100 zu eins für die NATO
Von Knut Mellenthin *
Angesichts steigender Verluste auf beiden Seiten und vor allem in der
Bevölkerung hat NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen am Wochenende
die Entschlossenheit der westlichen Kriegsallianz bekräftigt, um jeden
Preis und auf unabsehbare Zeit in Afghanistan zu bleiben. Die
Niederschlagung der Aufstandsbewegung sei »von entscheidender Bedeutung
für die Sicherheit« aller 42 Staaten, die dort militärisch präsent sind.
Darunter ist auch Deutschland mit 3900 Soldaten.
Der afghanischen Bevölkerung, deren Land schon seit 30 Jahren
ununterbrochen Kriegsschauplatz ist, soll auch künftig nichts erspart
bleiben. General David Richards, der Ende des Monats die Leitung der
britischen Armee übernimmt, sagte am 10. August in einem Interview mit
der Times voraus, daß Großbritannien noch 30 bis 40 Jahre in Afghanistan
aktiv sein wird. Den Zeitraum, in dem ausländische Truppen im Land
bleiben, schätzte er allerdings auf »nur« 15 bis 20 Jahre. Der deutsche
Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) meinte vor einer Woche, die
Bundeswehr werde noch bis zu zehn Jahren in dem mittelasiatischen Land
bleiben müssen. Letztlich wird Deutschland seine Soldaten aber
höchstwahrscheinlich bis zum bitteren Ende am Hindukusch lassen - und
darüber wird nicht in Berlin entschieden, sondern in Washington.
Die britischen Streitkräfte haben am Wochenende in Afghanistan ihren
200. und 201. Soldaten verloren. Zwei Drittel der britischen Bevölkerung
befürworten nach einer Umfrage, die die Times im Juli durchführen ließ,
den Abzug der 9000 Soldaten sofort oder innerhalb eines Jahres. Die
maßgeblichen Politiker und Militärs beeindruckt das nicht im geringsten.
Oberst Richard Kemp, der im Jahr 2003 Befehlshaber der britischen
Streitkräfte in Afghanistan war, tröstete am Sonntag (16. Aug.)
gegenüber dem Sender BBC über die hohen eigenen Verluste mit dem
Argument hinweg, die der Gegenseite seien sehr viel höher. Manchmal
könne man, in bezug auf die Zahl der Toten, von einem Verhältnis 100 zu
eins zugunsten der NATO ausgehen.
Im Weißen Haus und im Pentagon wird man die Dinge ähnlich sehen.
Bewaffnung, Kommunikationstechnologie, Eigensicherung und nicht zuletzt
die permanente Einsatzfähigkeit der Luftwaffe machen den Kampf so
einseitig wie einen klassischen Kolonialkrieg. Daraus ergibt sich die
hohe Zuversicht, die militärische Konfrontation auch noch weitere 10, 20
oder sogar 30 Jahre durchzustehen, obwohl sie als »Kampf um die Herzen
und Hirne der Menschen«, wie es in der Kriegspropaganda immer heißt,
bereits verloren ist.
Indessen ist wenige Tage vor der zweiten Präsidentenwahl, die am
Donnerstag (20. Aug.) stattfinden soll, ungewiß, ob diese nicht zu einem
politischen Debakel für die NATO wird. Nach Schätzung der Zentralen
Wahlkommission könnten mehr als zehn Prozent der rund 7000 Wahllokale am
20.August aus Sicherheitsgründen geschlossen bleiben. Angesichts der
Tatsache, daß mindestens 160 der 364 Bezirke Afghanistans als
Einflußbereich der Aufständischen gelten, also annähernd die Hälfte des
Landes, erscheint die Einschätzung der Wahlkommission als sehr
optimistisch. Im Jahre 2003 hatte die NATO nur 30 Bezirke in diese
Kategorie eingestuft. Nicht der Wahlsieger - der in jedem Fall eine
Marionette der NATO sein wird -, sondern die Wahlbeteiligung wird im
Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit stehen. Ein Grund mehr, davon
auszugehen, daß diese massiv gefälscht werden wird.
* Aus: junge Welt, 17. August 2009
Tödliche Botschaften vor der Wahl
Taliban wollen Stimmlokale in Afghanistan angreifen / Anschlag auf NATO-Quartier in Kabul
Von René Heilig **
Der Wahlkampf in Afghanistan geht in seine heisse und zunehmend tödliche
Phase. Erstmals haben Taliban-Kräfte gedroht, bei der Präsidentenwahl am
kommenden Donnerstag Wahllokale direkt anzugreifen.
Um den störungsfrei gewollten Verlauf der Abstimmung zu sichern, sind
200 000 afghanische Sicherheitskräfte sowie etwa 100 000 fremde Soldaten
im Einsatz. Doch deren Sicherheitsgarantie ist relativ gering. Am
Wochenende wurden zunächst im Süden des Landes Taliban-Flugblätter an
die »geschätzen Einwohner« verteilt. Sie sollten wissen: Wer an den
Wahlen teilnehme, könne »Opfer unserer Operationen werden«.
Wählen kann also lebensgefährlich und dennoch nicht demokratisch sein.
In umkämpften Gebieten - auch im von der Bundeswehr verwalteten Norden -
bleiben viele Wahlstützpunkte geschlossen. Von den geplanten knapp 7000
Abstimmungszentren öffnen vermutlich nur 6200, teilte die afghanische
Wahlkommission bereits Ende vergangener Woche mit.
Das hat offenbar damit zu tun, dass Absprachen mit Stammesältesten, über
die der jüngere Bruder von Präsident Hamid Karzai, Ahmed Wali Karzai,
berichtet hatte, dementiert oder von den Taliban als nichtig bewertet
wurden.
Wie ernst die Warnungen der bewaffneten Opposition sind, zeigte am
Samstagmorgen - fünf Tage vor der Präsidentschaftswahl - ein Anschlag
auf das NATO-Hauptquartier in Kabul. Mindestens sieben Menschen wurden
getötet, über 90 verletzt. In dem stark gesicherten Areal sind neben dem
Präsidentenpalast auch die US-Botschaft untergebracht. Bei einem
Feuergefecht im nordafghanischen Kundus wurde laut Bundeswehr ein
deutscher Soldat leicht verletzt.
Unterdessen wird in Deutschland erneut harsche Kritik an dem deutschen
Afghanistaneinsatz geübt. So wie Amnesty International protestiert der
Chef der deutschen Welthungerhilfe, Wolfgang Jamann. Er bezeichnete die
so genannte zivil-militärische Zusammenarbeit der Bundeswehr als
»Sündenfall« und forderte eine strikte Trennung von Militäreinsätzen und
Entwicklungshilfe. Der einstige Bundesverteidigungsminister Volker Rühe
(CDU) nannte Deutschlands Militäreinsatz »ein Desaster« für die NATO,
Deutschland und die Soldaten.
* Aus: Neues Deutschland, 17. August 2009
Wahl ohne Wahl
Blutiger Anschlag in Kabul
Von Werner Pirker ***
Zwei Kontrollposten der Polizei hatten die Attentäter zu passieren,
bevor sie vor dem NATO-Hauptquartier in Kabul die Bombe, die mindestens
sieben Menschen das Leben kostete und mehr als hundert verletzte, zur
Explosion brachten. Die Taliban, die sich zu dem Anschlag bekannten,
erbrachten damit den Beweis, daß sie bis ins Zentrum der Besatzungsmacht
vorzudringen in der Lage sind. Es ist freilich der Fluch terroristischer
Aktionen, daß ihnen zumeist unschuldige Zivilisten, darunter Kinder, zum
Opfer fallen.
Der Zeitpunkt - fünf Tage vor den Präsidentenwahlen in Afghanistan -
läßt über die Motive der Täter keinen Zweifel offen. Der bewaffnete
afghanische Widerstand betrachtet Wahlen unter Bedingungen eines
Besatzungsregimes als illegitim und möchte die Kriegssituation, in der
sie stattfinden, deutlich sichtbar machen. Die Taliban-Kämpfer wollen
die Präsenz von 100000 NATO-Soldaten nicht als Entwicklungshilfe
verstanden wissen, sondern als militärische Aggression des westlichen
Auslands.
Im Land am Hindukusch existieren nicht die geringsten Voraussetzungen
für freie und faire Wahlen. Zum einen, weil die Veranstalter der Wahlen
als Wahlsieger bereits feststehen. Zum anderen, weil die Staatsmacht,
die sie ausrichtet, nur einen Teil des Landes unter ihrer Kontrolle hat.
So richtig eigentlich nur die Hauptstadt und ihre Umgebung. Der Rest
Afghanistans wird entweder von mehr oder wenigen loyalen Warlords
beherrscht oder von den Widerstandskräften kontrolliert. Wahlen unter
Besatzungsbedingungen können keinen Akt demokratischer Selbstbestimmung
darstellen. Der Fremdherrschaft soll vielmehr ein demokratisches
Mäntelchen umgehängt werden, um sie als vom Volk legitimierte Macht und
die nationale Unterwerfung als Einführung der Demokratie erscheinen zu
lassen.
Es ist ja nicht das erste Mal, daß in Afghanistan nach westlichem
Vorbild gewählt wird. Eine demokratische, volksnahe Verwaltung hat die
vergangene Präsidentenkür nicht hervorgebracht. Hamid Karsai wurde
gewählt und wird wohl wieder siegen, weil den Stimmberechtigten nur die
Wahl zwischen Kollaborateuren gelassen wird. Was bei dieser Wahl ohne
Wahl herauskommt, ist das gleiche, wie wenn nicht gewählt werden würde.
Daß der Präsdident und sein zutiefst korrupter Anhang bei der Lösung so
gut wie aller Probleme katastrophal versagt haben, wird nicht einmal von
ihren Mentoren bestritten. Das Scheitern der politischen und sozialen
Befriedung Afghanistan hat nicht den nationalen Widerstand zur primären
Ursache. Denn erst das Versagen der westlichen Ordnungsmächte und ihrer
Kostgänger hat die Besatzungsgegener, die sich anfangs nur im Süden
bemerkbar gemacht haben, zur gesamtnationalen Kraft gemacht.
An dieser Situation wird auch ein Mehr an Besatzung, wie es von
US-Präsident Barack Obama, aber auch von der Regierung in Berlin
gewünscht wird, nichts ändern können. Afghanistan hat bisher noch jedes
Besatzungsregime abgeschüttelt.
*** Aus: junge Welt, 17. August 2009
Intellektuelle Feigheit
Von René Heilig ****
Vor zwei Wochen hat der in Köln lebende Richard David Precht im
»Spiegel« ein gescheites Essay zum notwendigen Ende des
Afghanistan-Krieges geschrieben. Sein Titel: »Feigheit vor dem Volk«.
Nun erhielt er per Leserbriefe Antworten. Unter anderem eine von
Ruprecht Polenz, CDU-Bundestagsabgeordneter und Chef des Auswärtigen
Parlamentsausschusses. Das beste, was man über seine Erwiderung sagen
kann, ist: Polenz ist nicht feige. Doch ist er auch nicht Volk, sonst
würde er ja wollen, dass die Bundeswehrsoldaten heimgeholt werden. Nein,
er lässt nur übliche Polit-Stanzen über die Notwendigkeit des Feldzuges
ab und beweist: Seine CDU (und da ist sie von SPD und FDP kaum
Millimeter entfernt) ist einfach intellektuell überfordert.
Typisch Union? Das wäre ungerecht. Auch in deren Reihen finden sich
Leute mit bekanntem Namen, die gelernt haben, ihren Verstand zu nutzen.
Beispiel: Volker Rühe. Das war jener Verteidigungsminister, der damit
begonnen hat, die Bundeswehr richtig fit zu machen für
globalstrategische Abenteuer. Freilich, in der Frage leistet er keine
Abbitte, doch in Sachen Afghanistan lässt er sich von Realitäten
beraten. Nicht so konsequent wie die LINKE, doch auch Rühe fordert: Raus
aus dem Hindukusch! Wenn der das kann, fragt man sich schon: Wieso
fühlen sich in Deutschland so wenige echte Intellektuelle
herausgefordert? Liegt es daran, dass es keine mehr gibt, oder daran,
dass sie zu feige sind?
**** Aus: Neues Deutschland, 17. August 2009 (Kommentar)
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