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Afghanistankrieg: Auf den Spuren eines Kriegsverbrechens

Jamie Doran legt in einem Artikel für Le Monde diplomatique Indizien für ein Massaker vor

Im Juni hat der britische Journalist Jamie Doran erstmals vor dem Europäischen Parlament einen Dokumentarfilm gezeigt, in dem es um ein Massaker an gefangenen Taliban- und Al-Qaida-Kämpfern während des Afghanistan-Krieges ging. (Siehe unseren Bericht Afghanistan: "Massaker in Mazar" - US-Soldaten verstrickt? und das Interview mit einem Vertreter von "Ärzte für Menschenrechte": "Was haben die Grabungen ergeben?"). Die Forderung nach einer unabhängigen Untersuchung der Vorwürfe und nach Beweissicherung in einem vermuteten Massengrab ist bisher auf taube Ohren bei den USA und auf betretenes Schweigen in UNO-Kreisen gestoßen. Im Fall der USA ist das verständlich, denn sie müssen sich in ganz besonderer Weise angegriffen fühlen. US-Militärangehörigen wird nämlich vorgeworfen, nicht nur Taliban-Gefangene gefoltert und ermordet zu haben, sondern auch am Verschwinden von bis zu 3.000 Männern im Gebiet von Masar-i Scharif beteiligt gewesen zu sein. Hunderte von ihnen sind vermutlich erschossen worden. Wie viel wussten US-Militärs?

Diesen Fragen geht Jamie Doran in einem Artikel nach, den er in der deutschen Ausgabe von Le Monde diplomatique veröffentlicht hat (September 2002). Jamie Doran hat früher für das BBC-Fernsehen gearbeitet und hat eine Reihe internationalen Preise für diverse Dokumentarfilme erhalten. Sein Film "Massaker in Masar", der im Juni in Straßburg erstmals Abgeordneten des Europäischen Parlaments gezeigt wurde, ist ein beeindruckendes, unter extrem gefährlichen Bedingungen entstandenes Dokument.

In seinem Artikel schilder nun Doran die Beweggründe, die ihn nach Afghanistan verschlagen hatten. Er war auf den Spuren einer neuen Drogenschmuggelroute durch die zentralasiatischen Länder, am Ufer des Amu Darya, der Usbekistan von seinem südlichen Nachbarn trennt. Das war im April 2001, noch unter der Herrschaft der Taliban. Sieben Monate später, im November, kam Jamie Doran wieder ins Land. Diesmal wurde er nicht von Taliban-, sondern von Soldaten der Nordallianz begleitet. Sie hatten bereits große Teile des Nordostens Afghanistans eingenommen, so die Städte Herat und - kriegsentscheidend - Masar-i Scharif. Die Schlüsselfigur der Entscheidungsschlacht um Masar-i Scharif war General Abdul Raschid Dostum - ein "brillanter Militärstratege", wie Doran schreibt, aber auch einer der "gefürchtetsten Warlord des Landes". Beim Angriff auf die schweren Artilleriestellungen der Taliban starben mehr als dreihundert Reiter, doch trotz dieser schweren Verluste begann der Zusammenbruch des Taliban-Regimes. Bekannt ist auch, dass an dieser Entscheidungsschlacht die Nordallianz nicht nur Unterstützung durch US-Kampfflugzeuge, sondern auch durch Spezialtruppen am Boden erhalten hat.

In den anschließenden Kapitulations- und Übergabeverhandlungen wurden den sich ergebenden afghanischen Taliban-Soldaten Zusagen gemacht, dass sie ihre Waffen abzugeben hätten und dann nach Hause gehen dürften. Die Al-Qaida- und die ausländischen Kämpfer sollten hingegen den Vereinten Nationen übergeben werden. Doch bevor ein endgültiges Abkommen darüber abgeschlossen wurde, schaltete sich US-Verteidigungsminister Rumsfeld ein. "Es wäre sehr bedauerlich", sagte er, "wenn die Ausländer in Afghanistan - die al-Qaida und die Tschetschenen und andere, die hier mit den Taliban zusammengearbeitet haben - wenn man diese Leute freilassen und ihnen irgendwie erlauben würde, in ein anderes Land zu gehen und dort ähnliche terroristische Taten zu verüben." Und immer wieder wurde ein Satz von ihm zitiert, der als Drohung über den gegnerischen Kämpfern hing: "Ich hoffe, dass sie entweder umgebracht oder gefangen genommen werden. Es sind Leute, die schreckliche Dinge getan haben."

Am 21. November 2001 war eine Übereinkunft erreicht: Die gesamten Streitkräfte der Taliban sollten sich gegen das Versprechen, dass man sie am Leben ließ, der Nordallianz ergeben. Etwa 470 Kämpfer (darunter viele mutmaßliche Al-Qaida-Mitglieder) wurden nach Kalai Dschanghi gebracht, wo man sie in den Tunneln unter einem riesigen umzäunten Areal einsperrte. Am 25. November, so erzählt Doran, trafen zwei CIA-Agenten ein, die die Männer einzeln verhören sollten. Während dies geschah, kam es zu einem Aufstand. Die besiegten Taliban überwältigten mehrere Wachen, nahmen ihnen die Waffen ab und fingen an zu schießen. Binnen weniger Minuten waren außer dem CIA-Mann Johnny "Mike" Spann auch etwa dreißig Nordallianz-Soldaten tot. Dann begann ein Feuergefecht, das heftiger wurde, als die Taliban das Waffenlager des Forts eroberten, das sich groteskerweise in demselben Areal befand, in dem sie gefangen gehalten wurden. US-Spezialeinheiten vor Ort forderten Unterstützung aus der Luft, während britische SAS-Angehörige den Gegenangriff anführten. Zwei Tage später Tag war im oberirdischen Teil des Forts kein einziger Talibankämpfer mehr am Leben. Doran: "Ein höchst ungewöhnlicher Sachverhalt, denn nach einer derartigen Militäroperation sollte man zumindest erwarten, ein paar Verwundete zu finden."

Wenige Tage später wurden in den unterirdischen Gängen von Kalai Dschanghi 85 Überlebende, darunter der amerikanische Taliban-Kämpfer John Walker Lindh, entdeckt. Die ganze Aufmerksamkeit galt nun diesen Gefangenen. Für das Schicksal von rund 1.000 Männern, die in Kundus kapituliert hatten, interessierte sich niemand mehr. Dasselbe gilt für die Gefangenen in einem anderen Fort, das nach Auffassung von Doran "Schauplatz einer Massenerschießung" wurde, bei der "bis zu 3.000 Gefangene ermordet wurden."

Jamie Doran hat herausgefunden, dass von ursprünglich 8.000 Gefangenen, um die es bei den Kapitulationsverhandlungen gegangen war, gerade einmal 3.015 übrig blieben. Und er stellt die Frage: Wo blieb der rest von rund 5.000 Gefangenen? Die meisten von ihnen, so vermutet Doran, sind in der Wüste begraben. Unter anderem unter einem fünfzig Meter langen Sandhügel bei Dascht Leili. Nach Berichten von Augenzeugen (Doran beteuert: "Keiner unserer Zeugen hat für irgendetwas Geld erhalten") lässt sich der Hergang in etwa so darstellen:
Fort Kalai Zeini liegt an der Straße von Masar nach Schiberghan. Diese auch nach afghanischen Maßstäben gewaltige Festung diente als Durchgangslager für die tausenden von Gefangenen aus Kundus. Sie sollten ins Gefängnis von Schiberghan gebracht werden, wo sie von US-Experten verhört werden sollten. In Kalai Zeini mussten die Gefangenen Aufstellung nehmen und wurden dann in Container gepfercht. 25 Container wurden zum Abtransport nach Schiberghan beladen, etwa 200 Mann pro Container. Den weiteren Hergang schilder Doran so:

Als die Taliban bei mehr als dreißig Grad Hitze wie Sardinen in die unbelüfteten, völlig lichtlosen Stahlkästen gezwängt wurden, flehten sie um Erbarmen. Die Antwort folgte prompt. Was geschah, schildert ein afghanischer Soldat, dessen Aussage durch das Eingeständnis glaubwürdig wird, dass er selbst einige Gefangene umgebracht hat.
Soldat: "Ich schoss auf die Container, um Löcher für die Luftzufuhr zu machen, und einige wurden dabei getötet."
Interviewer: "Sie persönlich haben Löcher in die Container geschossen. Wer hat Ihnen den Befehl dazu gegeben, warum haben Sie das gemacht?"
Soldat: "Die Kommandeure haben es uns befohlen."
Doch dieser Soldat verschleiert mit seiner ehrlichen Aussage eine Ungeheuerlichkeit. In den Containern, die wir gefunden haben, befinden sich nämlich viele Einschusslöcher unten und in der Mitte, aber nicht oben. Hätten sie wirklich der Belüftung dienen sollen, um das Überleben der Gefangenen zu ermöglichen, hätte man in den oberen Teil des Containers geschossen.
Ein Taxifahrer aus der Umgebung war zu einer der provisorischen Tankstellen an der Überlandstraße gefahren. "Als sie Gefangene von Kalai Zeini nach Schiberghan transportierten, wollte ich mein Auto voll tanken. Ich roch etwas Komisches und fragte den Tankwart, wo es herkam. ,Schauen Sie sich um', sagte er. Da sah ich die drei Container-Lastwagen. Ströme von Blut schossen aus den Containern. Mir standen die Haare zu Berge, es war ganz schrecklich. Ich wollte wegfahren, aber da stand einer der Laster im Weg, der liegen geblieben war und abgeschleppt werden musste."
Als der Taxifahrer am nächsten Tag vor seinem Haus in Schiberghan stand, erlebte er eine nicht minder grausige Szene: "Ich sah, wie drei weitere mit Containern beladene Lastwagen an meinem Haus vorbeifuhren. Aus denen lief das Blut nur so heraus, wie Regen."
Nicht bei allen Containern brachten die Kugeln den eingeschlossenen Gefangenen die tödliche Erlösung. Die meisten überließ man vier, fünf Tage ihrem Schicksal, bis sie erstickten, verhungerten, verdursteten. Als man die Container schließlich öffnete, war von den Insassen nur noch eine grauenhafte Masse aus Urin, Blut, Kot, Erbrochenem und verwesendem Fleisch übrig geblieben.


Die Amerikanischen Kommandeure in Schiberghan sollen es schließlich gewesen sein, die den afghanischen Soldaten, welche die Todeskonvois begleiteten, befahlen, die Toten "aus der Stadt zu schaffen, bevor sie von den Satelliten gefilmt würden". Eine zentrale Aussage, die auf die mögliche Verantwortung der US-Truppen verweist. Jamie Doran:
"Diese Aussage, die auf eine US-amerikanischen Beteiligung hinweist, wird bei allen künftigen Untersuchungen ein entscheidender Punkt sein. Eine völkerrechtliche Verfolgung, aber auch die zivile und die Militärgerichtsbarkeit auf nationaler Ebene, ist in hohem Maße darauf angewiesen, die Befehlskette zu ermitteln, die zu dem verbrecherischen Geschehen führt. Mit anderen Worten: Man muss feststellen, wer in Schiberghan das Sagen hatte."

Eine amerikanische Mitverantwortung könnte sich auch bei der gezielten Tötung von Überlebenden dieser Transporte durch Soldaten der Nordallianz ergeben. Jedenfalls gibt es auch hierüber Zeugenaussagen. Ein Beispiel:
"Sie haben meinen Lastwagen schon in der Stadt Masar beschlagnahmt und mir nichts bezahlt. Sie haben meinen Lastwagen genommen und einen Container darauf geladen, und ich habe die Gefangenen von Kalai Zeini nach Schiberghan gebracht und dann nach Dascht Leili, wo sie von den Soldaten erschossen wurden. Manche lebten noch, waren verletzt oder bewusstlos. Sie haben sie hierher gebracht, ihnen die Hände gefesselt und sie erschossen. Ich habe vier Fahrten mit den Gefangenen gemacht, hin und zurück. Insgesamt habe ich 550 bis 600 Menschen hierher gebracht."

Nach seinen Aussagen waren US-Soldaten sowohl im Gefängnis von Schiberghan als auch bei Dascht Leili anwesend. Dies musste nach einer Enthüllung in "Newsweek" vom 26. August auch die US-Regierung eingestehen: Sie räumt inzwischen ein, dass es ein Massaker bei Dascht Leili gegeben hat, dass die anwesenden US-Soldaten aber nichts davon bemerkt hätten. Dem stehen wiederum Aussagen entgegen, wonach sich US-Soldaten selbst an Grausamkeiten gegenüber Gefangenen beteiligt haben sollen. Auch hierzu eine Aussage:
"Ich war als Soldat in Schiberghan und habe gesehen, wie ein amerikanischer Soldat einem Gefangenen das Genick gebrochen hat. Ein anderes Mal übergossen sie Gefangene mit Säure oder etwas Ähnlichem. Die Amerikaner machten, was sie wollten. Wir konnten sie nicht davon abhalten alles war unter der Befehlsgewalt des amerikanischen Kommandanten."

Inzwischen hat sich auch der prominente Menschenrechtsanwalt und ehemalige Vorsitzende von amnesty international, Andrew McEntee, eingeschaltet. Nach Prüfung der Unterlagen, die ihm Jamie Doran gegeben hatte, sagte er: "Meines Erachtens ergibt sich aus den vorgelegten Beweisen eindeutig, dass eine umfassende unabhängige Untersuchung unabdingbar ist. Man hat die Gefangenen umgebracht und ihre Leichen verschwinden lassen. Hier handelt es sich nicht um simple Verstöße gegen internationales Recht, sondern um Delikte nach den Gesetzen verschiedener europäischer Länder, die nach übergeordneter Zuständigkeit verlangen, vor allem aber sind sie auch nach US-amerikanischem Recht Verbrechen."

Es wird Zeit, dass Spuren der mutmaßlichen Kriegsverbrechen gesichert und die Vorwürfe von einer UN-Kommission untersucht werden. Auch der Afghanistan-Krieg war ein schmutziger Krieg.

Pst
Grundlage: Jamie Doran: Dokumente eines Kriegsverbrechens.
In: Le Monde diplomatique, Deutsche Ausgabe, September 2002 (taz-Beilage).


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