"Die Bundesregierung weigert sich weiterhin, die Realitäten des Afghanistan-Krieges zur Kenntnis zu nehmen"
Friedensratschlag kommentiert die jüngste Regierungserklärung der Bundeskanzlerin: "'Strategiewechsel' ist ein Rohrkrepierer"
Im Folgenden dokumentieren wir eine Stellungnahme des Bundesausschusses Friedensratschlag zur Regierungserklärung der Bundeskanzlerin, die sie am 27. Januar 2010 im Bundestag abgegeben hatte.
Friedensratschlag: Bundesregierung lügt weiter für den Krieg
Stellungnahme des Bundesausschusses Friedensratschlag
Eine Milliarde für den Krieg
Bundesregierung beteiligt sich an Eskalation des Afghanistan-Krieges
-
Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Merkel verklärt die Lage
- Es geht um Ausweitung des Bundeswehrkampfeinsatzes
- Was die Kanzlerin verschweigt
- Rede an die Heimatfront; Bevölkerung nicht überzeugt
- Friedensbewegung geht aus die Straße
Kassel, Hamburg, Berlin, 28. Januar 2010 - Auf die gestrige
Regierungserklärung der Bundeskanzlerin antwortet der Bundesausschuss
Friedensratschlag mit einer kritischen Stellungnahme. Fazit des
7-Punkte-Papiers: Die Bundesregierung hat die Eskalation des Krieges am
Hindukusch mit zu verantworten.
Die Bundesregierung hat ihre Marschrichtung vor der Londoner Konferenz
festgelegt: Es wird sowohl die bereits vorher angekündigte
Truppenerhöhung (von 4.500 auf 5.350) als auch eine Aufstockung der
Mittel für den zivilen Aufbau (von 250 auf 430 Mio. EUR) geben. Hinzu
kommt die Erhöhung der Zahl der Polizeiausbilder (von 123 auf 200).
Hinter diesen Zahlen verbirgt sich jede Menge Sprengstoff:
1) Die Bundesregierung weigert sich weiterhin, die Realitäten des
Afghanistan-Krieges zur Kenntnis zu nehmen. Anstatt die Lage am
Hindukusch entwicklungspolitisch zu verklären (es gab "manche
Fortschritte"), hätte es einer schonungslosen Bilanz des über acht Jahre
dauernden Krieges bedurft. Diese Bilanz liest sich anders als Merkels
Schönfärberei:
-
Keine signifikante Veränderung der Lage der Frauen,
- kein Fortschritt bei der Alphabetisierung (im Gegenteil: 36,5 % der
afghanischen Bevölkerung sind heute Analphabeten, 2001 waren es 34 %),
- zügige Rückkehr der Taliban-Herrschaft in der Fläche (laut Londoner
Forschungsinstitut ICOS werden 2009 80 % des Landes von Taliban
kontrolliert, 2007 waren es erst 54 %),
- Armut und Hunger haben laut UN-Berichten erschreckende Ausmaße
angenommen (Unterernährte Bevölkerung von 30 auf 39 % gewachsen,
Armutsbevölkerung von 33 auf 42 %),
- Anstieg der Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen von 26 % auf 47 %.
Das einzige, was wirklich blüht in Afghanistan, sind die Mohnfelder und
die Korruption. Bischöfin Margot Käßmann hatte Recht, als sie in ihrer
Neujahrsansprache sagte: "Nichts ist gut in Afghanistan."
2) Die Kanzlerin begründet die Erhöhung des Bundeswehrkontingents mit
der Notwendigkeit, den Schutz der Bevölkerung im Norden des Landes
"gemeinsam mit afghanischen Kameraden" zu verstärken. Dahinter verbirgt
sich die Übernahme der US-amerikanischen und britischen Praxis,
afghanische Soldaten zu Ausbildungszwecken in den Kampf zu schicken -
unter Begleitung von NATO-"Ausbildern". Ergebnis wird sein, dass der
Krieg auch in den Nordprovinzen weiter eskaliert, die Bundeswehr
häufiger in Gefechte verwickelt wird. Kein Wort darüber aus dem Mund der
Kanzlerin!
3) Bundeskanzlerin Merkel verschweigt auch den Beschluss des
NATO-Oberkommandierenden McChrystal, wonach 5.000 US-Soldaten zusammen
mit 48 Hubschraubern zur Verstärkung in die Nordregion verlegt werden
und "unter das Kommando des von Deutschland gestellten
Regionalkommandeurs in Mazar-i-Sharif gestellt werden" sollen. Im
Klartext heiß das nämlich, dass mit einer Ausweitung der
Kampftätigkeiten in den ehemals "ruhigen" Gebieten zu rechnen ist. Das
verstärkte Bundeswehrkontingent dient also nicht dem besseren Schutz der
Zivilbevölkerung, sondern dem US-amerikanischen Modell der
Aufstandsbekämpfung (counter-insurgency), das schon bisher ebenso
verlustreich (v.a. für die Zivilbevölkerung) wie erfolglos geblieben ist.
4) Die Aufstockung der Polizeiausbilder (von 123 auf 200 Polizisten)
wäre nur dann vernünftig, wenn sichergestellt wird, dass die
ausgebildeten afganischen Polizisten ihren Dienst auch nach Recht und
Gesetz ausüben würden. Dies war bisher nur in Ausnahmefällen so. Ein
Großteil der afghanischen Polizisten läuft auf die Seite der Taliban
über oder lässt sich von lokalen Warlords für ihre Zwecke und zur
persönlichen Bereicherung einkaufen (z.B. für die
"Straßenräuber-Abzockerei" an Checkpoints, wie der Bund Deutscher
Kriminalbeamter in seiner jüngsten Stellungnahme formulierte). Davon
abgesehen ließe sich die Ausbildung afghanischer Polizisten viel
konstengünstiger in der Bundesrepublik durchführen.
5) Frau Merkel hat nichts über die Kosten des Krieges gesagt. Während
sich die Ausgaben in den zurückliegenden acht Jahren auf insgesamt gut
vier Mrd. EUR belaufen (pro Jahr im Durchschnitt also 500 Mio.), kostet
der Einsatz in diesem Jahr bereits 830 EUR, mit dem erweiterten
Bundeswehrumfang wird die Milliardengrenze pro Jahr überschritten. Es
besteht also nach wie vor ein eklatantes Missverhältnis zwischen den
Mitteln, die für den direkten Krieg, und den Mitteln, die für den -
vermeintlichen - zivilen Aufbau ausgegeben werden.
6) Die Regierungserklärung ist insgesamt der hilflose Versuch, der
Öffentlichkeit Fortschritte und Zukunftsverheißungen vorzugaukeln. Dazu
gehört die "Abzugsperspektive", von der immer öfter geredet wird. Die
Aussagen dazu waren aber mehr als vage: in den nächsten Jahren wolle man
"Verhältnisse" schaffen, die es den Afghanen "ermöglichen" sollen, für
ihre Sicherheit selbst zu sorgen. Wie kann man darauf hoffen, dass jetzt
geschehen soll, was in mehr als acht Jahren Krieg nicht erreicht wurde!?
Mit jeder Truppenerhöhung bisher haben sich auch die Widerstandsaktionen
erhöht, ist die Sicherheitslage im Land weiter destabilisiert worden.
Nur wer an Wunder glaubt, wird erwarten, dass sich diese Spirale nun
plötzlich umkehrt.
7) Trotz geheuchelter "Abzugsperspektive" und chronischer Schönfärberei
lässt sich die Bevölkerung kein X für ein U vormachen: Nach neuesten
Erhebungen sind knapp 80 Prozent der Bevölkerung in Deutschland gegen
die Erhöhung der Truppen; und vor zwei Wochen hatten sich in einer
ARD-Umfrage 71 Prozent für einen schnellstmöglichen Abzug der Bundeswehr
aus Afghanistan ausgesprochen. Die sanfmütig daher redende Dreieinigkeit
von Merkel, Guttenberg und Westerwelle hat es längst aufgegeben, die
Köpfe und Herzen der Afghanen zu gewinnen, sie versucht nur noch Ruhe an
der Heimatfront herzustellen. Dazu müssen faustdicke Lügen (über die
wirkliche Lage) und durchsichtige Informationslücken (Kunduz!)
herhalten. Wie lange können Regierung und Bundestag die Wählerinnen und
Wähler ungestraft belügen und täuschen?
Fazit und Ausblick:
Der von der Bundesregierung mit Blick auf die Londoner Konferenz
versprochene "Strategiewechsel" ist ein Rohrkrepierer. In Afghanistan
wird weiter Krieg geführt und gestorben; in Zukunft sogar noch mehr. Von
zivilem Aufbau kann im Schatten des Krieges keine Rede sein. Statt einer
"Afghanisierung" des Konflikts erleben wir eher eine "Amerikanisierung"
der Kriegsführung - auch im "deutschen" Norden.
Dazu sagen die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung und die
Friedensbewegung eindeutig NEIN. Die Änderung des Mandats für den
Bundeswehreinsatz, die wohl Ende Februar im Bundestag beschlossen werden
soll, darf nicht durchkommen! Dazu wird die Friedensbewegung zusammen
mit vielen anderen sozialen Bewegungen am 20. Februar in Berlin ihre
Präsenz zeigen und fordern:
"Kein Soldat mehr! - Truppen raus aus Afghanistan!"
Für den Bundesausschuss Friedensratschlag:
Lühr Henken, Hamburg/Berlin
Peter Strutynski, Kassel
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