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NATO-Luftwaffe richtete Massaker in Afghanistan an

Bis zu 90 Menschen getötet / Bundeswehr hatte Angriff verlangt / Verteidigungsministerium in Berlin: "Sehr wohl abgewogene Entscheidung" *

Bei einem von der Bundeswehr angeforderten Luftangriff der NATO-Truppe ISAF auf zwei von den Taliban entführte Tanklastwagen wurden in Nordafghanistan nach unterschiedlichen Angaben bis zu 90 Menschen getötet. Viele der bei der Attacke Verletzten kämpfen unterdessen weiter um ihr Leben.

Eine Eskalation dieses Ausmaßes hat es in dem Verantwortungsbereich der Deutschen in Afghanistan laut Bundesverteidigungsministerium noch nicht gegeben. Wie viele Zivilisten durch die Bombardierung der Tanklaster in der Nacht zum Freitag in der Provinz Kundus starben, war unklar.

Während die Bundeswehr behauptete, es gebe überhaupt keine zivilen Opfer, waren laut Mahbubullah Sajedi, dem Sprecher der Provinzregierung, auch Zivilisten unter den Toten, so Kinder, die aus den in einer Fluss-Sandbank festgefahrenen Lastern Benzin abzapfen wollten. Ein Sprecher des afghanischen Gesundheitsministeriums sagte, »zwischen 200 und 250« Dorfbewohner hätten sich um die Fahrzeuge geschart. Daher werde eine »große Zahl« von Zivilisten unter den Toten und Verletzten befürchtet. Der Angehörige eines Opfers aus dem betroffenen Dorf Hadschi Amanullah betonte gegenüber dpa: »In der Gegend waren auch Taliban, aber mehr Opfer gibt es unter Zivilisten.«

Ein Augenzeuge sagte der Nachrichtenagentur AFP, die Taliban hätten die Bewohner aufgefordert, kostenlos Benzin aus den Tankfahrzeugen zu zapfen. Daher waren Hunderte Dorfbewohner mit Kanistern und Flaschen um die Tanklaster versammelt, als die NATO-Luftwaffe angriff.

Ein AFP-Korrespondent beschrieb den Angriff als ein »Horror-Inferno«: »Der Gestank von verkokeltem Fleisch hängt am frühen Freitagmorgen über den Ufern des Flusses Kundus. Überall liegen zerfetzte Leichen von Dorfbewohnern.« Während Einheimische noch am selben Tag in einem eilig ausgehobenen Massengrab ihre Toten bestatteten, kämpften Dutzende Verletzte in einem Krankenhaus in der Provinzhauptstadt Kundus um ihr Leben. Die Flure der Klinik waren überfüllt mit den Opfern des Angriffs. Viele wurden mit schwersten Brandwunden eingeliefert, bei vielen lagen die Muskeln frei.

Ein Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums erklärte in Berlin, der Kommandeur des deutschen Wiederaufbauteams in Kundus, der den Luftangriff angefordert hatte, habe eine »sehr wohl abgewogene Entscheidung gefällt«. Die »sich verschlechternde Sicherheitslage in Kundus« erfordere »andere Maßnahmen«. Trotzdem habe der Schutz von Zivilisten vor Ort »oberste Priorität«.

Die für die NATO-Truppen fahrenden Tanklaster wurden nach Angaben des Ministeriumssprechers in der Nacht zu Freitag an einem fingierten Checkpoint gekapert. Nachdem sie sich in dem Flussbett festgefahren hätten, seien sie aus der Luft attackiert worden. Berichte, wonach Zivilisten dabei getötet wurden, seien »reine Spekulationen«, hieß es aus Berlin.

NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen kündigte eine »sofortige und vollständige« Untersuchung des Luftangriffs an. »Das afghanische Volk muss wissen, dass wir alles zu seinem Schutz tun«, sagte er in Brüssel. Der stellvertretende UNO-Gesandte für Afghanistan, Peter Galbraith, forderte Aufklärung, warum trotz der unübersichtlichen Lage ein Luftangriff angeordnet worden sei. Der afghanische Präsident Hamid Karsai sagte, Angriffe auf Zivilisten seien »in jeder Form unannehmbar« und kündigte eine Untersuchung des Bombardements an.

Auch die EU-Außenminister zeigten sich bestürzt. Der schwedische Chefdiplomat Carl Bildt sagte am Rande des informellen EU-Außenrates in Stockholm: »Alle Todesfälle sind zu bedauern.« Der britische Außenminister David Miliband forderte eine Untersuchung. »Wir müssen sichergehen, dass so etwas nie wieder passiert«, sagte er. Einen Abzug aus Afghanistan lehnen die meisten EU-Länder zum gegenwärtigen Zeitpunkt aber ab. In einer internen Tischvorlage für den Außenrat räumt die EU zugleich Versäumnisse in Afghanistan ein.

* Aus: Neues Deutschland, 5. September 2009

Pressekommentare

Stunde der Demagogen

Von Roland Etzel *

Gestern hatten sie wieder Großeinsatz – die Rabulisten, Wortverdreher und Tatsachenvergewaltiger der Bundesregierung mit Spezialisierung Afghanistan. Ihr gestriger Tatort hieß Bundespressekonferenz. Objekt war ein Massaker aus der Luft – verübt an einem Freitag, dem muslimischen Wochenfeiertag, im heiligen Fastenmonat Ramadan. Dieses galt es, seines mörderischen Inhalts zu entkleiden, in zivilgraue Worthülsen zu verpacken und dann dem offenbar für minderbemittelt gehaltenen Wahlbürger als Friedenstherapie mit ungewollten Nebenwirkungen zu verabreichen. So etwas klappte vor Jahren noch ganz leidlich. Unter dem Schock bis dato beispielloser, aber bis heute kaum aufgeklärter Attentate und vernebelt von den Staubwolken eingestürzter Zwillingstürme, wurde seit Jahrtausendbeginn so ziemlich jede Metzelei von ihren Verursachern als Krieg gegen den Terror und folglich eigentlich Friedens»kampf« verkauft; ob in Irak, Tschetschenien oder eben Afghanistan. Damals in der öffentlichen Wahrnehmung nicht ganz erfolglos.

Doch die Zeiten haben sich geändert. Weil Krieg am Ende eben doch Krieg bleibt; mit Tod und Zerstörung, auch wenn man ihn noch so hartnäckig zum »robusten Stabilisierungseinsatz mit Kampfhandlungen« verquast, wie das gestern ein Berliner Ministeriumssprecher unternahm. Die Gräber sind damit nicht wegzuquatschen; nicht die der Menschen und auch nicht die der Milliarden. Das mag Jung und Steinmeier aufgegangen sein, die sich früher so gern vor Kameras über die »feigen und hinterhältigen« Taliban empörten. Zwar haben jene sich auch diesmal nicht den NATO-Friedensschützern in offener Luftschlacht gestellt. Dennoch hielt es zum Beispiel Jung wenige Tage vor der Wahl offenbar für ratsam, eine untere Charge seines Ministeriums erklären zu lassen, dass die toten Afghanen »fast alle gegnerische Kräfte, zumindest Beteiligte« gewesen seien. Und wenn vielleicht doch ein paar Zivilisten darunter waren, dann bedauert man das natürlich ...

Bei derlei Erklärungen zweifelt man, ob ihre Urheber sich überhaupt noch daran erinnern, wer hier mit welcher Begründung in wessen Land eingefallen ist. Man fragt sich, in welchem Handbuch für »Stabilisierungshelfer« sie gelesen haben, dass entführte Autos mit Kampfgeschwadern aus der Luft zu bombardieren sind; mit welcher Berechtigung und welcher Maßgabe die friedlichen deutschen Helfer Afghanen in »feindliche Kräfte«, »Beteiligte« und »Zivilisten« einteilen und danach deren Berechtigung zum Weiterleben kalkulieren.

Die deutschen Helden der ersten Reihe sind etwas kleinlaut geworden. Im Moment. Sind sie vielleicht gewahr geworden, dass ihre Sprache und noch mehr die Verlautbarungen ihrer Subalternen immer stärker den Ton von Frontberichterstattung annehmen? Die Hoffnung ist wohl zu vermessen, denn es wäre immerhin eine Einsicht, die die Umkehr zu Vernunft und damit Ausstieg aus dem Krieg nicht ausschlösse. Darauf deutet aber nichts hin. Die deutschen Unterstützerparteien für den Afghanistan-Einsatz, also CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne, glauben, darauf vertrauen zu können, dass der deutsche Michel zwar seiner Verteidigung am Hindukusch misstrauisch gegenübersteht, aber sie dennoch wählt. Aber das kann sich ja auch mal ändern.

** Aus: Neues Deutschland, 5. September 2009 (Kommentar)

Weitere Pressestimmen ***

Im Fokus steht aber der Nato-Luftangriff auf zwei Tanklastzüge in Afghanistan mit zahlreichen Toten. Dazu schreibt der Berliner TAGESSPIEGEL:
"Der Kampf um die Köpfe - so ist er nicht zu gewinnen. Weder am Hindukusch noch daheim. Zu den militärischen Schulweisheiten gehört, dass das taktische Vorgehen das strategische Ziel nicht gefährden darf. Im Moment sind Bundeswehr und Verteidigungsminister auf dem besten, genauer dem schlechtesten Wege, diese Maxime zu ignorieren. In Afghanistan. Dort, wo die USA eingesehen haben, dass Terror sich nicht aus der Luft bekämpfen lässt, und wo die Nato ihre Taktik geändert hat und nicht mehr die Zahl getöteter Taliban Gradmesser des Erfolgs sein soll, sondern der Schutz von Zivilisten und die Unterstützung durch die afghanische Bevölkerung. Just in diesem Moment fordert der deutsche Kommandeur angesichts einer eher unklaren Bedrohungslage Luftunterstützung an und lässt zwei entführte Tanklastwagen bombardieren - in einer Situation, die es nahezu unmöglich macht, zivile Opfer auszuschließen. Wenn die Bundeswehr bei den Afghanen jemals einen gewissen Kredit ob ihres bislang eher zurückhaltenden Vorgehens genossen haben sollte, an diesem Freitag dürfte sie ihn verspielt haben", meint der TAGESSPIEGEL.

Die türkische Zeitung ZAMAN betont:
"Der Vorfall in Kundus zeigt, wie schwer der Schutz der Zivilbevölkerung ist. Das ist sicherlich nicht das erste Mal, dass Angriffe der Alliierten in Afghanistan zu Opfern unter der Zivilbevölkerung geführt haben. Doch UN-Berichte belegen, dass die Mehrheit der Zivilisten, nämlich 60 Prozent, durch Anschläge und Selbstmordattentate der Taliban und ihrer Verbündeten ums Leben gekommen sind. Lediglich 30 Prozent gehen auf das Konto der ISAF-Truppen, insbesondere durch Luftangriffe. Diese Tatsache, dass die meisten zivilen Opfer dem Konto der Aufständischen zuzuschreiben sind, wird, aus welchem Grund auch immer, von einigen Kreisen übersehen. Diese beschuldigen weiterhin vehement die ISAF-Truppen", bemerkt ZAMAN aus Istanbul.

Die BERLINER MORGENPOST sieht das so:
"Mit diesem Angriff ist das Thema Afghanistan auch im bundesweiten Wahlkampf angekommen. Jeder Politiker ist gut beraten, auf die einfachen, die schnellen Antworten zu verzichten. Wie man es nicht macht, hat gestern Altkanzler Gerhard Schröder gezeigt. Bei einem Auftritt in Niedersachsen sagte er, man brauche ein Datum für den Rückzug der Truppen aus Afghanistan. Und nannte es sofort: 2015 müsse Schluss sein mit dem internationalen Engagement, ab dann müsse Afghanistan sich wieder um sich selbst kümmern. Das ist, mit Verlaub, purer Populismus. Diejenigen, die die Lage in Afghanistan kennen, vermeiden es tunlichst, ein konkretes Datum zu nennen. Dazu gehört auch - Schröder sei daran erinnert - der SPD-Kanzlerkandidat Frank- Walter Steinmeier. Er lehnt es ausdrücklich ab, ein Datum für den Abzug der Nato-Truppen zu nennen. Wenn es nämlich einen solchen festen Termin gäbe, dann wüssten die Taliban, wie lange sie überwintern müssten, um anschließend die Macht wieder zurückzuerobern. Es wäre ein verheerendes Signal", warnt die BERLINER MORGENPOST.

Die BILD AM SONNTAG vertritt die Ansicht:
"Es ist schlicht unanständig, wie Oskar Lafontaine versucht, aus dem Leid und den Ängsten der deutschen Soldaten und der afghanischen Bevölkerung Funken für den Bundestagswahlkampf zu schlagen. Bislang ist es gelungen, den Afghanistan-Einsatz weitgehend aus dem Wahlkampf herauszuhalten. Die deutschen Soldaten, die am Hindukusch Leib und Leben riskieren, haben einen Anspruch darauf, dass das so bleibt! Aber auch Regierungen befreundeter Staaten brechen den Stab über den Einsatz, ohne die Fakten zu kennen. Die Aussage des deutschen Verteidigungsministers, bei dem Luftschlag seien ausschließlich Taliban - also militärische Gegner - ums Leben gekommen, sollten Verbündete bis zum Erweis des Gegenteils akzeptieren. Und: Die Taliban wollten mit dem Benzin wohl kaum eine freie Tankstelle eröffnen. Die aufgeregten Reaktionen sind ein Beleg dafür, dass der Afghanistan-Einsatz ein heißes Eisen im ganzen Westen geworden ist. Zerbricht daran die Bündnis-Solidarität, sind die Taliban am Ziel." vermutet die BILD AM SONNTAG.

Die nächste Regierung könnte am deutschen Afghanistan-Einsatz scheitern, vermutet die FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG:
"Wenn es nach der Wahl im Bund rechnerisch weiterhin für die rot-rot-grüne Option reicht, dann wird eine große Koalition spätestens in der Mitte der Wahlperiode zerbrechen müssen, damit ein SPD-Kanzler in den nächsten Wahlkampf ziehen kann. Man braucht ein Thema, Afghanistan eignet sich. Schon jetzt, in diesem Wahlkampf, mag es die Verhältnisse in der SPD zum Tanzen bringen. Freilich sollte man auch die Begeisterung in der Union für unsere Sicherheit am Hindukusch nicht überschätzen. Friedenseinsätze sind willkommen, auch militärische, aber für einen Anti-Guerrilla-Krieg mit den unvermeidlichen zivilen Opfern lässt sich in Deutschland keine Mehrheit organisieren. Die große, schiefe Ebene am Hindukusch wird so zur schiefen Ebene der deutschen Politik. Vieles kommt auf ihr ins Rutschen", unterstreicht die FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG.

*** Aus: Deutschlandfunk - Pressestimmen, 6. September 2009; www.dradio.de




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