Wort redet, der stellt sich in der Konsequenz in diesem Machtkampf auf die Seite der mordenden Islamisten. Nur mit einem langen Atem kann man den Kampf bestehen. Demokratischen Gesellschaften fällt es naturgemäß schwer, diese Geduld aufzubringen und über einen längeren Zeitraum hinweg das Notwendige zu leisten.
Ein Abzug käme heute einer Flucht aus der Verantwortung gleich. Es ist gut, dass sich die maßgeblichen Parteien in Berlin darin einig sind. Selbst unter dem Eindruck des Mordes an den deutschen Polizisten.
Klaus-Dieter Frankenberger in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ), 16. August 2007

Wieder nur "Versöhnung"?

Wie viele Lektionen benötigen angebliche Weltmächte noch, um zu erkennen: Afghanistan ist nicht einmal mit Krieg westlich zu befrieden?! Das, was britische Kolonialherren lernen mussten, was die Sowjetunion zum Preis von 15 000 Toten erfahren hat, ist offenbar zu kompliziert, um NATO-Hirne zu erreichen.
Noch vor zwei Jahren hätte man hoffen können, dass die überlegenen Waffen siegreich sein werden. Doch bereits 2006 haben die Taliban die Entwicklung umgekehrt. Im Osten und Süden des Landes verdreifachte sich seither ihr Einflussgebiet. Die wachsende Anzahl von Selbstmord-Attentaten belegt, dass die Strategie der »Irakisierung« aufgeht. Es häufen sich Attacken auf Besatzer. Verheerendes erleben afghanische Militärs und Polizisten , so sie nicht davon- oder überlaufen. Selbst wenn deutsche Tornados weiter pro Tag ein Dutzend Einsätze fliegen, ein simples Rechenexperiment lässt die Sinnlosigkeit erahnen. Derzeit hat die NATO rund 40 000 Mann in Afghanistan, so viele wie zu heißesten Kosovo-Kampftagen. Nur: Die serbische Provinz ist 60 mal kleiner und viel übersichtlicher als das Land am Hindukusch. Als Gorbatschow abziehen ließ, belog er seine Landsleute wie afghanische Bundesgenossen mit einer Politik der »Nationalen Versöhnung«. Wie immer die NATO ihre Niederlage nennen wird, sie ist so gewiss wie das Elend, das danach noch brutalere Orgien feiert.
René Heilig in "Neues Deutschland, 16. August 2007

Doppelt schmerzhaft

(...)
Immer kürzer werden die Abstände, da die Deutschen Tote in Afghanistan betrauern müssen. Die nun ermordeten Polizisten sind dabei auch Opfer eines Kampfes um die öffentliche Meinung zu Hause geworden. Zwar hat es die einst so gefürchtete Frühjahrs-Offensive der Taliban nie gegeben. Stattdessen aber mühen sie sich, mit Anschlägen und Entführungen den Deutschen den Eindruck zu vermitteln, dass es am Hindukusch nur noch bergab geht und dass es ganz gut wäre, den Abzug vorzubereiten. Schaut man sich die Meinungsumfragen an, dann muss man leider auch konstatieren, dass die Strategie der Taliban so erfolglos nicht ist.
Der jüngste Anschlag ist für die Bundesregierung doppelt schmerzhaft. Zum einen steht die Debatte um die Verlängerung der drei Afghanistan-Mandate unmittelbar bevor. Zum anderen trifft es erstmals auch Polizisten, die - mit anderem Arbeitsauftrag als die Opfer - das Herzstück der neuen, ziviler ausgerichteten Strategie bilden sollen. Für die stärkere Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte wird Deutschland auch auf Freiwillige aus den Polizeien von Bund und Ländern angewiesen sein. Diese aber wissen nun, dass es in Afghanistan keinen sicheren Ort mehr gibt.
Rouven Schellenberger in "Frankfurter Rundschau", 16. August 2007

Was wollten wir noch gleich?

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Und nun: Rückzug?
Das ist die Überlegung, die am nächsten liegt. Ein Michael Moore kann das leicht fordern. Doch nachdem der Fehler ganz am Anfang gemacht wurde, nachdem der Westen offenkundig nicht genügend mit den USA debattiert hat, was wie in welcher Zeit erreicht werden soll und kann – gibt es da einen Weg zurück? Wäre er nicht gleichbedeutend damit, die beiden Länder dem Chaos zu überantworten und von den beiden Ländern aus Chaos in die großen Regionen zu tragen, auf dass die irgendwann unrettbar unregierbar sind? Widerspräche das nicht gerade jener höheren Moral, in der der Westen sonst zu handeln vorgibt? Müssen folglich nicht, im Gegenteil, die Anstrengungen noch erhöht werden?
Billionen Dollar, Hunderte Milliarden, haben die USA bereits für die Kriege ausgeben. Genauer: fürs Militär. So führt das nicht weiter. Soldaten sind keine Sozialarbeiter. Es zeigt sich, dass der Krieg gegen den Terror damit nicht zu gewinnen ist. Von Demokratie gar nicht mehr zu reden. Nein, die Illusion der Nähe, gespeist aus falsch verstandener Globalisierung via Internet, hat sich wie ein Schleier über die Ratio gelegt. Mangelndes Wissen vom Wirklichen, dazu Ignoranz aber sind unzivilisiert, auch undemokratisch. Darum ist es jetzt Zeit, für die Zukunft zu entscheiden – und von seiten des Westens Milliarden anders auszugeben: für projektbezogene zivile Hilfe in beiden Ländern und daheim für mehr Kenntnis über ferne Länder, Sitten und Gebräuche. Für eine Politik der Prävention. Denn egal, wie viele Soldaten man schickt – wer nicht respektiert wird, rebelliert.
Stephan-Andreas Casdorff in "Der Tagesspiegel" (online), 15. August 2007

Anschlag auf die Politik

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Andererseits ist die Zeit bis zum Herbst zu kurz für eine gründliche Strategiedebatte. Deshalb sollten alle drei Mandate zunächst verlängert werden, die Zeit bis zum nächsten Jahr dann aber genutzt werden, um gemeinsam mit den Verbündeten ein neues - und vor allem den Menschen im Land vermittelbares - Konzept zu entwickeln. Dazu könnte gehören, Isaf und OEF zusammenzulegen. In der militärischen Praxis und in der Wahrnehmung der Afghanen sind die Grenzen ohnehin längst verwischt.
Und dazu müsste gehören, auch gemäßigte Kräfte, die heute noch die Taliban unterstützen, in einen Friedensprozess einzubeziehen. Für diesen Vorschlag erntete der SPD-Vorsitzende Kurt Beck vor wenigen Monaten noch Hohn und Spott. Inzwischen macht sich die Erkenntnis breit, dass Guerrilla-Krieger wie die Taliban militärisch nicht zu besiegen sind. Man muss den Sumpf trockenlegen, aus dem sie sich rekrutieren - und das geht nur, indem man die Menschen überzeugt, dass sie unter der Führung des Westens und seiner afghanischen Unterstützer eine bessere Zukunft haben.
Peter Blechschmidt in: Süddeutsche Zeitung", 16. August 2007

Getötete Besatzer

(...)
Die Zeiten, in denen die deutsche Beteiligung an der Okkupation Afghanistans nicht als Kriegseinsatz, sondern als friedliche Aufbauhilfe gedeutet werden konnte, sind seit der Bundestagsentscheidung zur Entsendung der Tornado-Jäger endgültig vorbei. Es sind keine Entwicklungshelfer, die in Aufklärungsfliegern sitzen, um feindliche Zielobjekte zu identifizieren, sondern Beteiligte an einem barbarischen Bombenkrieg, dem überwiegend Zivilisten zum Opfer fallen. Der von den US-Truppen praktizierten Methode der Aufstandsbekämpfung ist das Kriegsverbrechen wesenseigen. Daraus ergibt sich der begründete Verdacht, daß sich Bundeswehrsoldaten an der Vorbereitung von Kriegsverbrechen beteiligen.
Der Tod der deutschen Kriminalbeamten wird die Debatte über die Sinnhaftigkeit des Afghanistan-Einsatzes intensivieren. Doch ist davon auszugehen, daß sie auf absehbare Zeit nicht mit einem Sieg der Kriegsgegner enden wird. Die deutschen Eliten sind voll auf die Antiterrorkampagne der USA, die in Wahrheit auf die Niederhaltung der in Opposition zur imperialistischen Weltordnung stehenden Nationen gerichtet ist, eingeschworen. Während Berlin in Sachen Irak nicht der Antiterrordemagogie der Amerikaner folgte, sieht es in der Besetzung Afghanistans eine ideale Projektionsfläche zur Bestätigung seiner Bündnistreue. Zum Gegenstand heftiger Diskussionen wurde Afghanistan erst, als die Unterwerfung des Landes nicht im erhofften Durchmarsch gelang. Die Kriegsfraktion wird die Front aber mit allen Mitteln zu behaupten versuchen. Denn ein Rückzug aus Afghanistan würde auf einen Sieg der überwiegend friedlich gesinnten deutschen Bevölkerung hinauslaufen. Und das empfände die herrschende Klasse als »demokratiepolitisch« äußerst bedenklich, ja als einen Triumph des »Populismus«.
Am Zustand, daß die Mehrheit der Wähler von Abgeordneten vertreten wird, deren Mehrheit den Mehrheitswillen ignoriert, soll und darf sich nichts ändern. Das läßt sich freilich auf Dauer nur durchziehen, wenn es einen All-Parteien-Konsens gegen die Interessen der Bevölkerungsmehrheit gibt. Den gibt es (noch) nicht. Deshalb haben neben seinen sozialen Ansagen vor allem auch seine Kriegsgegnerschaft Oskar Lafontaine zum Haßobjekt einer aggressiven Medienkampagne gemacht.
Werner Pirker in "junge Welt, 16. August 2007



Hier geht es zu einer Stellungnahme aus der Friedensbewegung:
Friedensbewegung fordert Kurswechsel der deutschen Afghanistanpolitik


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