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Ein Afghane in Brüssel

Klartext im Europaparlament: Der Marburger Politikwissenschaftler Matin Baraki berichtet über die Lage am Hindukusch

Von Rainer Rupp *

Die Lage der Frauen in Afghanistan ist jetzt »großartig«. Und auch sonst hat der Westen »beim Aufbau eines Rechtsstaates erhebliche Fortschritte gemacht«. Diese und ähnliche Behauptungen von Tim Eestermans von der Politikabteilung des Rates der EU bei einer Sitzung der »Intergroup on Peace Initiatives« im Europäischen Parlament in Brüssel versetzten in der vergangenen Woche den größten Teil des Publikums in ungläubiges Staunen. Hatte doch sein Vorredner, der afghanisch-deutsche Politikwissenschaftler Matin Baraki, ein ganz anderes Bild von der Lage am Hindukusch gezeichnet, die durch noch mehr westliches Militär verschlimmert werden würde. Die Debatte in der parteiübergreifenen Sitzung hatte der deutsche Europaparlamentarier Tobias Pflüger organisiert, weil sich die Mehrheit seiner Abgeordnetenkollegen bis dato hartnäckig geweigert habe, das Thema auf die Tagesordnung zu setzen – trotz der militärischen Eskalation in Afghanistan.

In der Debatte hatte Eestermans der vernichtenden Kritik Barakis an der NATO- und EU-Politik nichts entgegen zu setzen. Der an der Universität Marburg lehrende und auf Afghanistan spezialisierte Politikwissenschaftler war erst wenige Tage zuvor von einem seiner regelmäßigen, längeren Besuche am Hindukusch zurückgekommen. Grundproblem, führte Baraki nun in Brüssel an, sei nach wie vor: Die Bevölkerung Afghanistans traue der von den Besatzern eingesetzten Regierung Hamid Karsai nicht über den Weg. Daher müsse diese von den NATO-geführten Afghanistan-Truppen (ISAF) vor der Bevölkerung geschützt werden. Inzwischen sei die Lage so verheerend, daß laut einer kanadischen Umfrage in vier Südprovinzen 28 Prozent der Menschen die Taliban wiederhaben wollen. Sicher seien es aber noch viel mehr, so Baraki. Viele der Befragten hätten es wahrscheinlich nicht gewagt, sich offen zu den Taliban zu bekennen. Ein Ende des NATO-Einsatzes sei also nicht absehbar. Absehbar sei allerdings, daß die westlichen Truppen wie zuvor die Briten und Russen aus Afghanistan verjagt werden.

Laut Baraki ist die Karsai-Regierung, deren Macht nicht über »Kabulistan« hinausgehe, bis in die oberste Etage hoffnungslos in Korruption und Drogenhandel verstrickt. In der Hauptstadt Kabul würden Luxushotels und schicke Einkaufszentren gebaut, die sich an der Kaufkraft der Drogenbarone, der Spitzenpolitiker und der gut bezahlten internationalen Berater orientierten. Dies sei das vom EU-Analysten Eesterman gepriesene Wirtschaftswachstum – basierend auch auf westlicher Milliardenhilfe. An den Bedürfnissen der Bevölkerung gehe dies allerdings »total vorbei«, so Baraki. Nicht einmal in Kabul gebe es außerhalb der Prominentenviertel ausreichend Elektrizität, sauberes Wasser und genügend Nahrungsmittel. Wegen des allgegenwärtigen Einflusses der Drogengelder könne Afghanistan zu Recht als »Drogenstaat« bezeichnet werden. Und die vom Westen bejubelten, angeblich »demokratischen Wahlen« seien eine Farce gewesen. Nur mit Hilfe von Manipulationen und Bestechungen sei Karsai zum Präsident gewählt worden. Dabei hätten die westlichen Wahlbeobachter Beihilfe geleistet, denn keiner von ihnen habe protestiert, als Karsai bei der Wahlauszählung 23 Stimmen mehr bekommen hatte, als Wahlberechtigte anwesend waren.

Um Barakis Kritik an der mangelnden Souveränität von Regierung und Parlament zu widerlegen, führte Eestermans als Beweis dafür das Amnestiegesetz an, das jüngst »gegen den ausdrücklichen Willen der internationalen Gemeinschaft« verabschiedet worden sei. Genau das habe wenig mit Souveränität, aber um so mehr mit Selbstschutz zu tun hatte gehabt, korrigierte der Marburger Friedensforscher. Schließlich seien mehr als 50 Prozent der Abgeordneten Kriegsverbrecher, und ein Großteil der übrigen Parlamentier seien deren Verwandte und Freunde.

Einen Beitrag der ganz anderen Art steuerte die Medienbeauftrage der ­NATO für Afghanistan, Alexandra Taylor, bei. In ihrer einzigen Wortmeldung ermahnte sie Baraki, der seit fast 40 Jahren über Afghanistan wissenschaftlich arbeitet, die Lage vor Ort doch erst einmal ernsthaft zu untersuchen, bevor er solch negative Stellungnahmen abgäbe. Auf die Frage der jW, wie lange sie denn in Afghanistan gewesen sei, freute sich Frau Taylor berichten zu können, daß sie schon bald Gelegenheit haben werde, das Land zum ersten Mal zu besuchen.

* Aus: junge Welt, 3. April 2007

Von Matin Baraki, häufiger Referent bei den "Friedenspolitischen Ratschlägen" in Kassel, haben wir zuletzt veröffentlicht: Die Zerstörung Afghanistans, ein Werk der Imperialmächte


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