Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

100 zu eins für die NATO

Von Knut Mellenthin *

Angesichts steigender Verluste auf beiden Seiten und vor allem in der Bevölkerung hat NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen am Wochenende die Entschlossenheit der westlichen Kriegsallianz bekräftigt, um jeden Preis und auf unabsehbare Zeit in Afghanistan zu bleiben. Die Niederschlagung der Aufstandsbewegung sei »von entscheidender Bedeutung für die Sicherheit« aller 42 Staaten, die dort militärisch präsent sind. Darunter ist auch Deutschland mit 3900 Soldaten.

Der afghanischen Bevölkerung, deren Land schon seit 30 Jahren ununterbrochen Kriegsschauplatz ist, soll auch künftig nichts erspart bleiben. General David Richards, der Ende des Monats die Leitung der britischen Armee übernimmt, sagte am 10. August in einem Interview mit der Times voraus, daß Großbritannien noch 30 bis 40 Jahre in Afghanistan aktiv sein wird. Den Zeitraum, in dem ausländische Truppen im Land bleiben, schätzte er allerdings auf »nur« 15 bis 20 Jahre. Der deutsche Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) meinte vor einer Woche, die Bundeswehr werde noch bis zu zehn Jahren in dem mittelasiatischen Land bleiben müssen. Letztlich wird Deutschland seine Soldaten aber höchstwahrscheinlich bis zum bitteren Ende am Hindukusch lassen - und darüber wird nicht in Berlin entschieden, sondern in Washington.

Die britischen Streitkräfte haben am Wochenende in Afghanistan ihren 200. und 201. Soldaten verloren. Zwei Drittel der britischen Bevölkerung befürworten nach einer Umfrage, die die Times im Juli durchführen ließ, den Abzug der 9000 Soldaten sofort oder innerhalb eines Jahres. Die maßgeblichen Politiker und Militärs beeindruckt das nicht im geringsten. Oberst Richard Kemp, der im Jahr 2003 Befehlshaber der britischen Streitkräfte in Afghanistan war, tröstete am Sonntag (16. Aug.) gegenüber dem Sender BBC über die hohen eigenen Verluste mit dem Argument hinweg, die der Gegenseite seien sehr viel höher. Manchmal könne man, in bezug auf die Zahl der Toten, von einem Verhältnis 100 zu eins zugunsten der NATO ausgehen.

Im Weißen Haus und im Pentagon wird man die Dinge ähnlich sehen. Bewaffnung, Kommunikationstechnologie, Eigensicherung und nicht zuletzt die permanente Einsatzfähigkeit der Luftwaffe machen den Kampf so einseitig wie einen klassischen Kolonialkrieg. Daraus ergibt sich die hohe Zuversicht, die militärische Konfrontation auch noch weitere 10, 20 oder sogar 30 Jahre durchzustehen, obwohl sie als »Kampf um die Herzen und Hirne der Menschen«, wie es in der Kriegspropaganda immer heißt, bereits verloren ist.

Indessen ist wenige Tage vor der zweiten Präsidentenwahl, die am Donnerstag (20. Aug.) stattfinden soll, ungewiß, ob diese nicht zu einem politischen Debakel für die NATO wird. Nach Schätzung der Zentralen Wahlkommission könnten mehr als zehn Prozent der rund 7000 Wahllokale am 20.August aus Sicherheitsgründen geschlossen bleiben. Angesichts der Tatsache, daß mindestens 160 der 364 Bezirke Afghanistans als Einflußbereich der Aufständischen gelten, also annähernd die Hälfte des Landes, erscheint die Einschätzung der Wahlkommission als sehr optimistisch. Im Jahre 2003 hatte die NATO nur 30 Bezirke in diese Kategorie eingestuft. Nicht der Wahlsieger - der in jedem Fall eine Marionette der NATO sein wird -, sondern die Wahlbeteiligung wird im Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit stehen. Ein Grund mehr, davon auszugehen, daß diese massiv gefälscht werden wird.

* Aus: junge Welt, 17. August 2009


Tödliche Botschaften vor der Wahl

Taliban wollen Stimmlokale in Afghanistan angreifen / Anschlag auf NATO-Quartier in Kabul

Von René Heilig **


Der Wahlkampf in Afghanistan geht in seine heisse und zunehmend tödliche Phase. Erstmals haben Taliban-Kräfte gedroht, bei der Präsidentenwahl am kommenden Donnerstag Wahllokale direkt anzugreifen.

Um den störungsfrei gewollten Verlauf der Abstimmung zu sichern, sind 200 000 afghanische Sicherheitskräfte sowie etwa 100 000 fremde Soldaten im Einsatz. Doch deren Sicherheitsgarantie ist relativ gering. Am Wochenende wurden zunächst im Süden des Landes Taliban-Flugblätter an die »geschätzen Einwohner« verteilt. Sie sollten wissen: Wer an den Wahlen teilnehme, könne »Opfer unserer Operationen werden«.

Wählen kann also lebensgefährlich und dennoch nicht demokratisch sein. In umkämpften Gebieten - auch im von der Bundeswehr verwalteten Norden - bleiben viele Wahlstützpunkte geschlossen. Von den geplanten knapp 7000 Abstimmungszentren öffnen vermutlich nur 6200, teilte die afghanische Wahlkommission bereits Ende vergangener Woche mit.

Das hat offenbar damit zu tun, dass Absprachen mit Stammesältesten, über die der jüngere Bruder von Präsident Hamid Karzai, Ahmed Wali Karzai, berichtet hatte, dementiert oder von den Taliban als nichtig bewertet wurden.

Wie ernst die Warnungen der bewaffneten Opposition sind, zeigte am Samstagmorgen - fünf Tage vor der Präsidentschaftswahl - ein Anschlag auf das NATO-Hauptquartier in Kabul. Mindestens sieben Menschen wurden getötet, über 90 verletzt. In dem stark gesicherten Areal sind neben dem Präsidentenpalast auch die US-Botschaft untergebracht. Bei einem Feuergefecht im nordafghanischen Kundus wurde laut Bundeswehr ein deutscher Soldat leicht verletzt.

Unterdessen wird in Deutschland erneut harsche Kritik an dem deutschen Afghanistaneinsatz geübt. So wie Amnesty International protestiert der Chef der deutschen Welthungerhilfe, Wolfgang Jamann. Er bezeichnete die so genannte zivil-militärische Zusammenarbeit der Bundeswehr als »Sündenfall« und forderte eine strikte Trennung von Militäreinsätzen und Entwicklungshilfe. Der einstige Bundesverteidigungsminister Volker Rühe (CDU) nannte Deutschlands Militäreinsatz »ein Desaster« für die NATO, Deutschland und die Soldaten.

* Aus: Neues Deutschland, 17. August 2009


Wahl ohne Wahl

Blutiger Anschlag in Kabul

Von Werner Pirker ***


Zwei Kontrollposten der Polizei hatten die Attentäter zu passieren, bevor sie vor dem NATO-Hauptquartier in Kabul die Bombe, die mindestens sieben Menschen das Leben kostete und mehr als hundert verletzte, zur Explosion brachten. Die Taliban, die sich zu dem Anschlag bekannten, erbrachten damit den Beweis, daß sie bis ins Zentrum der Besatzungsmacht vorzudringen in der Lage sind. Es ist freilich der Fluch terroristischer Aktionen, daß ihnen zumeist unschuldige Zivilisten, darunter Kinder, zum Opfer fallen.

Der Zeitpunkt - fünf Tage vor den Präsidentenwahlen in Afghanistan - läßt über die Motive der Täter keinen Zweifel offen. Der bewaffnete afghanische Widerstand betrachtet Wahlen unter Bedingungen eines Besatzungsregimes als illegitim und möchte die Kriegssituation, in der sie stattfinden, deutlich sichtbar machen. Die Taliban-Kämpfer wollen die Präsenz von 100000 NATO-Soldaten nicht als Entwicklungshilfe verstanden wissen, sondern als militärische Aggression des westlichen Auslands.

Im Land am Hindukusch existieren nicht die geringsten Voraussetzungen für freie und faire Wahlen. Zum einen, weil die Veranstalter der Wahlen als Wahlsieger bereits feststehen. Zum anderen, weil die Staatsmacht, die sie ausrichtet, nur einen Teil des Landes unter ihrer Kontrolle hat. So richtig eigentlich nur die Hauptstadt und ihre Umgebung. Der Rest Afghanistans wird entweder von mehr oder wenigen loyalen Warlords beherrscht oder von den Widerstandskräften kontrolliert. Wahlen unter Besatzungsbedingungen können keinen Akt demokratischer Selbstbestimmung darstellen. Der Fremdherrschaft soll vielmehr ein demokratisches Mäntelchen umgehängt werden, um sie als vom Volk legitimierte Macht und die nationale Unterwerfung als Einführung der Demokratie erscheinen zu lassen.

Es ist ja nicht das erste Mal, daß in Afghanistan nach westlichem Vorbild gewählt wird. Eine demokratische, volksnahe Verwaltung hat die vergangene Präsidentenkür nicht hervorgebracht. Hamid Karsai wurde gewählt und wird wohl wieder siegen, weil den Stimmberechtigten nur die Wahl zwischen Kollaborateuren gelassen wird. Was bei dieser Wahl ohne Wahl herauskommt, ist das gleiche, wie wenn nicht gewählt werden würde. Daß der Präsdident und sein zutiefst korrupter Anhang bei der Lösung so gut wie aller Probleme katastrophal versagt haben, wird nicht einmal von ihren Mentoren bestritten. Das Scheitern der politischen und sozialen Befriedung Afghanistan hat nicht den nationalen Widerstand zur primären Ursache. Denn erst das Versagen der westlichen Ordnungsmächte und ihrer Kostgänger hat die Besatzungsgegener, die sich anfangs nur im Süden bemerkbar gemacht haben, zur gesamtnationalen Kraft gemacht.

An dieser Situation wird auch ein Mehr an Besatzung, wie es von US-Präsident Barack Obama, aber auch von der Regierung in Berlin gewünscht wird, nichts ändern können. Afghanistan hat bisher noch jedes Besatzungsregime abgeschüttelt.

*** Aus: junge Welt, 17. August 2009


Intellektuelle Feigheit

Von René Heilig ****

Vor zwei Wochen hat der in Köln lebende Richard David Precht im »Spiegel« ein gescheites Essay zum notwendigen Ende des Afghanistan-Krieges geschrieben. Sein Titel: »Feigheit vor dem Volk«. Nun erhielt er per Leserbriefe Antworten. Unter anderem eine von Ruprecht Polenz, CDU-Bundestagsabgeordneter und Chef des Auswärtigen Parlamentsausschusses. Das beste, was man über seine Erwiderung sagen kann, ist: Polenz ist nicht feige. Doch ist er auch nicht Volk, sonst würde er ja wollen, dass die Bundeswehrsoldaten heimgeholt werden. Nein, er lässt nur übliche Polit-Stanzen über die Notwendigkeit des Feldzuges ab und beweist: Seine CDU (und da ist sie von SPD und FDP kaum Millimeter entfernt) ist einfach intellektuell überfordert.

Typisch Union? Das wäre ungerecht. Auch in deren Reihen finden sich Leute mit bekanntem Namen, die gelernt haben, ihren Verstand zu nutzen. Beispiel: Volker Rühe. Das war jener Verteidigungsminister, der damit begonnen hat, die Bundeswehr richtig fit zu machen für globalstrategische Abenteuer. Freilich, in der Frage leistet er keine Abbitte, doch in Sachen Afghanistan lässt er sich von Realitäten beraten. Nicht so konsequent wie die LINKE, doch auch Rühe fordert: Raus aus dem Hindukusch! Wenn der das kann, fragt man sich schon: Wieso fühlen sich in Deutschland so wenige echte Intellektuelle herausgefordert? Liegt es daran, dass es keine mehr gibt, oder daran, dass sie zu feige sind?

**** Aus: Neues Deutschland, 17. August 2009 (Kommentar)


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