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Als "unsere Freiheitskämpfer" Kabul zerstörten

Ein Rückblick auf Afghanistan im Jahr 1992

Von Matin Baraki *

Nachdem sich die Sowjetunion Anfang 1989 faktisch und die USA scheinbar aus dem Afghanistan-Konflikt zurückgezogen hatten, wurde das Land zum politisch-ideologischen Schlachtfeld der Regionalmächte Iran, Pakistan und Saudi-Arabien. Im FAZ-Kommentar hieß es euphorisch, daß die Regierung Nadjibullah sich jetzt nicht einmal vier Wochen halten werde, sie würde von den Modjahedin hinweggefegt werden. Die afghanische Regierung hielt sich bis 1992 und schlug sogar mehrere gutorganisierte Offensiven der Modjahedin in Ost- und Südafghanistan vernichtend nieder. Präsident Nadjibullah leitete eine Politik der nationalen Versöhnung ein und bot der Opposition eine Regierungsbeteiligung an. Der UN-Vermittler Benon Sevan hatte in Islamabad den Rücktritt Nadschibullahs und die Bildung eines Übergangsorgans für den 28.4.1992 angekündigt. Sowohl der Super Modjahed der USA Hekmatyar, Führer der Islamischen Partei, als auch der ebenfalls von der CIA finanzierte Masud, Kommandant der Djamiat-Partei, lehnten den UN-Plan ab. Nadschibullah hingegen hatte sein Amt zur Disposition gestellt. Am Verlassen des Landes wurde er gehindert und hielt sich in der UN-Vertretung in Kabul auf, bis er dann im September 1996 von den Taleban ermordet wurde.

Die neue afghanische Führung um Außenminister Wakil, Kawiani, Masdak und Nadjibullahs Nachfolger Hatef hatte beschlossen, die Macht an die Modjahedin zu übertragen. So geschah es auch am 27.4.1992, nachdem ihnen die Stadt Kabul kampflos und unzerstört überlassen worden war. Bei diesem Komplott ging es um die Rettung ihrer eigenen Person und ihrer Besitztümer. Daraufhin wurde Modjadedi, der Exil-Präsident der Modjahedin, Präsident des Islamischen Staates Afghanistan. Die bisherige afghanische Führung, insgesamt 95 Personen, verließ das Land.

Das afghanische Volk glaubte anfangs, mit dem Abzug der sowjetischen Armee bzw. dem Sturz der Regierung in Kabul wären die Probleme in Afghanistan gelöst. „Als Folge der Ignoranz und Gleichgültigkeit jener Staaten, die jahrzehntelang an Afghanistan nur interessiert waren, so lange es galt, ein kommunistisches Regime zu stürzen, entwickelt sich das Land zu einem Kriegsschauplatz, auf dem vor allem die Nachbarländer um Einfluß kämpfen“ (SZ). Politische Beobachter mußten schon bald konstatieren, daß mit der allgemein so bezeichneten „Machtübernahme“ der Modjahedin der Kampf an Brutalität eher noch zunahm. Kabul sei vom Frieden weiter entfernt denn je, ja sogar auf dem Weg zu einem „Beirut“. Als der Übergangspräsident Modjadedi den Eid sprach, schlugen unweit des Palastes Raketen ein. Hekmatyars Krieger hatten sie abgefeuert. 800 Zivilisten wurden getötet und Tausende verletzt.

Dies war der Beginn einer Verschärfung des Krieges. Nach ihrem Einmarsch waren Horden plündernder Modjahedin wie Heuschreckenschwärme über Kabul hergefallen. Die Beutezüge machten vor nichts halt: Ministerien, der Präsidentenpalast und Banken wurden vom Keller bis zum Dach leer geräumt und verwüstet. Statt den Bürgern der 1,5 Millionen-Stadt die versprochene Sicherheit zu bringen, überzogen die Milizionäre Kabul mit Terror; statt Ruhe und Ordnung schufen sie Chaos und Anarchie. Viel schlimmer war es auch in Beirut nicht, empörte sich ein UNO-Offizier mit Libanon-Erfahrung. Zeitweilig glich Kabul einer Geisterstadt. Strom und Wasser waren ausgefallen, Geschäfte und Marktstände blieben geschlossen. Männer, die sich auf die Straße wagten, liefen Gefahr, von den Modjahedin verhaftet zu werden.

Noch im Mai 1992 schrieb der FAZ-Korrespondent, daß in Kabul „Heerscharen bewaffneter ‚Glaubenskrieger’ durch die Straßen ziehen, willkürlich Häuser und Hotels besetzen, selbst vor ausländischem Eigentum nicht haltmachen“. Wegen einer Kurzvisite des pakistanischen Ministerpräsidenten Sharif bei Modjadedi schien sich die Lage in Kabul zunächst zu entspannen. Die Bewohner begruben viele Hunderte Tote, doch das Morden ging weiter. Hekmatyar hatte seit langem eine schwarze Liste mit 30 000 Namen vorbereitet, darunter auch Frauen, die er ermorden lassen wollte. Gestützt auf seine Aussage titelte die Westdeutsche Zeitung: „Leichen säumen seinen Weg“. Die iranische Zeitung Kihan (London) meldete im Juni 1992, daß „während der ganzen vergangenen Woche die Schießerei mit Artillerie und Raketen nicht aufgehört hatte“. Im August 1992 nahm die Partei „von Hekmatyar Kabul zwanzig Tage lang unter Raketenbeschuß, 2 500 Menschen sind dabei ums Leben gekommen“, berichtete ein Augenzeuge. „Westliche Militärfachleute zählten innerhalb einer Stunde mindestens 600 Einschläge.“ Die SZ berichtete, daß „Hekmatyars Verbände am 7. August mit der Bombardierung Kabuls begonnen und große Teile der Hauptstadt in Schutt und Asche gelegt“ hätten. „Kabul erstickt in Feuer und Blut“, „Die Stadt gleicht einem Trümmerfeld.“

Solche Meldungen, manch einer sprach gar von der „Einäscherung“ Kabuls, wurden durch die Agenturen verbreitet. Vor dem Hintergrund dieses Szenarios ist das Glückwunschtelegramm von Bundespräsident v. Weizsäcker [ siehe Kasten] anläßlich des afghanischen Nationalfeiertages am 19.8.1992 an den damals amtierenden Präsidenten Rabani, seines Zeichens Warlord und Kriegsverbrecher, bemerkenswert.

Angesichts der unvorstellbaren Brutalitäten war erstmals Erstaunliches eingeräumt worden: Die afghanische „Hauptstadt Kabul ist in den vier Monaten seit ihrer Befreiung stärker zerstört worden als in den vierzehn Jahren der sowjetisch unterstützen Diktaturen.“ Durch die bewaffnete Auseinandersetzung rivalisierender Modjahedin in Kabul waren seit dem 27.4.1992 mindestens 5 000 Menschen ums Leben gekommen und ca. 750 000 Bewohner vertrieben worden. Nach Angaben des von der CIA finanzierten „Radio Asadi“ vom l.3.1993 sind seitdem in Kabul Zehntausende Menschen getötet worden. Die Weltöffentlichkeit hatte es kaum wahrgenommen, aber „die letzten Nachrichten lassen selbst den Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina beinahe als harmlosen Konflikt erscheinen“ (SZ). Was von Kabul noch übrig geblieben war, hatten die Islamisten in sechs Einflußbereiche zerlegt, die Grenzen vermint und die Stadt bombardiert, bis nur noch Ruinen übrig waren. „Die Toten werden nicht mehr gezählt“ (WZ), denn niemand führte eine Statistik über die Opfer dieses mörderischen Regimes. Hekmatyar, der als amtierender Ministerpräsident seine eigene Hauptstadt zerstörte, rief nach der zweiten Schlacht im August 1992 den aus Kabul geflüchteten Menschen zu: „Kommt nicht zurück, das nächste Mal wird es noch schlimmer.“ Es ist unvorstellbar, wie die „Freiheitskämpfer“ in Afghanistan gehaust haben.

In der afghanischen Geschichte ist dieser Vorgang einmalig: „Eine Handvoll krimineller Elemente setzt das Schicksal Afghanistan aufs Spiel“(Der Spiegel). Eine verzweifelte Frau in Kabul rief einem Reporter zu: „Sagt der Welt, was hier angerichtet wird, mein Haus ist zerstört; alles was wir hatten, wurde uns genommen“.

Als zum vierten Jahrestag des Abzuges der sowjetischen Armee im Februar 1993 ein Waffenstillstand zwischen den Modjahedin verkündet worden war, wurde die Waffenruhe zu Plünderungen in der Hauptstadt genutzt. Bewaffnete Regierungs-Milizen durchstöberten im Kabuler Stadtteil Afshar verlassene Wohnungen und Läden, schleppten alles weg und ermordeten, wer sich ihnen in den Weg stellte. Die Bevölkerung stand diesen Geschehnissen macht- und fassungslos gegenüber und konnte nicht verstehen, warum ausgerechnet die glühenden Verteidiger des Islam nun gegen einander Krieg führten.

Aus Angst, ihren Einfluß und ihre Autorität bei der Bevölkerung ganz zu verlieren, ersetzten die Modjahedin die „Islamische“ durch die „ethnische Karte“. Aber das mündete ebenfalls in die Sackgasse, denn der Krieg ging unvermindert weiter, nun unter der Flagge des Stammes bzw. der Volksgruppe, jedoch ohne Perspektive und ohne der Erfüllung des Auftrages näher zu kommen, der den Modjahedin seitens ihrer internationalen Mentoren übertragen worden war: Die völlige Kontrolle über das Land zu erreichen, die eine Öffnung der Handelswege von Pakistan nach Mittelasien ermöglicht hätte.

Dieses Versagen der Islamisten stand im Widerspruch zu den politisch-ökonomisch und strategischen Interessen ihrer ausländischen Auftraggeber. Ein mit den USA, Saudi-Arabien und Pakistan eng kooperierendes Regime in Kabul sollte Stabilität garantieren, um die ökonomischen Interessen dieser Länder in Mittelasien zu realisieren. Damit war die Geburtsstunde der Taleban gekommen, deren Geburtshelfer die USA waren, und die seit Oktober 2001 von der NATO unter US-Führung mit allen Mittel bekämpft werden.


TELEGRAMM

Seiner Exzellenz
dem Interimspräsidenten
des islamischen Staates Afghanistan
Herrn Burhanuddin Rabbani
Kabul

Aus Anlaß Ihres Nationalfeiertages am 19. August, des ersten, den Sie nach Überwindung eines totalitären Regimes begehen, spreche ich Ihnen, auch im Namen des deutschen Volkes, meine besten Wünsche aus.
Ich verbinde damit die Hoffnung, daß in Ihrem Land die Waffen bald schweigen und die durch den Krieg aufgerissenen Gräben zwischen den Bevölkerungsgruppen wieder eingeebnet werden, damit der Aufbau Afghanistans beginnen kann.
Deutschland ist bereit, mit einem friedlichen und geeinten Afghanistan zusammenzuarbeiten, das die Menschenrechte achtet und die Parteien und Gruppierungen der Bevölkerung miteinander versöhnt. Richard von Weizsäcker
Präsident der Bundesrepublik Deutschland

Quelle: Archiv des Verfassers.



* Dr. Matin Baraki, Marburg/L., Lehrbeauftragter u.a. in Gießen, Kassel.
Von Matin Baraki, häufiger Referent bei den "Friedenspolitischen Ratschlägen" in Kassel, haben wir zuletzt veröffentlicht:
Die Zerstörung Afghanistans, ein Werk der Imperialmächte .



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