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Anschläge gegen das Abzugskonzept

Afghanistan-Nord: Deutscher Hoffnungsträger tot / Afghanistan-Süd: ISAF brachte Kinder um

Von René Heilig *

Bei einem Anschlag auf ein Sicherheitstreffen von afghanischen Militärs und Spitzenpolitikern und einer hochrangigen deutschen Bundeswehrdelegation in Nordafghanistan sind am Samstag (28. Mai) zwei deutsche Soldaten getötet worden. Fünf weitere Soldaten, darunter auch General Markus Kneip, Chef der ISAF in Nordafghanistan, wurden verwundet.

Nie zuvor ist es den Taliban gelungen, einen General aus Deutschland oder einer anderen ISAF-Nation zu treffen. Nun liegt ein deutscher Zwei-Sterne-General im Feldlazarett. Was über General Kneip derzeit zu sagen ist, sprach er in den vergangenen Tagen oft selbst in Mikrofone: Dem Verletzten geht es den Umständen entsprechend gut.

Kneip war in Talokan eines der Anschlagsziele und hatte Glück. Bei den getöteten Deutschen handelt es sich um seinen Adjutanten, einen 43-jährigen Major aus dem Führungsunterstützungsbataillon 282 in Kastellaun und einen seiner Personenschützer, einen 31-jährigen Hauptfeldwebel des Feldjägerbataillons 152 aus Hannover.

Diese Mitteilungen, die das Einsatzführungskommando der Bundeswehr gestern bestätigte, sind jedoch zumindest unvollständig. Hinzugefügt werden muss, dass die Bemühungen um die Übergabe der Verantwortung an die afghanische Seite durch den Anschlag in Talokan einen herben Rückschlag erlitten haben.

Der von der Bundeswehr kommandierte Nordbereich galt bislang als der am ehesten zu befriedende, weshalb hier ISAF-Abzug und Machtübergabe beispielhaft ablaufen sollen. Und genau dort gelang es mehreren Selbstmordattentätern – vermutlich in Uniformen afghanischer Sicherheitskräfte – in den Gouverneurspalast von Talokan einzudringen und einen der wichtigsten Partner der Deutschen, den afghanische General Mohammed Daoud Daoud umzubringen.

Daud ist in vieler Beziehung ein unverzichtbarer Kabuler Machtfaktor gewesen – zuerst als Kommandeur der Nordallianz gegen die Taliban, dann als Vize-Innenminister, zuständig für die Bekämpfung des Drogenhandels – in den er angeblich tief verstrickt war – bis zum Chef der afghanischen Polizei im Norden des Landes. Ihm wäre nach der Machtübergabe zumindest in der für den Nachschub des Westens so wichtigen Region die entscheidende Rolle zugekommen.

Getötet wurde auch der Polizeichef der Provinz Tachar, Schah Dschahan Nuri, der Provinzgouverneur, Abdul Jabar Taqwa wurde verletzt.

Doch auch die ISAF verübte erneut einen Anschlag auf laufende Friedens- und Übergabebemühungen Bei einem Hubschrauberangriff der NATO im Südwesten sind zwölf Kinder – fünf Mädchen und sieben Jungen – sowie zwei Frauen getötet worden. Drei Kinder, eine Frau und zwei Männer seien verletzt worden, bestätigte der Sprecher des Provinzgouverneurs von Helmand am Sonntag (29. Mai).

ISAF-Hubschrauber seien am Samstag (28. Mai) in den Bezirk Nawsad gerufen worden, um den Soldaten eines US-Stützpunkts beizustehen. Dabei seien zwei Wohnhäuser getroffen worden. Ein Stammesführer in Nawsad sagte gegenüber AFP, zwölf Mitglieder seiner Familie seien bei dem Angriff getötet und zehn weitere verletzt worden. Er habe gesehen, wie die Hubschrauber beschossen worden seien. Sie hätten zunächst abgedreht, seien nach zehn Minuten aber zurückgekehrt. Dann hätten sie Raketen abgefeuert.

Erst am Samstag hatte der afghanische Präsident Hamid Karsai vor weiteren Kollateralschäden gewarnt und gefordert, die heiklen »Night Raids« gegen Führer der Aufständischen von afghanischen Truppen durchführen zu lassen, da sie die lokalen Gegebenheiten besser kennen.

Nach einem solchen geheimen Nachteinsatz waren jüngst in Talokan vier Menschen getötet worden. Die Folge: Am 18. und 19. Mai kam es zu gewaltsamen Protesten vor dem deutschen Camp. 17 Menschen starben. Obwohl unmittelbar Untersuchungen angeordnet worden waren, ist bis heute nicht klar, ob deutsche Soldaten, die nachweislich in die Menge geschossen hatten, Zivilisten getötet haben.

Während die Bundesregierung an ihrer Afghanistan-Politik festhalten will, erneuerte Gregor Gysi, Chef der Bundestags-Linksfraktion die Forderung: Die Bundeswehr muss unverzüglich raus aus Afghanistan.«

* Aus: Neues Deutschland, 30. Mai 2011


NATO-Raketen auf Kinder

Von Arnold Schölzel **

Die Blutspur der NATO in Afghanistan wird breiter, in der dortigen Bevölkerung wachsen Wut und Empörung: Bei Luftangriffen der Kriegsallianz sind in den vergangenen Tagen nach örtlichen Behördenangaben mehr als 30 Zivilisten und 20 Polizisten ums Leben gekommen. Bei einer Attacke in der südafghanischen Provinz Helmand starben am Samstag (28. Mai) 14 Zivilisten, zwölf Kinder und zwei Frauen, erklärte das Büro des Gouverneurs der Provinz am Sonntag. Am selben Tag teilte der Gouverneuer der nordöstlichen Provinz Nuristan mit, daß bereits am 25.Mai 18 Zivilisten sowie 20 Polizisten von ­NATO-Einheiten getötet worden waren.

Angesichts des Aufruhrs in der Bevölkerung hatte der afghanische Marionettenpräsident Hamid Karsai erst am Sonnabend das Kabuler Verteidigungsministerium angewiesen, Angriffe ausländischer Truppen zu verhindern, die nicht mit dem Ressort koordiniert sind. Die illegalen nächtlichen Tötungsoperationen – Night Raids – sollten nur von afghanischen Truppen durchgeführt werden. Am Sonntag bezeichnete Karsai die beiden Aktionen der NATO als »schlimmen Irrtum« und »Mord« und richtete »eine letzte Warnung« an die US-Streitkräfte im Land, ihre »einseitigen und unsinnigen Operationen« zu unterlassen: »Die Angriffe verletzen menschliche und moralische Werte, aber wir werden anscheinend nicht gehört.« Wegen der beiden Vorfälle brach er einen Besuch in Turkmenistan ab.

Am 18. und 19. Mai hatte die Erschießung von vier Menschen bei einer nächtlichen NATO-Mordaktion in Talokan in der nordöstlichen Provinz Tachar zu Demonstrationen wütender Einheimischer in der Stadt geführt, wobei auch ein Bundeswehrstützpunkt attackiert wurde. Die deutschen Soldaten schossen, wie nach und nach zugegeben wurde, in die Menge, insgesamt kamen 17 Zivilisten ums Leben. Am Sonnabend wurden bei einem Selbstmordanschlag in der Stadt ranghohe afghanische und deutsche Militärs sowie Polizeiführer getroffen. Am Sonntag hieß es aus Bundeswehr und Geheimdiensten, Ziel sei der deutsche General und Kommandeur der internationalen Besatzertruppe ISAF in Nordafghanistan, Markus Kneip, gewesen. Kneip und vier weitere deutsche Soldaten wurden bei dem Attentat verletzt, vier Afghanen sowie ein Hauptmann und ein Hauptfeldwebel der Bundeswehr starben. Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) behauptete dagegen auf einer Veranstaltung in Hamburg am Sonntag, der Anschlag habe Afghanen gegolten. Er und Außenminister Guido Westerwelle bekräftigten, daß die Bundesregierung weitermachen werde wie bisher. De Maizière sagte: »Wir werden den Weg der Partnerschaft nicht verlassen. Gerade nach den Demonstrationen der letzten Tage sollte neues Vertrauen gestiftet werden.« Westerwelle verkündete bei einem Besuch in Maskat, der Hauptstadt des Oman, der Anschlag »darf und wird uns nicht davon abbringen, unsere Strategie in Afghanistan umzusetzen.«

Dagegen erklärte der Vorsitzende der Fraktion Die Linke im Bundestag, Gregor Gysi, am Sonntag: »Der Kriegs­einsatz der Bundeswehr hat alle seine Ziele verfehlt: Der Terrorismus wird nicht zurückgedrängt, er nimmt zu.« Der NATO-Einsatz sei längst zum Teil des Problems geworden. Er forderte: »Die Bundeswehr muß endlich und unverzüglich raus aus Afghanistan.« Der Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag, Peter Strutynski, äußerte in einer Stellungnahme: »Wir fordern ein Ende des Selbstbetrugs. Der Konflikt in Afghanistan ist militärisch nicht zu lösen.«

** Aus: junge Welt, 30. Mai 2011


Wer A sagt ...

Standpunkt von René Heilig ***

Kanzlerin Merkel hat die abermalige Nachricht vom Tod deutscher Soldaten »schockiert und traurig« aufgenommen. »Dieser terroristische Anschlag zeigt eine mörderische Menschenverachtung.« Und die anderen Anschläge? Sind die weniger »mörderisch« und »menschenverachtend«, weil sie von Militärs gemeinschaftlich im Auftrag von Staaten verübt werden?! Wieso nimmt Merkel es nicht »schockiert und traurig« auf, wenn deutsche Soldaten, die – weil im Kriege – laut Grundgesetz eigentlich unter ihrem direkten Kommando stehen müssten, Menschen umbringen? Menschen, die weit weniger Schuld tragen als Generale und Gouverneure ...

Auch das Gewäsch vom »feigen« Angriff sollte man lassen. Wer sich in die Luft sprengt, macht das gewiss nicht aus Feigheit. Dass es nun Leute auch aus dem gehobenen Kriegsmanagement traf, ist nur folgerichtig. So wie die NATO nächtens »Hochwertziele« jagt, so suchen die Aufständischen durch Top-Anschläge politische Geländegewinne zu erzielen. Gerade weil Verteidigungsminister de Maizière weiß, dass der Krieg von keiner Seite gewonnen, aber in Deutschland verloren werden kann, bittet er um Unterstützung für die Soldaten, die doch »Teil von uns allen« sind.

Vom ersten Schuss an wird es von Tag zu Tag schwerer, Kriege zu beenden. Also weiter bis zum bitteren Ende? Statt zu schwafeln, sollten Merkel und de Maizière Brecht lesen: »Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war.«

*** Aus: Neues Deutschland, 30. Mai 2011 (Kommentar)


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