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Kapitulation am Hindukusch?

Weniger Bundeswehr-Soldaten in Afghanistan

Ein Beitrag von Jürgen Webermann aus der Sendereihe "Streitkräfte und Strategien" *

Der Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan dauert nun schon knapp zehn Jahre. Regelmäßig hat der Bundestag das Mandat verlängert und die Truppenstärke erhöht. Jetzt gibt es eine Wende. Im neuen Mandat soll die Obergrenze erstmals reduziert werden. Von derzeit 5.350 auf 4.900 Soldaten. Und bis Anfang 2013 soll diese Zahl voraussichtlich noch einmal um 500 sinken.

Offiziell wird als Grund die verbesserte Sicherheitslage in Nord-Afghanistan angeführt. Doch mit der militärischen Lage hat die Reduzierung wenig zu tun. Dieser Schritt ist in erster Linie ein politisches Signal an die Öffentlichkeit im eigenen Land. Denn die große Mehrheit der Bevölkerung lehnt den Einsatz am Hindukusch ab, hält die Mission für einen Fehlschlag. Eine Position, die auch der Afghanistan-Experte Ahmed Rashid vertritt. Auf einer Veranstaltung der Körber-Stiftung in Hamburg machte der pakistanische Autor kürzlich deutlich, dass die Aufständischen keineswegs in der Defensive sind, obwohl das immer wieder behauptet wird. Das Gegenteil sei der Fall:

O-Ton Rashid (overvoice)
„Die Taliban sind nicht besiegt worden. Sie sind auf dem Vormarsch, haben sich immer mehr ausgedehnt. Auch die Aufstockung der internationalen Truppen konnte die Taliban nicht unter Kontrolle bringen. Wir erleben eine neue Art von städtischer Kriegführung, die es vorher nicht gegeben hat. Wir haben die Angriffe auf die US-Botschaft in Kabul gesehen, die fürchterlichen Anschlagsserien. Mehr als 140 wichtige afghanische Vertreter und Offizielle sind allein im letzten Jahr getötet worden.“

Trotzdem hält Verteidigungsminister de Maizière eine Truppenreduzierung für vertretbar. Von Militärs waren in dieser Frage allerdings auch andere Meinungen zu hören. Nicht zuletzt, weil die USA im Norden Afghanistans bis Ende des Jahres knapp 1.000 Soldaten abziehen werden. Soldaten, die vor allem bei der Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte eingesetzt sind. Wie diese Lücken geschlossen werden, ist offen. Im kommenden Jahr werden die Amerikaner dann weitere 23.000 Soldaten aus Afghanistan abziehen, möglicherweise auch im Norden. Genaue Planungen gibt es derzeit noch nicht, wenngleich es heißt, dass die für die Bundeswehr so wichtigen US-Hubschrauber vorerst bleiben werden. Verteidigungsminister de Maizière im vergangenen Monat auf dem Treffen der NATO-Verteidigungsminister in Brüssel:

O-Ton de Maizière
„Daraus folgt, dass wir für unsere Planung des Jahres 2012 und erst recht für zu diskutierende Schritte in 2013 besonders flexibel sein müssen, um gegebenenfalls ab dem zweiten Quartal 2012 darauf reagieren zu können.“

Bis Ende 2014 soll der Abzug der internationalen Truppen abgeschlossen sein. Deutschland und die anderen NATO-Staaten bekräftigen immer wieder, dass man danach Afghanistan nicht allein lassen werde. Doch viele Afghanen sind skeptisch. Ihnen ist der Rückzug der Sowjetunion 1989 noch gut in Erinnerung. Verteidigungsminister de Maizière:

O-Ton de Maizière
„So haben sie gesagt, das Problem aus heutiger Sicht war damals gar nicht so sehr der Abzug an und für sich, sondern dass die Sowjetunion anschließend dort nichts mehr gemacht hat. Zum Beispiel hat man die Bezahlung und Hilfe der afghanischen Truppen von heute auf morgen eingestellt. Das war natürlich ein Boden, ein Grund für eine Entwicklung, die später in die Richtung ging, die wir erlebt haben.“

Doch allein der Unterhalt der afghanischen Sicherheitskräfte kostet Geld, viel Geld. Der Afghanistan-Experte Ahmed Rashid:

O-Ton Rashid (overvoice)
„Um die afghanische Armee zu unterhalten, werden jedes Jahr sechs Milliarden Dollar benötigt - um die Soldaten zu bezahlen, den Betriebsstoff und die anderen laufenden Kosten. Das Geld wird von der internationalen Gemeinschaft kommen müssen. Aber wird die Staatenwelt auch bereit sein, diese Kosten zu übernehmen – über einen so langen Zeitraum? Es wird Jahre dauern, bis es eine Art Lösung mit den Taliban gibt, und man den Umfang der Streitkräfte reduzieren könnte.“

Angesichts der Sparzwänge und der internationalen Finanzkrise sind Zweifel angebracht. Denn es geht nicht nur um die Finanzierung der Sicherheitskräfte, sondern auch um umfassende Investitionen in andere gesellschaftliche Bereiche.

Der Journalist Marco Seliger reist seit Jahren regelmäßig nach Afghanistan, berichtet über die Soldaten der Bundeswehr – die ganz vorne am Ort des Geschehens sind, dort wo es gefährlich ist. Seine Eindrücke hat er in dem jetzt erschienen Buch „Sterben für Kabul – Aufzeichnungen über einen verdrängten Krieg“ zusammengefasst. Seliger kommt zu dem Schluss, dass es noch zwei Generationen dauern wird, bis sich die Verhältnisse in Afghanistan vielleicht ändern werden – bei Fortdauer des internationalen Engagements. Doch er ist skeptisch, dass es dazu kommen wird. Denn kein Staat der Welt habe den dafür notwendigen langen Atem. Deshalb ist der Truppenabzug für Marco Seliger eine Kapitulation vor den afghanischen Verhältnissen. Das Fazit des Journalisten: Der Tod der mehr als 50 Bundeswehr-Soldaten war daher sinnlos.

*Aus: NDR-Sendung "Streitkräfte und Strategien", 19. November 2011


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