Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Massaker im Norden Afghanistans: Was haben die Grabungen ergeben?

Mitarbeiter der "Ärzte für Menschenrechte" (USA) berichtet über Testgrabungen

Vor wenigen Tagen haben wir über eine Aufsehen erregende Enthüllung eines irischen Jornalisten berichtet: Jamie Doran behauptete in einer internationalen Pressekonferenz, Angehörige der Nordallianz hätten - unter Beisein von US-Soldaten - während des Afghanistan-Krieges mehrere Tausend Gefangene getötet (siehe "Massaker in Mazar"). Auch die US-Organisation "Ärzte für Menschenrechte" hatte sich schon des Falls angenommen und Testgrabungen in dem besagten Gebiet vorgenommen. Über die Ergebnisse informiert ein Interview mit John Heffernan. Das Interview, das wir im Folgenden dokumentieren, wurde von der "jungen Welt" geführt (Interviewer: Harald Neuber) und am 2. Juli veröffentlicht.


Frage: Wann haben Sie die ersten Leichen gefunden?

John Heffernan: Im Januar dieses Jahres in unmittelbarer Nähe des Gefängnisortes Sherbergan in der nordafghanischen Wüste.

F: In einem Bericht schreiben Sie über »mutmaßliche Massengräber«. Wie viele Leichen vermuten Sie in der Region?

Über die genaue Anzahl der dort verscharrten Toten kann ich keine Aussage treffen. Wir haben bislang im Rahmen von insgesamt drei Grabungen 15 Leichen obduziert. Schon im Januar haben wir aus verschiedenen Quellen, von Afghanen und von internationalen Kräften, Hinweise auf ein Massengrab zehn Kilometer außerhalb des Gefängnisses in Sherbergan anderthalb Autostunden westlich von Masar-i-Scharif bekommen. Zur selben Zeit haben wir von anderen Leuten die Horrorgeschichten über den Fall der Stadt Kundus gehört.

F: Die Horrorgeschichten, die der Dokumentarfilmer Jamie Doran in »Massaker in Masar« aufgegriffen hat?

Es war von Anfang an bekannt, daß beim Fall von Kundus bis zu 8000 Männer gefangengenommen wurden. Bekannt war auch, daß über 3000 von ihnen nach Sherbergan gebracht wurden, andere wurden auf weitere Lager verteilt. Zugleich zeichnete sich aber ab, daß eine ungeheuer große Gruppe dieser Gefangenen plötzlich vom Erdboden verschwunden war. Kurz vor unserer ersten Grabung im Januar erzählte uns ein Augenzeuge von LKW-Transporten in die Wüste und angeforderten Bulldozern. Und tatsächlich: Als wir an der Grabungsstelle ankamen, sahen wir frische Bulldozerspuren und Erdaufschüttungen. An dieser Stelle stießen wir auf die Leichen.

F: Was haben Ihre weiteren Forschungen ergeben?

Schon bei der ersten Untersuchung sind wir auf menschliche Reste und Kleidung gestoßen. Im Februar untersuchte ein Anthropologe in unserem Auftrag die Fundstelle. Er bestätigte unsere Funde nicht nur, sondern gab auch das Alter der Reste mit nur wenigen Monaten an. Im Mai fand die dritte Grabung unter UN-Aufsicht statt, dabei wurden die 15 Leichen untersucht. Die medizinische Obduktion von dreien ergab, daß diese Menschen erstickt waren, so, wie es beim Transport in einem Stahlcontainer in die Wüste geschehen kann.

F: Wie sollte mit dem Fall weiter umgegangen werden?

Bislang haben wir nicht mehr Möglichkeiten zur Untersuchung gehabt. Die bis jetzt vorliegenden Ergebnisse sprechen eine klare Sprache, sind aber noch kein Beweis für ein Kriegsverbrechen. In Anbetracht der Ausdehnung der Areals aber könnte dort eine Menge Menschen verscharrt worden sein. Eben deswegen gilt es, die Gegend dringend vor Zugriff zu schützen. Erst dann könnte man weitere Untersuchungen anstellen und zu einem abschließenden Ergebnis über die Ausmaße des Grabes kommen.

F: Wie haben die politischen Verantwortlichen in Afghanistan, vom Präsidenten über die UN bis hin zum ausländischen Militär, auf Ihre Berichte reagiert?

Im März haben wir einen Bericht an Präsident Karsai geschickt und ihn um Aufklärung gebeten. Er war es schließlich auch, der unlängst die Einrichtung einer Wahrheitskommission angekündigt hat. Weil wir wissen, daß die afghanische Regierung kaum die Mittel haben wird, um das Areal zu sichern, haben wir ein ähnliches Schreiben an die britische und die US-Regierung gesandt. Es kam keine Antwort. Wir hatten unseren Bericht zunächst nicht veröffentlicht, weil wir den Verantwortlichen eine Chance zum Handeln geben wollten. Erst als keine Reaktion kam, beschlossen wir, an die Öffentlichkeit zu gehen.

F: Sehen Sie in Ihren Informationen einen Beleg für einen Massenmord?

Bislang sehe ich diese schweren Vorwürfe nicht als bewiesen an. Allerdings bestärken Dorans Aufnahmen unsere Forderung nach einem sofortigen Schutz des Areals.

Aus: junge Welt 2. Juli 2002


Zu weiteren Beiträgen über Afghanistan

Zurück zur Homepage