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Zum Tod der Polizisten in Kabul: Friedensbewegung fordert Kurswechsel der deutschen Afghanistanpolitik

Pressemitteilung des Bundesausschusses Friedensratschlag

  • Afghanistan-Einsatz vollständig gescheitert aus vier Gründen:
    1. Afghanen lehnen Besatzer ab
    2. Eklatante Schieflage bei "zivil-militärischer" Kooperation (CIMIC)
    3. Zivile Hilfe nur, wenn Militär fern ist
    4. "CIMIC" macht zivile Helfer zu Gegnern und Anschlagszielen
  • Polizeiausbildung widersprüchlich
  • Bundesregierung grob fahrlässig
  • Friedensbewegung: Militär komplett zurückziehen!
Kassel, 16. August 2007 - Den Tod dreier deutscher Polizisten in Kabul nimmt der Bundesausschuss Friedensratschlag in einer ersten Stellungnahme zum Anlass, die Forderung der Friedensbewegung nach einem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan zu erneuern.

"Der Tod der drei deutschen Polizisten in Kabul hat zum wiederholten Mal deutlich gemacht, dass sich die deutsche Afghanistanpolitik in einer sicherheitspolitischen Sackgasse befindet", erklärte ein Sprecher des "Friedensratschlags" in Kassel. Die Bundesregierung habe von Anfang an, d.h. seit 2001, den Fehler gemacht, ihre "Antiterror"-Strategie an den von den USA initiierten und seither geführten sog. "Krieg gegen den Terror" zu binden. Die Beteiligung an der "Operation Enduring Freedom" und an der vom UN-Sicherheitsrat beschlossenen ISAF-Mission (beides seit Ende 2001) und der seit März d.J. laufende Tornado-Einsatz bilden das militärische Rückgrat des deutschen Engagements im ärmsten Land der Welt. Alle Absichtserklärungen, im "Schutz" des Militärs (derzeit rund 30.000 ISAF-Soldaten und ca. 10.000 OEF-Kräfte) den Aufbau rechtsstaatlicher und demokratischer Strukturen voran zu bringen, "müssen im Licht der realen Entwicklung als gescheitert gelten", so der Sprecher weiter.

Dafür gibt es nach Ansicht des Friedensratschlags vier Gründe:
  1. Der von den USA und einer "Koalition der Willigen" geführte Krieg und die andauernde Besetzung Afghanistans werden von der überwältigenden Mehrheit der afghanischen Bevölkerung abgelehnt. Afghanistan-Experten betonen immer wieder, wie feindselig Afghanen auf fremdländische Besatzer reagieren. Das haben bereits im 19. Jahrhundert die Engländer, und das haben zuletzt in den 80er Jahren die Sowjets zu spüren bekommen.
  2. Das NATO-Konzept der zivil-militärischen Zusammenarbeit ist von Grund auf eine Fehlgeburt, weil die "zivile" Komponente sich jederzeit der militärischen unterzuordnen hat. Und dies nicht nur in der Befehlskette. Auch das Verhältnis von Kriegsaufwendungen zu zivilen humanitären Ausgaben offenbart eine eklatante Schieflage zuungunsten der zivilen Hilfe. Unterschiedliche Quellen kommen übereinstimmend zum Ergebnis, dass mindestens zehn Mal so viel für den Krieg ausgegeben wird wie für den regionalen Wiederaufbau.
  3. Zivile Hilfsorganisationen wie "Caritas International", das "Rote Kreuz", "medico international" oder die "Kinderhilfe Afghanistan" fordern für ihre Arbeit strikte Neutralität und Militärferne. Nur dort, wo kein ausländisches Militär sichtbar ist, könne auch zivile Aufbauarbeit gedeihen.
  4. Demgegenüber macht die enge zivil-militärische Kooperation (NATO-Jargon: CIMIC) die zivilen Helfer in den Augen des afghanischen Widerstands zu Kombattanten und damit zu Gegnern. Immer häufiger geraten sie ins Visier krimineller Banden, terroristischer Gruppierungen oder eines nicht exakt zu definierenden "bewaffneten Widerstands" in Afghanistan.
Was die Polizistenausbildung betrifft, so ist erst vor wenigen Tagen eine Studie einer unabhängigen britischen NGO erschienen (Afghanistan Research and Evaluation Unit - AREU), wonach der EU und der - hauptverantwortlichen - Bundesregierung ein denkbar schlechtes Zeugnis ausgestellt wird. Der Titel der Studie - "Cops or Robbers?" deutet schon auf das zumindest widersprüchliche Ergebnis des bisherigen Aufbaus ziviler Sicherheitskräfte hin.

Die Bundesregierung setzt sich über alle Bedenken von Seiten unabhängiger Experten, NGOs, humanitärer Organisationen und - nicht zuletzt - der Friedensbewegung hinweg. Ihr einziges Rezept lautet: "Augen zu und durch". Durchhalten um jeden Preis, vielleicht sogar ein Aufstocken der "Sicherheitskomponente" (also noch mehr Soldaten): Diese Strategie grenzt an grobe Fahrlässigkeit und nimmt den Tod weiterer Soldaten, Polizisten und ziviler Aufbauhelfer in Kauf.

Die Friedensbewegung wird anlässlich der im Herbst bevorstehenden Verlängerung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan ihre Aktivitäten versärken, um Parlament und Regierung zu einem Kurswechsel ihrer Afghanistanpolitik zu bewegen. Dem Totschlagargument: "Ja, wollt ihr denn Afghanistan wieder den verbrecherischen Taliban und dem Chaos überlassen?!" hält der Sprecher des "Friedensratschlags" entgegen, dass "das Chaos bereits herrscht und heute schon gestorben wird". Es gebe keine andere Lösung als dass sich Deutschland so schnell wie möglich aus dem militärischen Teil des Afghanistan-Engagements komplett zurückzieht. Deutschland wäre gut beraten, in den Gebieten, wo dies möglich ist und nur wo dies ausdrücklich gewünscht wird, humanitäre, wirtschaftliche und soziale Projekte einschließlich eines anreizbezogenen Ersatzes von Schlafmohnanbau zu fördern.

Der Bundesausschuss Friedensratschlag beteiligt sich aktiv an der Vorbereitung einer bundesweiten Demonstration in Berlin am 15. September. Sie steht unter dem Motto: "Für Frieden in Afghanistan - Bundeswehr raus!"

Für den Bundesausschuss Friedensratschlag:
Peter Strutynski (Sprecher)


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