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Krieg verhindert Entwicklung und verschlechtert die humanitäre Lage

Rede von Heike Hänsel zur humanitären Lage in Afghanistan


Anlässlich einer Debatte im Bundestag am 14. April 2011 über die "Stärkung der humanitären Lage in Afghanistan und der partnerschaftlichen Kooperation mit Nichtregierungsorganisationen" hielt die entwicklungspolitische Sprecherin der Fraktion der LINKEN eine Rede, in der sie die humanitäre Lage in Afghanistan schilderte. Wir dokumentieren die Ansprache nach dem Wortlaut des Manuspripts.

Heike Hänsel

Sehr geehrte Damen und Herren,

im Parlament und in der Öffentlichkeit werden die Demokratiebewegungen in Ägypten, Tunesien und anderen arabischen Ländern mit viel Sympathie begleitet. Kaum jemand aber spricht über die politische Situation in Afghanistan. Es wird in der Öffentlichkeit und den Medien übersehen und auch gezielt ignoriert, dass es auch in Afghanistan demokratische und soziale zivilgesellschaftliche Kräfte gibt, die sich gegen das Karsai-Regime und die NATO- Besatzung wenden und dafür auch in immer größerer Zahl auf die Straße gehen.

So z.B. Ende Februar als in der Provinz Kunar durch eine Nato-Bombardierung 63 Menschen getötet wurden, darunter 50 Zivilisten. Sie sind davon überzeugt, dass diese Befreiung nur von den Afghaninnen und Afghanen selbst kommen kann und nicht durch Bomben. Diese zivilgesellschaftlichen Kräfte sind keine bezahlten NGOs, sondern größtenteils ehrenamtliche Organisationen, Frauenrechtsbewegungen, Studentengruppen, Menschenrechtsgruppen und OpfervertreterInnen.

Im Januar dieses Jahres hatte die Fraktion Die Linke zehn Afghaninnen und Afghanen in Berlin zu Gast, um auf der Konferenz „Das andere Afghanistan“ Perspektiven für eine friedliche und demokratische Entwicklung zu diskutieren. Sie kritisierten, dass die westlichen Regierungen seit 2001 einseitig pro-westliche fundamentalistische Kräfte in ihrem Land gestärkt haben, die nach militärischen und geostrategischen Interessen ausgesucht wurden. Bei den Petersberger Konferenzen 2001 und der Kabuler Konferenz 2010 waren maßgeblich Kriegsverbrecher, Warlords und andere Personen eingeladen, die Blut an den Händen haben – kritische zivilgesellschaftliche Kräfte aber waren nicht beteiligt. Sie erfahren auch keinen Schutz und keine Unterstützung, sondern sind Opfer von Anschlägen, müssen oft im Geheimen agieren und bleiben bei wichtigen politischen Verhandlungen außen vor. Dies ist ein Skandal!

Deshalb werden wir gemeinsam mit Friedensgruppen im Herbst, anlässlich der 2. Petersburger Konferenz, diese kriegskritischen Stimmen aus Afghanistan sichtbar machen.

Seit zehn Jahren herrscht Krieg in Afghanistan, Milliarden von Euro fließen in diesen Krieg. Nach Berechnungen des Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung von 2010, kostet die Fortsetzung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan Deutschland rund drei Milliarden Euro pro Jahr. Insgesamt dürfte dem DIW zufolge die deutsche Beteiligung am Afghanistan-Krieg etwa 36 Milliarden Euro kosten.

Währenddessen ist die humanitäre Lage in Afghanistan gleichbleibend schlecht. Afghanistan liegt auf Platz 181 und damit auf dem vorletzten Platz des Human Development Index (HDI). Rund 80 Prozent der Frauen und 60 Prozent der Männer sind Analphabeten, weniger als 19 Prozent der Bevölkerung haben Zugang zu medizinischer Versorgung und sauberem Wasser. Laut Weltbank liegt die Säuglingssterblichkeit bei 199 Kinder pro 1000 Geburten. Sie ist damit 50 mal so hoch wie in Deutschland. Die Armut wächst, Hunger bedroht mehr als ein Drittel der afghanischen Bevölkerung.

Erfolge in der Entwicklungszusammenarbeit werden durch den Krieg konterkariert. Die Zahl der zivilen Opfer steigt seit 2006 dramatisch an, auch die Zahl der Menschen, die vor den Kriegshandlungen fliehen, steigt weiter an. Im Human Development Index heißt es, dass sich 2,8 Millionen Afghaninnen und Afghanen - das ist jeder zehnte Einwohner - auf der Flucht befinden, oft ohne ausreichende humanitäre und gesundheitliche Versorgung. Auch ein Bericht der International Crisis Group bemängelt, dass der Krieg den Zugang der afghanischen Bevölkerung zu Gesundheitsversorgung, Bildung und anderen sozialen Dienstleistungen stark eingeschränkt hat. Angriffe auf Schulen, z.B. das Abbrennen oder erzwungene Schließen von Schulen, die Verwendung von Schulen für militärische Zwecke sowie Drohungen gegen das Lehrerpersonal und Schülerinnen und Schüler nehmen zu.

In ihrem Antrag fordern die Grünen, dass der Aufbau des afghanischen Bildungssystems unterstützt werden und Mittel für Bildungsprojekte verdoppelt werden sollen.

Unsere Fraktion lehnt diesen Antrag ab. Der Bildungsansatz entspricht eher einer Elitenbildung und ist damit weit entfernt von dem Grundsatz Bildung für alle. Zudem wird der militärische Schutz von Bildungseinrichtungen erwogen und trägt so zur gefährlichen Vermischung zwischen Zivilem und Militärischem bei. Nach Angaben von NGOs sind zivile Projekte und Schulen nämlich durch die Nähe des Militärs eher gefährdet denn geschützt.

Die SPD-Fraktion kommt in ihrem Antrag zu der fatalen Fehleinschätzung, dass der ISAF-Einsatz dazu beitrage, in Afghanistan ein sicheres Umfeld für den zivilen Aufbau und Entwicklung zu schaffen. Das Gegenteil ist richtig: der Militäreinsatz muss beendet werden, damit sich überhaupt erst eine Perspektive für eine friedliche und soziale Entwicklung eröffnen kann! Mit dem ISAF-Einsatz sind Wiederaufbau, Demokratie und Sicherheit in weite Ferne gerückt. Wir teilen allerdings die Forderung des SPD-Antrags, die humanitäre Hilfe stärker auf ländliche Räume auszurichten und nicht nur auf die Regionen mit militärischer Bedeutung für die NATO-Truppen zu konzentrieren. Seit langem fordern wir: Entwicklungshilfe muss dort stattfinden, wo Bedarf für die Bevölkerung besteht, nicht für die Bundeswehr! Es freut uns, dass mittlerweile auch die SPD-Fraktion zu dieser Erkenntnis gekommen ist.

Die NATO ist ein Unsicherheitsfaktor in Afghanistan. Der Bombenangriff bei Kundus im Jahr 2009 hat dies in aller Deutlichkeit gezeigt. DIE LINKE fordert deshalb den sofortigen Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan. Nur wenn die Waffen schweigen und die afghanischen Konfliktparteien in einen politischen Friedens- und Aussöhnungsprozess eingebunden werden, kann der Wiederaufbau erfolgreich sein.

Wir fordern dazu auf, die friedlichen zivilgesellschaftlichen Kräfte endlich wahrzunehmen und ihre Forderungen zu unterstützen! Die Bundesregierung samt ihrer Vorgänger-Regierungen hat jahrelang zahlreiche diktatorische Regime im arabischen Raum unterstützt und militärisch aufgerüstet. Jetzt werden sie aufgrund des starken Drucks aus der Bevölkerung nach und nach fallen gelassen. Doch gleichzeitig geht die Unterstützung für das korrupte Karsai-Regime und zahlreicher krimineller Kriegsfürsten in Afghanistan weiter. Diese Politik ist in höchstem Masse unglaubwürdig!

Wer also eine wirkliche Verbesserung der humanitären Lage in Afghanistan erreichen will und die Interessen der Bevölkerung ernst nimmt, muss diesen Krieg beenden, und die Bundeswehr aus Afghanistan abziehen. Nicht erst 2014 sondern sofort!

* Quelle: www.linksfraktion.de


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