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Afghanistan-Krieg nach der Schneeschmelze

Von Uli Cremer *

16.04.2010

In der ersten Aprilhälfte 2010 sind sieben Bundeswehrsoldaten in Afghanistan gefallen. Viele Medien, PolitikerInnen und Stammtische haben das zum Anlass genommen, eine „bessere Ausrüstung unserer Soldaten“ in Afghanistan zu verlangen. Die Trauerfeiern werden instrumentalisiert, um eine Fortsetzung des Krieges zu rechtfertigen. In Wirklichkeit werden die Interessen der Bundeswehr-Soldaten, die der deutsche Bundestag in den Krieg geschickt hat, am konsequentesten von der Friedensbewegung vertreten, die den sofortigen Abzug aus Afghanistan verlangt.

Im Antrag zur GRÜNEN BDK in Rostock (Oktober 2009) aus der Reihen der GRÜNEN FRIEDENSINITIATIVE wurde gefordert: „Der kurzfristige Abzug der NATO sowie der anderen westlichen Truppen aus Afghanistan ist friedenspolitisch alternativlos. Im Herbst 2009 wäre darum die richtige politische Entscheidung, die deutschen Truppen bis Ende des 1.Halbjahres 2010 abzuziehen. Nur ein solch kurzfristiges Abzugsdatum gewährleistet, dass die Bundeswehr an den Kriegshandlungen 2010, die vermutlich wie in den letzten 30 Jahren nach der Schneeschmelze einsetzen, nicht mehr teilnimmt. Dieses Signal soll die anderen NATO-Staaten, in denen wie in Deutschland die Mehrheit der Bevölkerung den Krieg ablehnt, bewegen, ihre Truppen ebenfalls abzuziehen.“ Bekanntlich hat sich die BDK für die Fortsetzung des Militäreinsatzes entschieden und inzwischen ist es „nach der Schneeschmelze“.

In der Logik des Krieges liegt es, dass es auf Seiten der Kombattanten zu Verlusten kommt, auch wenn sich jeder Kriegsteilnehmer wünscht, dass es nur auf Seiten des Kriegsgegners Opfer gibt. Insgesamt haben die westlichen Truppen seit 2001 1.728 Gefallene zu verzeichnen (Stand 16.4.2010) - darunter über 1.000 US-Soldaten, an deren Ausrüstung vermutlich nicht herumzumäkeln war. Betrachtet man den Afghanistan-Krieg nicht selektiv durch die nationalistische deutsche Brille, markieren die jüngsten Opfer aus den Reihen der Bundeswehr keine neue Qualität im Krieg. Allerdings sind die Ammenmärchen, dass es zwei Afghanistan gäbe, den ruhigen Norden und den umkämpften Süden, wie eine Seifenblase geplatzt. Das Hamburger Abendblatt resümierte am 3.4.2010: „Es gibt nur ein Afghanistan. Und dort herrscht Krieg.“

Dass der Krieg sich in Nordafghanistan intensiviert, ist alles andere als überraschend. Seitens der GRÜNEN FRIEDENSINITIATIVE wurde immer wieder auf die militärischen Hintergründe aufmerksam gemacht: Die Hauptroute für den militärischen Nachschub der westlichen Truppen führt über Pakistan und wurde seit Jahren von den Aufständischen attackiert. Deswegen baute die NATO die Nordroute über Russland (das den Afghanistan-Krieg seit 2001 unterstützt) aus, die von der Bundeswehr schon seit mehreren Jahren genutzt wurde. Im Juli 2009 unterzeichnete Obama in Moskau einen Vertrag, der den US-Nachschub über die Nordroute regelte. Außerdem erbrachte der letzte „Strategiewechsel“ der USA bzw. der NATO eine weitere Truppenverstärkung. Statt ca. 100.000 müssen nun 150.000 Soldaten mit Nachschub versorgt werden.

In der Kriegslogik liegt es nun, dass die Aufständischen versuchen, auch diese Transportroute versuchen zu attackieren. Dies wiederum hat die NATO bereits frühzeitig antizipiert und deswegen 5.000 zusätzliche US-Soldaten in die Region verlegt. Im Ergebnis finden im Norden immer mehr militärische Auseinandersetzungen statt.

Und wenn in Nordafghanistan eine neue Brücke gebaut wird, hat sie zumindest eine Doppelfunktion („dual use“): Einerseits mag sie für das zivile Leben in Afghanistan hilfreich sein, andererseits dürfte sie die militärische Effektivität der westlichen Truppen erhöhen. Selbst wenn der Leopard-Panzer für die Brücke zu schwer sein mag, kann sie ein LKW passieren, der neue Munition für die ISAF-Truppen bringt.

Solches militärische Basiswissen in Zusammenhang mit Nordafghanistan findet in der breiten Öffentlichkeit kaum Beachtung. Nur wenige Medien stellen die Zusammenhänge her, z.B. die FAZ am 16.4.2010: „Durch den ‚weichen’ Norden verlaufen die Nachschublinien für die Südfront.“ (Kommentar „Keine Ruhe mehr“)

Die militärischen Attacken der Aufständischen werden nicht militärstrategisch eingeordnet. Stattdessen schwingen gerade PolitikerInnen, die hinter dem Einsatz der Bundeswehr stehen, die moralische Keule: Die Angriffe der Aufständischen werden wahlweise als „feige“, „hinterhältig“ und „terroristisch“ bezeichnet. Die Kriegswirklichkeit ist jedoch seit Jahrhunderten und überall so, dass die technisch unterlegene Seite selten so dumm ist, sich der offenen Feldschlacht zu stellen, bei der sie nur verlieren kann. Also setzt sie auf das Überraschungsmoment und legt z.B. einen Hinterhalt. So wurden vor 2000 Jahren die technisch überlegenen Römer von den Germanen in der Varusschlacht bei Kalkriese (Teutoburger Wald) erfolgreich in einen Hinterhalt gelockt. Andererseits: Als was soll man einen Drohnenangriff auf einen militärischen Führer der Gegenseite bezeichnen, bei dem auch diverse ZivilistInnen ihr Leben verlieren? Als was einen Luftangriff ohne Vorwarnung auf gestohlene Tanklastzüge?

Bei der Trauerfeier für die drei am Karfreitag Gefallenen der Bundeswehr sprachen Regierungsvertreter ganz selbstverständlich vom „Krieg in Afghanistan“, zumindest jedenfalls „umgangssprachlich“. Der SPD-Vorsitzende forderte daraufhin angesichts der gewechselten Begrifflichkeit einen neuen Bundestagsbeschluss über den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr. Hierzu ist zweierlei zu bemerken:

Erstens ist es natürlich juristisch Unsinn, dass der Bundestag ein neues Afghanistan-Mandat beschließen muss. Denn seit Jahren fußt der Einsatz auf einem Kapitel-VII-Mandat des UN-Sicherheitsrats: Es handelt sich also um einen „friedenserzwingenden“ Einsatz, umgangssprachlich: „Kriegseinsatz“. Die NATO hat keine Blauhelme nach Afghanistan geschickt. Das ist alles kein Zufall, denn die NATO bzw. die NATO-Staaten selbst haben seit Mitte der 90er Jahre dafür gesorgt, dass ihre Einsätze auf Kapitel VII basiert wurden. Damals wurden Peacekeeping und Peace-Enforcement zu einer Peace-Support Doktrin verrührt.[1] Das eröffnete die Möglichkeit, jederzeit von der einen in die andere Einsatzform zu wechseln, ohne ein neues Mandat beantragen zu müssen. Auch der gegenwärtige Kosovo-Einsatz der NATO, der vom Erscheinungsbild wie eine Peacekeeping-Blauhelm-Veranstaltung daherkommt, beruht auf einem Kapitel VII-Mandat. Aber das wird auch der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel alles wissen. Ihm geht es eigentlich ja auch nicht um Juristerei, sondern um ein politisches Manöver.

Zweitens ist es deshalb zu begrüßen, dass die SPD offenbar nach einem gesichtswahrenden Weg sucht, ihre Unterstützung des Afghanistan-Krieges zu beenden. Eine gar nicht so einfache Aufgabe, denn unter der rot-grünen Regierung ist der Bundeswehr-Einsatz begonnen worden und diese sorgte auch international dafür, dass die NATO auf dem Kriegsschauplatz aktiv wurde und nach und nach ihre ISAF-Mission von Kabul auf ganz Afghanistan ausdehnte. Und es war der SPD-Minister Struck, der die Formel prägte, Deutschland werde am Hindukusch verteidigt.

Vom GRÜNEN Führungspersonal sind entsprechende Absatzbewegungen aktuell nicht erkennbar. Immerhin hat aber bei der letzten Afghanistan-Abstimmung im Bundestag nur noch eine Minderheit von 8 GRÜNEN Abgeordneten mit der Regierung gestimmt.

Anmerkung
[1] Zum Thema NATO-Doktrin Peace-Support siehe auch: Uli Cremer, Neue NATO: die ersten Kriege, Hamburg 2009, S.31ff

* Dieser Artikel erschien auf der Internet-Seite der Grünen-Friedensinitiative, 16.04.2010; www.gruene-friedensinitiative.de


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