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Trümmer einer Politik

Debatte um Abzug aus Afghanistan / De Maizière: Noch keine Entscheidung *

Die Forderung des afghanischen Präsidenten Hamid Karsai nach einem früheren Abzug der ausländischen Truppen hat die Debatte um den Einsatz am Hindukusch neu entfacht.

Die LINKE sieht, wie andere Kritiker des Afghanistankrieges, die Hindukusch-Politik der Bundesregierung in Trümmern. Christine Buchholz, Mitglied des Geschäftsführenden Vorstandes der Partei, forderte am Freitag den sofortigen Abzug der Bundeswehr: »Jeder Tag, den die Bundeswehr in Afghanistan bleibt, ist einer zu viel.«

Letzte Meldung

Beim Absturz eines türkischen Militärhubschraubers in ein Wohnhaus in Kabul sind am Freitag, den 16. März, mindestens 14 Menschen getötet worden. Zwölf Soldaten starben, der mit weitem Abstand schwerste Verlust der Türken in dem Einsatz am Hindukusch. In dem Haus wurden zwei Mädchen getötet.



Der frühere UN-Sonderbeauftragte für Afghanistan, Tom Koenigs, befürwortete Karsais Forderung. »Wenn sich die Afghanen das zutrauen, dann sollte man dem folgen«, sagte der Grünen-Abgeordnete am Freitag im ARD-»Morgenmagazin«. Afghanistan sei ein souveräner Staat und die ausländischen Soldaten seien in der Bevölkerung nicht länger populär. Karsai hatte am Donnerstag (15. März) erklärt, dass sein Land bereits 2013 und nicht erst wie bisher geplant 2014 die Sicherheitsverantwortung übernehmen könne. Er reagierte damit auf die Ermordung von 16 afghanischen Zivilisten durch einen US-Soldaten.

Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) hingegen lehnt vorgezogene Abzugsplanungen für die Bundeswehr ab. »Ein Entscheidungsvorschlag kommt eher im September und nicht im April oder Mai«, sagte de Maizière in Berlin. Er begründete seinen Zeitplan mit den vielen Faktoren, die bei der Planung für 2013 zu berücksichtigen seien: »Wir sind nicht allein auf der Welt.« Entscheidend bei der Ausgestaltung des Bundeswehrabzugs aus Afghanistan sind dem Minister zufolge vor allem die Pläne der US-Verbündeten, auf deren Geräte und Fähigkeiten auch die Bundeswehr in Teilen angewiesen ist. Deutschland müsse sich außerdem mit den 17 anderen Nationen absprechen, die unter deutscher Führung im Regionalkommando Nord zusammen mit der Bundeswehr für Sicherheit sorgten. Hinzu kämen weitere Nationen, die ihren Truppenabzug durch dieses Gebiet organisieren wollten.

Doch selbst Experten wie der niederländische NATO-Berater Prof. Rob de Wijk erwarten inzwischen ein Scheitern am Hindukusch. »Der Krieg ist für das westliche Bündnis verloren«, sagte der Leiter des renommierten Zentrums für Strategische Studien in Den Haag den »Stuttgarter Nachrichten«.

Einer Umfrage zufolge wünschen sich inzwischen 57 Prozent der Deutschen einen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan vor dem Jahr 2014.

* Aus: neues deutschland, 17. März 2012


Rückschläge für die NATO

Afghanistans Präsident Karsai fordert beschleunigten Abzug der Besatzungstruppen. Taliban setzen Verhandlungen mit den USA aus

Von Knut Mellenthin **


Die NATO hat im Afghanistan-Krieg ihren größten Verlust seit Sommer vorigen Jahres erlitten. Beim Absturz eines Militärhubschraubers am Rande der Hauptstadt Kabul kamen am Freitag zwölf türkische Soldaten ums Leben. Der Helikop­ter streifte bei einer Notlandung zunächst ein Haus und stürzte dann in ein weiteres. Mindestens zwei Mädchen wurden nach Angaben der Behörden getötet, ein drittes Kind und eine Frau mußten mit Verbrennungen ins Krankenhaus eingeliefert werden. Im August 2011 waren beim Abschuß eines Hubschraubers 30 US-Soldaten gestorben.

Über die Ursachen des Unfalls vom Freitag machte die NATO zunächst keine Angaben. Ein Sprecher teilte lediglich mit, daß es zur Zeit des Absturzes »keine feindlichen Aktivitäten« gegeben habe. Die Türkei stellt mit 1845 Soldaten eines der größeren Kontingente unter den insgesamt rund 130000 Angehörigen der ISAF-Besatzungstruppen. Die Türken nehmen nicht an Kampfeinsätzen teil.

Am Donnerstag (15. März) hatten die Bemühungen der westlichen Allianz, ihren nun schon mehr als zehn Jahre dauernden Krieg in Afghanistan als scheinbare Erfolgsgeschichte zu beenden, zwei Rückschläge erlitten. Präsident Hamid Karsai äußerte bei einem Besuch des US-Verteidigungsministers Leon Panetta in Kabul den Wunsch, die Aktivitäten der Besatzungstruppen stark zu reduzieren und die »Übergabe der Verantwortung« an die einheimischen Sicherheitskräfte schon im nächsten Jahr statt, wie geplant, erst Ende 2014 abzuschließen. Am selben Tag teilten die Taliban auf ihrer Website die Unterbrechung ihrer Verhandlungen mit der US-Regierung mit.

Karsais Rolle geht praktisch nicht über die eines von den USA abhängigen Marionettenpolitikers hinaus. Seine zahlreichen rhetorischen Versuche, trotzdem Autonomie und Kritikfähigkeit zur Schau zu stellen, sind mittlerweile Legende und haben noch nie zu einem ernsthaften Dissens geführt. Der Mitteilung seines Büros zufolge hat Karsai jetzt gegenüber Panetta darauf gedrängt, die Besatzungstruppen aus den Dörfern abzuziehen und in ihren Stützpunkten zu lassen. Unmittelbarer Anlaß dieser Forderung war die Ermordung von 16 Dorfbewohnern durch einen oder mehrere US-Soldaten am Sonntag.

Da Karsai für den Rückzug der NATO-Truppen aus den Dörfern offenbar keinen Zeitrahmen genannt und die Beschleunigung des Abzugsplans nur als Anregung ins Spiel gebracht hat, sind die unmittelbaren Auswirkungen dieser Episode gering. Sie wiegen aber schwer auf dem Gebiet der Propaganda: Die USA und ihre Verbündeten pflegen ihre »militärische Präsenz« in Afghanistan als eine »Verpflichtung« gegenüber dem Land und seinen Bewohnern darzustellen. Wenn nun selbst ihr Marionettenpräsident öffentlich deutlich macht, daß er sie lieber heute als morgen loswerden würde, läßt sich diese Darstellung schlechter aufrechterhalten.

Die Taliban begründen ihren Rückzug von den Gesprächen mit der US-Regierung damit, daß diese einerseits Zusagen nicht eingehalten, andererseits immer neue Vorbedingungen nachgeschoben habe. Die Aufständischen sind offenbar vor allem unzufrieden, weil Washington die in Aussicht gestellte Entlassung von fünf afghanischen Gefangenen aus dem Lager Guantánamo ins arabische Fürstentum Katar, wo sie unter Hausarrest gestellt werden sollen, hinauszögert. Ein wesentlicher Grund dafür scheint zu sein, daß Präsident Barack Obama mit starkem Widerstand aus beiden großen Parteien gegen diesen Schritt konfrontiert ist.

** Aus: junge Welt, 17. März 2012


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