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ISAF-Abzugsvorbereitungen aus Afghanistan – Feilschen um Rückzugs-Routen durch Russland und die zentralasiatischen Republiken

Ein Beitrag von Christina Nagel in der NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien" *


Musch-Borowska (Moderation):
Mehr als acht Jahre nach Beginn des Einsatzes in der afghanischen Provinz Kundus hat die Bundeswehr die Verantwortung für die Sicherheit in der Unruheregion Anfang des Monats an die Afghanen übergeben. Der Abzug aller internationalen Truppen aus Afghanistan ist längst beschlossen. Bis Ende 2014 soll die ISAF-Kampfmission planmäßig beendet sein. Der Abzug werde schwierig, meinte Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière jüngst bei seinem Überraschungsbesuch in Afghanistan. Vor allem der Rücktransport des militärischen Materials sei ein komplizierter Prozess.
Die geplanten Abzugsrouten führen nach Norden, durch die afghanischen Nachbarstaaten unter anderem Tadschikistan, Usbekistan und Russland. Dort laufen seit Langem die Verhandlungen über Transitwege und Bedingungen. Christina Nagel berichtet:


Manuskript Christina Nagel

Seit Monaten wird hinter den Kulissen um sichere Abzugsrouten gehandelt und gefeilscht. Delegationen aus Nato-Mitgliedsländern kommen, schauen und prüfen. Russland, Usbekistan, Kasachstan, Kirgistan, Turkmenistan und Tadschikistan locken, drohen und bieten.

Die NATO schätzt, dass sie über 125.000 Container und bis zu 80.000 Fahrzeuge aus 1.300 Feldlagern und Operationsbasen in Afghanistan herausbringen muss. Davon allein 6.000 Container und 1.700 Fahrzeuge – vom Geländewagen bis zum Schützenpanzer – die zurück nach Deutschland gebracht werden müssen.

Ein lukratives Geschäft für Logistik- und Transportunternehmen. Und eine gute Möglichkeit für die umliegenden Staaten, aus dem Abzug der ISAF-Truppen politisch Kapital zu schlagen.

Dass Russland die Wolgastadt Uljanowsk mit ihrem für große Transportmaschinen ausgelegten Flughafen und ihrer guten Eisenbahnanbindung als Logistikpunkt angeboten hat, ist aus Sicht des russischen Nahost-Experten Jewgenij Satanowski ein kluger Schachzug des Kreml:

O-Ton Satanowski (overvoice)
„Aus meiner Sicht ist das eine glänzende Idee. Denn es bringt die Amerikaner in eine recht ernste Abhängigkeit von Russland.“

Bekanntlich gebe es nichts auf der Welt umsonst:

O-Ton Satanowski (overvoice)
„Die Frage ist, welcher Preis es sein soll. Oder besser welche politischen oder geopolitischen Konzessionen. Geld kommt nicht in Frage, denn wir handeln nicht mit unserer Heimat.“

Das sehen vor allem die Kommunisten anders. Sie werfen dem Kreml vor, die Sicherheitsinteressen des Landes zu verkaufen: ausgerechnet an die NATO, die in der russischen Militärdoktrin unter der Rubrik „grundlegende äußere Kriegsgefahren“ geführt wird.

Russland, so die Botschaft zahlreicher Demonstrationen, brauche keine NATO-Basis. Vor allem nicht in Uljanowsk, wettert Kommunisten-Chef Gennadij Sjuganow:

O-Ton Sjuganow
„Die NATO strebt an die Wolga, wohl wissend, dass sie hier am Ufer eines unserer wichtigsten Flüsse einen Aufmarschplatz hat, von dem es wunderbar Richtung Osten geht, der eine direkte Wasserader nach Süden bildet, die sich bestens für zukünftige Abenteuer im Iran eignet.“

Populistische Töne, die Präsident Putin selbst verschuldet habe, meint der Moskauer Militär-Experte Alexander Golz. Immer wieder müsse die NATO als Sündenbock, als Feind von außen herhalten, um von innenpolitischen Problemen abzulenken:

O-Ton Golz (overvoice)
„Die russische Führung beschwört immer wieder die These, dass die NATO Russland Böses will. Nun ist es plötzlich anders: Russland und die NATO haben sich auf eine sehr nützliche Sache geeinigt. Für die Kommunisten eine Möglichkeit, das gesamte von Putins Regierung geschaffene Hasspotenzial gegenüber der Allianz, für sich zu nutzen.“

Dabei würde bewusst von einer NATO-Basis gesprochen, sagt Golz. Obwohl es sich eigentlich um einen reinen Transport- und Logistikpunkt handele:

O-Ton Golz (overvoice)
„Im internationalen Recht gibt es eine feststehende Definition des Begriffs Militärbasis. Auf dem Territorium, das von einem Staat vermietet wird, gelten die Gesetze des Landes bzw. der Länder, die die Basis mieten. Es gilt also das Prinzip der Exterritorialität.“

Das Territorium in Uljanowsk wird jedoch nicht an die NATO vermietet. Alles bleibe in russischer Hand, betont der ehemalige russische NATO-Botschafter und heutige Vize-Premierminister Dmitrij Rogosin:

O-Ton Rogosin (overvoice)
„In der Luft sind russische Flugzeuge im Einsatz, an Land russische Züge, das war es! Es sind fremde Container, aber unsere Transportmittel. Auch das Personal ist unseres. Keine NATO-Truppen, keine NATO-Basen, kein Stacheldraht, keine Visagen in schönen NATO-Uniformen, das alles ist ausgeschlossen!“

Der Militärexperte Golz glaubt nicht, dass der Kreml allein ein kurzfristiges Geschäft im Auge hat. Es gehe auch um eigene Sicherheitsinteressen. Schon früh habe Russland den Transit so genannter nicht-tödlicher Güter nach Afghanistan möglich gemacht. Dazu gebe es bilaterale Abkommen, die weit über die Rahmenverträge hinausgingen. Auch mit Deutschland. Die Bundeswehr darf Kampftechnik, Waffen und Soldaten via Russland transportieren. Aus gutem Grund, wie Präsident Wladimir Putin im April klar machte:

O-Ton Putin (overvoice)
„Wir alle sind im Bilde, was sich in Afghanistan zuträgt. Nicht wahr? Wir sind interessiert daran, dass die Situation dort unter Kontrolle bleibt. Und wir wollen nicht, dass unsere Soldaten an der tadschikisch-afghanischen Grenze kämpfen.“

Nach dem Abzug der ISAF-Truppen aus Afghanistan stehe Russland wieder selbst vor dem Problem, meint Golz:

O-Ton Golz (overvoice)
„Es ist eine Frage von Monaten, denke ich, bis die Taliban wieder an die Macht kommen. Dann dauert es nicht lange, bis militante Islamisten den Grenzfluss Amudarja überqueren und Bürgerkriege in den schwachen, autoritären Staaten beginnen. Der Transit, die Zusammenarbeit in Sachen Afghanistan gibt Russland die Chance, eine Sicherheits-Partnerschaft mit der internationalen Koalition für die zentralasiatische Region in Gang zu setzen.“

Große Hoffnungen, dass das östliche Sicherheitsbündnis, die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit, die Lücke schließen könnte, hat kaum jemand. Die OVKS, die sich als Gegenstück zur NATO verstanden wissen will, gilt als Papiertiger:

Im Dezember gab es in Moskau einen erneuten Versuch, der Organisation mehr Profil zu verleihen. Ein neues Abkommen wurde unterzeichnet. Kasachstans Präsident Nursultan Nasarbajew lobte:

O-Ton Nasarbajew (overvoice)
„Das wichtigste Ergebnis unseres Treffens ist sicherlich das Abkommen, das die Stationierung militärischer Infrastrukturobjekte von Nichtmitgliedsländern auf dem Territorium der OVKS-Staaten regelt. Um eine Militärbasis eines Drittlandes auf dem Territorium eines OVKS-Staats zu stationieren, braucht man nun die offizielle Zustimmung aller Mitglieder.“

Und dazu gehören neben Kasachstan und Russland, Kirgistan, Armenien, Tadschikistan, Weißrussland und Usbekistan.

Bis heute ist das Abkommen nicht in Kraft. Das russische Parlament hat das Protokoll noch nicht ratifiziert. Usbekistan ging noch einen Schritt weiter – und legte kurze Zeit später seine Mitgliedschaft auf Eis.

Offiziell begründet wurde der Schritt nicht. Experten sehen aber einen klaren Zusammenhang mit dem Abzug der Truppen aus Afghanistan. Es wird spekuliert, dass Usbekistan den Stützpunkt Chanabad wieder an die Amerikaner vermieten will. Für zig Millionen Dollar, um so sicherheitstechnisch vorzubeugen. Auch mit Blick auf regionale Konflikte – vor allem mit dem Nachbarland Tadschikistan.

Die engere Zusammenarbeit mit der NATO und den Amerikanern zahlt sich für die politische Führung in Taschkent bereits jetzt aus. Weil Usbekistan neben dem für Deutschland wichtigen Luftfracht-Logistikpunkt Termez auch über eine Eisenbahnverbindung bis ins afghanische Mazar-i-Sharif verfügt, hofierten westliche Staaten zuletzt eifrig den umstrittenen Präsidenten Islam Karimow. Kritik an Menschenrechtsverletzungen und seiner autoritären Staatsführung verstummten.

Russland sieht das amerikanische Engagement in Zentralasien kritisch. Es geht um Macht und Einfluss, aber auch um die unterschwellige Angst, dass die USA unter dem Deckmäntelchen der Demokratisierung die Ideen des „arabischen Frühlings“ in die autoritär geführten Länder tragen könnten. Andererseits weiß der Kreml, dass die Region von der Präsenz der Amerikaner bzw. der NATO im Kampf gegen militante Islamisten, Terroristen, aber auch gegen Drogenkartelle profitieren würde.

Eine klare Linie in der russischen Politik gegenüber den zentralasiatischen Ländern sei zurzeit nicht auszumachen, meint der Militärexperte Alexander Golz:

O-Ton Golz (overvoice)
„Je intensiver die Amerikaner ihre Politik dort vorantreiben, desto stärker werden die Widersprüche. Denn, sagen wir es ganz offen, außer dem Schutz durch die schnelle Einsatztruppe der OVKS kann Russland nichts bieten. Weder bedeutende wirtschaftliche Projekte noch ernsthafte Finanzhilfen sind drin.“

Nicht zuletzt deshalb versuche es Moskau regelmäßig mit Druck. Möglicherweise aufgeschreckt durch Spekulationen, Tadschikistan könne eine amerikanische Militärbasis zulassen, drängt die russische Regierung zurzeit auf eine Vertragsverlängerung über die Nutzung seiner Militärbasis in Tadschikistan: um 49 Jahre.

Kirgistan, Usbekistan, Tadschikistan und auch Russland haben inzwischen Rahmenverträge mit der NATO abgeschlossen. Das Feilschen ist damit aber noch lange nicht vorbei. Denn jetzt geht es um die bilateralen Abkommen, um konkrete Containerpreise, Überflugrechte und Transportkapazitäten.

* Aus: NDR-Forum "Streitkräfte und Strategien"; 27. Juli 2012; www.ndrinfo.de


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