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Guttenberg: Kriegsähnliche Zustände in Afghanistan

Neuer Verteidigungsminister rückt von Vorgänger Jung ab

Der neue Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) hat die Lage in Afghanistan als »kriegsähnliche Zustände« bewertet und damit den Kurs seines Vorgängers korrigiert.

»In Teilen Afghanistans gibt es fraglos kriegsähnliche Zustände«, sagte Verteidigungsminister Guttenberg der »Bild«-Zeitung (3. Nov.). Er betonte: »Der Einsatz in Afghanistan ist seit Jahren auch ein Kampfeinsatz.« Guttenbergs Vorgänger Franz Josef Jung (CDU) hatte auf die Frage, ob sich die derzeit rund 4300 deutschen Soldaten in Afghanistan im Krieg befänden, stets geantwortet, dass sie im Einsatz für die Stabilität und friedliche Entwicklung des Landes seien. Er betonte in seiner Zeit als Verteidigungsminister: »Es ist kein Krieg.«

Der Bundeswehrverband reagierte umgehend positiv auf Guttenbergs Äußerung. Verbandschef Ulrich Kirsch sagte der »Mitteldeutschen Zeitung«: »Wir sind dem Minister sehr dankbar, dass er die Dinge beim Namen nennt. Dadurch wird der Ernst der Lage deutlich. Unsere Frauen und Männer, die täglich dort im Kampf stehen, sagen, das ist Krieg.«

Guttenberg äußerte Verständnis dafür, dass die Bundeswehrsoldaten den Einsatz als Krieg bezeichnen. Zwar bekräftigte der CSU-Politiker die auf das Völkerrecht gestützte Position der Bundesregierung, dass es Krieg nur zwischen Staaten geben könne. »Aber glauben Sie, auch nur ein Soldat hat Verständnis für notwendige juristische, akademische oder semantische Feinsinnigkeiten?« Manche herkömmliche Wortwahl passe für die Bedrohung von heute nicht mehr. »Ich selbst verstehe jeden Soldaten, der sagt: In Afghanistan ist Krieg, egal, ob ich nun von ausländischen Streitkräften oder von Taliban-Terroristen angegriffen, verwundet oder getötet werde (...) Wenigstens in der Empfindung nicht nur unserer Soldaten führen die Taliban einen Krieg gegen die Soldaten der internationalen Gemeinschaft.«

Die LINKE erklärte, die deutsche Afghanistan-Politik stecke in einer Sackgasse. Der Bundestagsabgeordnete Wolfgang Gehrcke sagte: »Wir haben keine Strategie, aber die deutschen Soldaten bleiben weiter in Afghanistan.« Auch Guttenbergs Äußerung ändere an dieser Einschätzung nichts. Er forderte den Bundestag auf, das am 13. Dezember auslaufende Afghanistan- Mandat nicht zu verlängern. »Die deutschen Soldaten müssen so schnell wie möglich aus Afghanistan abgezogen werden. Durch den NATO-Bericht zum Luftangriff in Afghanistan sieht die LINKE die Bundeswehr nicht entlastet. »Im nun zugänglichen Untersuchungsbericht ist unmissverständlich von einer überspitzt dargestellten Bedrohungslage zu lesen, von einer übereilten Eskalation und vom Versäumnis einer unmittelbar anschließenden Untersuchung«, teilte der verteidigungspolitische Sprecher der Linksfraktion im Bundestag, Paul Schäfer, am Dienstag (3. Nov.) in Berlin mit.

Der von der NATO als geheim eingestufte Bericht über den von der Bundeswehr angeordneten Angriff am 4. September im nordafghanischen Kundus liegt seit Montagnachmittag (2. Nov.) in der Geheimschutzstelle des Bundestags im englischen Original und in einer deutscher Übersetzung vor. Dort können ihn ausgewählte Abgeordnete einsehen. Der Generalinspekteur der Bundeswehr, Wolfgang Schneiderhan, hatte in einer ersten Bewertung des Berichts in der vorigen Woche erklärt, er habe keinen Grund daran zu zweifeln, dass die deutschen Soldaten militärisch angemessen gehandelt hätten.

LINKE: NATO-Bericht veröffentlichen

Schäfer forderte die Regierung auf, den NATO-Bericht unverzüglich zu veröffentlichen. Die Regierung habe versucht, die Öffentlichkeit über den Angriff zu täuschen. Verteidigungsminister Guttenberg müsse sich jetzt äußern. »Dass er sich um eine Stellungnahme dazu drückt, ist nachvollziehbar, aber nicht akzeptabel«, meinte Schäfer.

* Aus: Neues Deutschland, 4. November 2009


Es war ein Massaker

Von Frank Brendle **

Die von einem deutschen Bundeswehroberst angeforderte Bombardierung einer großen Menschengruppe an zwei Tanklastern in der Nähe des afghanischen Kundus war nichts anderes als ein Massaker. Das ergibt sich aus dem Geheimbericht der ­NATO, in den ausgesuchte Politiker seit Dienstag Einblick haben. Die NATO selbst zeigt sich darin irritiert über das rücksichtslose Verhalten der Bundeswehr. Das erfuhr junge Welt gestern von einem Kenner des Papiers.

Der Bericht untersucht den Hergang des Luftangriffs auf zwei Tanklastzüge, die Anfang September von Taliban-Kämpfern in der Nähe des deutschen Stützpunkts Kunduz entführt worden waren. Nach unterschiedlichen Angaben wurden bei der Bombardierung zwischen 17 und 142 Menschen getötet. Drei Vorwürfe stehen im Mittelpunkt: Demnach hat die Bundeswehr schon bei der Anforderung der Bomber gelogen, sie hat gleich die allerhöchste Eskalationsstufe gewählt, und sie hat hinterher die Aufklärung erschwert -- alles Verstöße gegen die Einsatzregeln.

Oberst Georg Klein hatte die Anforderung zweier US-Jagdbomber vom Typ F 15 damit begründet, es gebe direkten Feindkontakt. Aus dem Bericht ergibt sich jedoch, daß das falsch war. Eine unmittelbare Bedrohung der eigenen Truppen hat es zu keinem Zeitpunkt gegeben. Die beiden Tankwagen waren mehrere Kilometer vom Bundeswehrlager entfernt und steckten in einem Flußbett fest. Besonders dramatisch liest sich der Bericht an der Stelle, an der es um die zwei Piloten in den Kampfflugzeugen geht: Gleich mehrfach hatten sie beim Führungskommando in Kundus nachgefragt, ob sie wirklich keinen »Show-of-force«-Einsatz durchführen sollen, d.h. erst im Tiefflug über die Tankwagen donnern, um Unbeteiligte zu warnen. Die Antwort war jedes Mal ablehnend: Es sollte sofort gebombt werden, ohne Vorwarnung. Schließlich konstatiert der Bericht einen weiteren Regelverstoß: Nach dem Angriff wurde versäumt, sofort mit Bodentruppen oder unbemannten Drohnen mit den Ermittlungen zu beginnen. Das räumt heute auch die Bundeswehr selbst ein.

Für Paul Schäfer, verteidigungspolitischer Sprecher der Linksfraktion, handelt es sich beim Vorgehen der Bundeswehr um »Tötung auf Verdacht«. Selbst wenn alle Getöteten Rebellen gewesen wären: »Man kann doch nicht ohne eine unmittelbare Bedrohung einfach eine ganze Ansammlung von Taliban umbringen«, so Schäfer im jW-Gespräch. Die Bundeswehr habe angesichts der zunehmenden Aufstandsbewegung womöglich ein Exempel statuieren wollen: »Das schwingt da mit«, sagte Schäfer. Er forderte gestern Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) auf, den Bericht allen Abgeordneten des Bundestages vorzulegen.

Guttenberg selbst äußerte sich auch gestern nicht zu dem Thema und schwadronierte statt dessen in der Bild-Zeitung, er habe Verständnis für jeden Soldaten, der sage: »In Afghanistan ist Krieg«. Schäfer sagte, der Begriff »Krieg« spiegele zwar die Einsatzrealität wieder. Andererseits würde es im Krieg noch weniger juristische Untersuchungen von Militäraktionen geben.

** Aus: junge Welt, 4. November 2009


Merkels Verantwortung

Von Olaf Standke ***

Angela Merkel durfte sich beim europäischen Schaulaufen dieser Tage in Washington über eine Kür der besonderen Art freuen: Ihrem Plausch im Weißen Haus folgte gestern der Auftritt vor beiden Kammern des Kongresses. Schließlich sei sie, aufgewachsen im »Schatten der Diktatur«, heute eine »außerordentliche Führerin« (Originalton Barack Obama). Ihren großen Worten auf dem Kapitol über Mauerfall, Freiheit und Wiedervereinigung waren schon beim Treffen mit dem USA-Präsidenten aber auch weniger hehre Themen vorausgegangen. Zum Beispiel Afghanistan.

20 Jahre nach der so viel beschworenen »friedlichen Revolution« befindet sich Deutschland dort nun auch offiziell im Krieg, nachdem der neue Verteidigungsminister endlich das schlimme K-Wort über die Lippen brachte. Obama bedankte sich gestern beim »starken Alliierten«, und jeder weiß, dass sich Washington noch viel mehr Unterstützung aus Berlin beim desaströsen Feldzug am Hindukusch wünscht. Obwohl die Staaten der Europäischen Union fast genauso viel Finanzhilfe an Afghanistan geben wie die USA und beinahe 40 Prozent aller ausländischen Truppen stellen, so eine Studie der Denkfabrik »European Council on Foreign Relations«, hätten sie nur »minimalen Einfluss« auf die Debatte in der NATO über die weitere Strategie. Internationale Führungsstärke könnte diese Kanzlerin entwickeln, wenn sie der späten Erkenntnis deutscher Kriegsbeteiligung eine Initiative folgen lassen würde, die zu einer wirklichen Befriedung Afghanistans führt. Hier wäre die Chance, sich einen Platz in den Geschichtsbüchern zu sichern.

*** Aus: Neues Deutschland, 4. November 2009 (Kommentar)


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