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Befehlshaberin dankt ihren Soldaten

Merkel in Afghanistan: "So etwas kannten wir seit dem Zweiten Weltkrieg nicht" *

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat beim Truppenbesuch in Afghanistan erstmals von »Krieg« gesprochen. Ein 21-jähriger Bundeswehr-Soldat starb am Freitag (17. Dez.) durch einen Unfall. Am Sonntag (19. Dez.) kam es zu schweren Angriffen auf afghanische Sicherheitskräfte.

Bei einem Truppenbesuch in Kundus hat Bundeskanzlerin Angela Merkel erstmals von einem »Krieg« in Afghanistan gesprochen. »Wir haben hier nicht nur kriegsähnliche Zustände, sondern Sie sind in Kämpfe verwickelt, wie man sie im Krieg hat«, sagte Merkel am Samstag (18. Dez.)vor mehreren hundert Soldaten im Feldlager der Bundeswehr. »Das ist für uns eine völlig neue Erfahrung. Wir haben das sonst von unseren Eltern gehört im Zweiten Weltkrieg.« Das sei aber eine andere Situation gewesen, weil Deutschland damals Angreifer war. Merkel sprach den Soldaten bei ihrem Besuch ihre Anerkennung aus. »Der Grund, warum ich auch hier bin, ist Ihnen Dankeschön zu sagen.«

Überschattet wurde der Besuch vom Tod eines 21-jährigen Bundeswehr-Soldaten am Freitag. Nach ersten Untersuchungen wurde der Mann nach einem Einsatz beim Waffenreinigen durch den versehentlich ausgelösten Schuss eines Kameraden getötet. In Afghanistan starben seit Beginn des Einsatzes vor neun Jahren insgesamt 45 Bundeswehr-Soldaten, 27 von ihnen bei Gefechten und Anschlägen.

Die Äußerungen der Kanzlerin zum Krieg nahm der Vorsitzende der Linksfraktion, Gregor Gysi, zum Anlass, den sofortigen Abzug aller Bundeswehrsoldaten zu fordern. Dies sei die einzig mögliche Konsequenz aus der Erklärung der Kanzlerin, sagte Gysi der »Berliner Zeitung« (Montagsausgabe). Die große Mehrheit der Bundesbürger habe dies schon lange gewusst und für diese Erkenntnis nicht so lange benötigt wie die Kanzlerin, sagte Gysi.

Merkel solle den Soldaten in Afghanistan vor Ort erklären, »dass der anvisierte Terminplan für den Abzug, beginnend im Jahr 2011 und endend im Jahr 2014, ein verbindlicher ist«, sagte der verteidigungspolitische Sprecher der SPD, Rainer Arnold, laut einem Zeitungsbericht. Auch Außenminister Guido Westerwelle (FDP) beharrte auf dem Abzug der Bundeswehr ab 2011 – und wurde von der Kanzlerin gebremst. »Das setzt voraus, dass die Lage auch so ist, dass man das verantworten kann.« Merkel nannte als ersten möglichen Termin »Ende 2011/2012«.

Einen Tag nach Merkels Abreise aus Nordafghanistan griffen Selbstmordkommandos der Taliban am Sonntag die afghanische Armee in Kundus und in Kabul an. Mindestens elf Angehörige der Sicherheitskräfte und fünf Angreifer starben. Ziel der Taliban in Kundus war ein Rekrutierungszentrum der afghanischen Armee in der Stadt. »Vier Armeesoldaten und zwei Polizisten wurden bei dem Schusswechsel mit den Selbstmordattentätern getötet«, sagte der Polizeichef der nordafghanischen Provinz Kundus, Abdul Rahman Sayedkhili. Ein dpa-Reporter sagte, auch einige Bundeswehr-Soldaten hätten die afghanischen Sicherheitskräfte unterstützt. Das Einsatzführungskommando in Potsdam teilte dagegen mit, deutsche Kräfte seien nicht beteiligt gewesen. In der Hauptstadt Kabul griffen am Sonntag zwei Selbstmordattentäter der Taliban einen Bus mit afghanischen Soldaten an. Fünf Soldaten wurden getötet und neun weitere verwundet.

* Aus: Neues Deutschland, 20. Dezember 2010


Schöne Bescherung

Von Rüdiger Göbel **

Kurz vor Weihnachten stehen Promis und Politiker offensichtlich Schlange, um an der Seite deutscher Soldaten in Afghanistan gesehen zu werden. Nach der Stippvisite von Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) mit Frau Stephanie und TV-Moderator Johannes B. Kerner am vergangenen Montag (13. Dez.) hat sich am Samstag (18. Dez.) Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Gruppenbild an den Hindukusch begeben. Fehlt nur noch Außenminister Guido Westerwelle (FDP), dann ist von jeder Regierungspartei ein Spitzenpolitiker an der Front gewesen. Und Generalinspekteur Volker Wieker persönlich sorgt dafür, daß die Soldaten in ihren Feldlagern mit Tannenbäumen aus der Heimat versorgt werden.

Weil Reisen bekanntlich bildet, wartete die Regierungschefin mit ihrem persönlichen Erkenntnisgewinn des Wochenendes auf. Nach Gesprächen mit Soldaten über deren Gefechte in den vergangenen Wochen sagte die CDU-Politikerin im Militärlager in Kundus: »Wir haben hier nicht nur kriegsähnliche Zustände, sondern Sie sind in Kämpfe verwickelt, wie man sie im Krieg hat.« Neun Jahre nach Beginn des Afghanistan-Einmarsches betonte die Regierungschefin: »Das ist für uns eine völlig neue Erfahrung. Wir haben das sonst von unseren Eltern gehört im Zweiten Weltkrieg.« Das sei aber eine andere Situation gewesen, weil Deutschland damals der Angreifer gewesen sei …

Die Kanzlerin räumte ein, daß die Bevölkerung den Einsatz »zum Teil skeptisch« sehe – bekanntlich lehnen ihn 71 Prozent ab –, »und trotzdem ist sie stolz auf Sie«. Woher sie letzteres nimmt, bleibt unklar.

Derweil schmollt die SPD, die 2001 zusammen mit Bündnis 90/Die Grünen die Beteiligung Deutschlands am US-geführten Afghanistan-Krieg beschlossen hatte, weil sie in der Adventszeit nicht mit an die Front genommen wird. Wenn Abgeordnete den Verteidigungsminister begleiteten, sei es bislang gerade bei Besuchen in der Vorweihnachtszeit »guter Brauch« gewesen, Mitglieder aller Fraktionen zu berücksichtigen, zitierte die Welt am Sonntag aus einem Schreiben des SPD-Wehrpolitikers Rainer Arnold. Auch die SPD habe einen Anspruch auf die Gelegenheit, den Soldaten im Einsatz Anerkennung und Dank zu überbringen.

Die Truppe vor Ort scheint fidel: »Bei uns herrscht trotz aller Belastungen eine gute Weihnachtsstimmung. Wir rücken zusammen«, zitierte die Agentur dapd den im afghanischen Faisabad stationierten Major Matthias Stiffel am Wochenende. Neben den Päckchen und Grüßen von den Lieben zu Hause hätten die Soldaten »auch viele Geschenke und Aufmerksamkeiten von uns völlig fremden Leuten aus der Heimat bekommen. Sie versicherten, daß sie sich uns verbunden fühlen. Das hat uns sehr motiviert«, so Stiffel. Die Truppe freue sich schon auf das Krippenspiel mit einer »echten« Maria, gespielt von einer Soldatin. Ein Glas Glühwein oder ein Bier soll es am 24. Dezember geben – die ständige Gefechtsbereitschaft müsse schließlich gewährleistet sein.

Am Sonntag (19. Dez.) attackierten Aufständische in der Provinz Kundus ein afghanisches Rekrutierungsbüro. Dabei wurden nach Behördenangaben mindestens acht afghanische Soldaten und Polizisten getötet. Ein zweiter Anschlag am Rand der Hauptstadt Kabul tötete fünf afghanische Heeresoffiziere. Am Freitag abend war ein deutscher Soldat während einer Notoperation im Feldlager ­Pol-e-Chomri gestorben. Nach Angaben des Einsatzführungskommandos steht sein Tod nicht im Zusammenhang mit einem Gefecht.

** Aus: junge Welt, 20. Dezember 2010


Ohne Einsicht

Von Jürgen Reents ***

Die Bundeskanzlerin meint, man solle den Krieg in Afghanistan »beim Namen nennen«. Und tut sich doch schwer damit: Die Bundeswehr würde »in Gefechten stehen – so wie Soldaten das in einem Krieg tun«, sagte sie bei einem Truppenbesuch am Samstag in Masar-i-Scharif. So wie?

Was deutsche Regierungspolitiker zu Afghanistan äußern, hat inzwischen immerhin einen Beigeschmack von Wahrheit. Lange wurde die Situation heruntergespielt, wurden die Friedensbewegung und linke Politiker Maß genommen, wenn sie die Schönredereien von bloßer »Aufbauhilfe« und vom »Stabilisierungseinsatz« kritisierten. Doch ist zu erinnern, was der Grund dieses schleichenden Deutungswandels war: Krieg, zunächst »kriegsähnliche Zustände«, herrscht im Regierungsdeutsch, seit die Bundeswehr immer mehr eigene Opfer zu beklagen hat. Dass deutsche Soldaten selbst auch töten und Tötungsbefehle – wie jenen von Kundus – erteilen, wird weiterhin in den Hintergrund gedrängt.

Doch noch Besorgnis erregender ist etwas anderes: Die Erkenntnis des Krieges ist eine hinnehmende, keine ablehnende. Es ist Krieg? Beendet ihn! – dieser Zusammenhang galt bisher als ehernes moralisches Gesetz. Nun lautet es: Es ist Krieg, wir müssen durchhalten! Und die Bundeskanzlerin sagt, sie sei nach Afghanistan gekommen, um den Soldaten zu danken. Sie kam nicht, um sie nach Hause zu holen. Nur wenn dies geschieht, könnte man auch Frau Merkel danken – dass der Wahrheit die Einsicht folgt.

*** Aus: Neues Deutschland, 20. Dezember 2010 ("Standpunkt")


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