Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Die Kanzlerin und der Krieg

Von Jürgen Reents *

Die Bundeskanzlerin will am heutigen Donnerstag (22. April) eine Regierungserklärung zum Krieg in Afghanistan abgeben. Die Regierung wolle deutlich machen, dass sie hinter den Soldaten der Bundeswehr stehe, ließ Kanzleramtsminister Ronald Pofalla vorab wissen.

Deutschland ist im Krieg. Aber die Menschen in unserem Land sind nicht für den Krieg. Wir haben da nichts zu suchen, sagen sie; wir wollen nicht, dass weitere deutsche Soldaten getötet werden, und wir wollen auch nicht, dass deutsche Soldaten andere Menschen töten. Das ist für die Regierung ein Problem. Sie will diese Stimmung ändern. Sie will, dass die Bevölkerung mit »unseren Soldaten solidarisch« ist. Solidariät, das heißt für die Regierung, für den Krieg zu sein.

Deutschland ist im Krieg, aber in einem, der nie als solcher erklärt wurde. Laut unserer Verfassung darf Deutschland überhaupt niemandem einen Krieg erklären. Das Grundgesetz kennt nur einen »Verteidigungsfall«, wenn unser Land »angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht«. Niemand hat Deutschland angegriffen, obwohl der damalige Verteidigungsminister Peter Struck bei Beginn des »Afghanistan-Einsatzes« die Formulierung bemühte, unsere Sicherheit werde »am Hindukusch verteidigt«. Wenn der Krieg in Afghanistan ein »Verteidigungsfall« der Bundesrepublik wäre, müsste der Bundestag diesen mit Zweidrittelmehrheit feststellen. Die Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte ginge an die Bundeskanzlerin über. Sie hat sie nicht, will sie aber heute an der Heimatfront im Bundestag ausüben.

Deutschland ist im Krieg, aber seine politische Führung hat acht Jahre gebraucht, das einzuräumen. Als der Fraktionsvorsitzende der damaligen PDS, Roland Claus, 2001 beim ersten Soldatenversand nach Afghanistan an Gerhard Schröder gerichtet sagte: »Sie sind der erste Bundeskanzler, der diese Vertrauensfrage und damit sein Schicksal mit einer Zustimmung zu Kriegseinsätzen verbindet«, da riefen Koalitionäre erbost dazwischen: »›Kriegseinsätze‹! Hören Sie auf damit!« und »Deutschland beteiligt sich nicht am Krieg!« So ging es Jahre weiter, wann immer über Afghanistan geredet wurde. Der Krieg wurde dementiert. Diejenigen, die die Soldaten schickten, wollten ja keinen Krieg, nur Friedenssicherung und Aufbau. Da sie nun nicht mehr bestreiten können, dass sie die Soldaten in etwas geschickt haben, das man »umgangssprachlich Krieg« nennt, passiert etwas zusätzlich Ungeheuerliches: Sie drehen ihr Dementi um 180 Grad und rechtfertigen den Krieg. Was sie zuvor als Lüge bezeichneten, ist ihnen nun so etwas wie Wehrkraftzersetzung.

Deutschland ist im Krieg. Und je deutlicher wird, dass die Bevölkerung diesen Krieg ablehnt, desto mehr mühen sich einige Medien, ihr seinen vermeintlichen Sinn zu erklären. Der »Spiegel« meint: »Es wäre Merkels Aufgabe gewesen, diesen Krieg eher in die Gesellschaft zu integrieren.« Und er meint auch, weitere Kämpfe seien »notwendig, um den Norden zu stabilisieren«. Als die Bundeswehr Ende 2001 vom Bundestag in den Norden Afghanistans geschickt wurde, hieß es, sie gehe dorthin, weil diese Region relativ stabil sei. Beim ersten Entsendebeschluss im Bundestag sagte der damalige Verteidigungsminister Peter Struck: »Ich bin fast sicher, dass die Bundeswehr dort nur noch gebraucht wird, um mitzuhelfen, die humanitäre Versorgung zu organisieren.« Nun soll sie gebraucht werden, um zu töten und sich töten zu lassen.

Deutschland ist im Krieg. Und es stellt sich nach fast achteinhalb Jahren die Frage, warum Frieden und Stabilität in Afghanistan nicht gefestigt werden konnten, sondern der Krieg schlimmer geworden ist. Als der UN-Sicherheitsrat Mitte Dezember 2001 Großbritannien das Mandat übertrug, eine Internationale Sicherheitsunterstützungstruppe (ISAF) aufzubauen, »um die afghanische Übergangsregierung beim Erhalt der Sicherheit in Kabul und den benachbarten Regionen zu unterstützen« (Resolution 1386), war das Taliban-Regime bereits beseitigt: US-Truppen hatten zuvor alle Taliban-Hochburgen eingenommen. Es wurde eifrig behauptet, dass nur ein Rest der vormaligen Herrscher ins Gebirge flüchten konnte, ebenso nur wenige Al-Qaida-Kämpfer – wenngleich mit ihrem Chef Osama bin Laden, von dem heute niemand mehr redet und nach dem niemand mehr sucht. Vor Afghanistan eröffne sich endlich eine unbedrängte Zukunft – wenngleich die US-Truppen nicht ins Land gekommen waren, um die afghanischen Frauen zu befreien, dann hätten sie dies schon viele Jahre vorher und auch anderswo getan, sondern um Vergeltung zu üben für die Terroranschläge in New York und Washington, deren Drahtzieher sie in Afghanistan beherbergt sahen.

Es war wohl dieses »wenngleich«, das viele Menschen in Afghanistan sehr schnell bemerkten, als die Befreier als Besatzer auftraten, Demokratie und Unabhängigkeit versprachen, ihnen aber einen Statthalter vorsetzten, bei ihrer Jagd auf Terroristen allerlei »Kollateralschäden« anrichteten, sogar Hochzeitsgesellschaften bombardierten, was sie regelmäßig zunächst bestritten. Vielleicht misstrauten zunehmend mehr Menschen auch dem Umstand, dass die Mandatsmächte USA und Großbritannien sich eine Gehilfentruppe zusammenstellten, die sie – so der heutige Stand – zu 97 Prozent aus der NATO rekrutierten, diesem gewaltigen Militärbündnis, das die reiche westliche Welt zu schützen weiß, dass sie reich bleibt und Ärmere ihr dabei nicht in die Quere kommen. Die NATO ist für die afghanische Gesellschaft nicht die Friedensbewegung, als die sie sich gerne tituliert. Sie ist der Restwert eines Kalten Krieges, der an den Rändern des euro-amerikanischen Kulturraums schon immer heißer glühte. Sie hat sich selbst neue Feinde gemacht.

Deutschland ist im Krieg, und seine Regierung behauptet, dieser müsse zu Ende geführt werden, um die Terroristen auszuschalten, die Deutschland bedrohen. Die Welt ist in den letzten Jahren wieder an etlichen Erfindungsreichtum gewöhnt worden, wenn es um die Legitimation von militärischen Interventionen ging, manches davon betrog und blamierte sogar die UNO. Aber es soll die Echtheit der Videos, in denen Terroranschläge auch in Deutschland angedroht werden, nicht ohne gegenteiliges Indiz bezweifelt werden, denn ihre Echtheit ist plausibel. Sie sind ein Ausfluss brutal entfesselter Kriegslogik: Wenn ihr bei uns Krieg führt, dann führen wir auch bei euch Krieg. Man kann auch beides nicht wollen, nicht nur das eine nicht.

Die Bundeskanzlerin will, so heißt es, sich heute auch den Zweifeln an diesem Krieg zuwenden und sie zu zerstreuen versuchen. So wie man Sand in Augen streut?

* Aus: Neues Deutschland, 22. April 2010


Zurück zur Afghanistan-Seite

Zur Bundeswehr-Seite

Zur Seite mit den Bundestags-Debatten

Zurück zur Homepage