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Es geht ums nackte Überleben: Zehn Jahre Afghanistan-Krieg - Friedensaktionen im Herbst 2011

Gespräch mit Lühr Henken, Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag


UZ: Zehn Jahre ist es her, dass die USA und ihre Verbündeten in Afghanistan einfielen. Man versprach, den Afghanen Freiheit und Demokratie zu bringen. Welche Bilanz zieht die Friedensbewegung?

Lühr Henken: Freiheit ist den meist bitterarmen Afghaninnen und Afghanen nicht gebracht worden. Für die allermeisten geht es tagaus, tagein bloß um das nackte Überleben. Über mehr Freiheit verfügen allenfalls diejenigen in Politik, Staat und Polizei, die am illegalen Drogenanbau verdienen. Und was die Demokratie anbetrifft, gibt es keine zwei Meinungen darüber, dass der vom Westen eingesetzte Präsident Karsai dreist seine Wiederwahl gefälscht und seine Legitimität verloren hat. Aber ich kann das Ergebnis einer Bilanz "der" Friedensbewegung nicht vorweg nehmen. Wir vom Bundesausschuss Friedensratschlag (BAF) laden für den 7. Oktober nach Berlin ein, wo Expertinnen und Experten die Ergebnisse des NATO-Krieges aus unterschiedlichen Perspektiven kritisch beleuchten werden.

UZ: Auf der Petersberger Konferenz bei Bonn wurde vor 10 Jahren die afghanische Regierung unter Präsident Karsai eingesetzt. Nun lädt die Bundesregierung zu "Petersberg II" ein. Wie glaubwürdig sind die Erklärungen der kriegführenden Parteien, dass man dem Land nun endlich "Friedensperspektiven" eröffnen möchte.

Lühr Henken: Wenig glaubwürdig, weil das Haupthindernis für Frieden der NATO-Einsatz ist. 70 Prozent der Anschläge sind auf die ISAF gerichtet. Die NATO will bis Ende 2014 bleiben und währenddessen sicher nicht die Hände in den Schoß legen, sondern den Krieg fortsetzen. Danach streben die USA eine weitere, wenn auch verkleinerte Truppenpräsenz bis zunächst 2024 an. Verhandlungen darüber mit der Karsai-Regierung sind im Gange. Auch die Bundeswehr soll nach Regierungswillen nach 2014 mit kleineren Kontingenten bleiben. Auch wenn die staatlichen Sicherheitskräfte mehr und mehr befähigt werden, selbst Krieg führen zu können, Stichwort: "Vietnamisierung" des Krieges, werden sie doch immer als Marionetten der NATO identifizierbar bleiben. Denn der afghanische Staat wird diese große Truppe nicht finanzieren können. Das Geld dafür käme vom Westen. Somit wäre der Krieg auch dann nicht beendet. Mit anderen Worten, die am 7. Oktober 2001 von den USA und Großbritannien begonnene Militärintervention war von Beginn an falsch und ist ein Fass ohne Boden. Was hilft: Abbruch des Krieges und bedingungsloser Abzug. Je früher, desto besser.

UZ: Aus Anlass des Jahrestages veranstaltet die Friedensbewegung verschiedene Aktionen. Welche sind dies im Einzelnen?

Lühr Henken: Für den 7. Oktober, den zehnten Jahrestag des Kriegsbeginns gegen Afghanistan, lädt der Bundesausschuss Friedensratschlag - wie erwähnt - zu einer zentralen Veranstaltung nach Berlin ein. Unter dem Titel "10 Jahre Afghanistankrieg: Bilanz und Anklage" werden dort ExpertInnen zu unterschiedlichen Entwicklungsfeldern Analysen vorlegen und Anklagen gegen die Verantwortlichen erheben. Für den Tag darauf, Samstag, den 8. Oktober, rufen zahlreiche Gruppierungen in Berlin zu einem Protestmarsch zum Kanzleramt auf. Das Motto: "Truppen abziehen - sofort und bedingungslos!" Beide Veranstaltungen werden gemeinsam beworben.

UZ: Kannst du uns etwas Genaueres zum Ablauf der beiden Veranstaltungen sagen?

Lühr Henken: Gehen wir chronologisch vor: Die Veranstaltung am 7. Oktober ist im IG-Metall-Haus in Berlin-Kreuzberg, Alte Jakobstraße 149. In der Zeit von 17 bis ca. 20.30 Uhr wird es eine Reihe komprimierter Vorträge geben. Anschließend besteht die Möglichkeit der Aussprache. Ihre aktive Teilnahme haben zugesagt: Matin Baraki (Universitätsdozent), Daniela Dahn (Schriftstellerin), Sevim Dagdelen (MdB DIE LINKE), René Heilig (Journalist, ND), Lühr Henken (BAF), Otto Jäckel (IALANA), Karim Popal (Opferanwalt), Sabine Schiffer (Medienwissenschaftlerin), Peter Strutynski (BAF), Frieder Wagner (Filmemacher) und Sabour Zamani (Afghanisches Kulturzentrum Berlin). Im Mittelpunkt der Aktion am 8. 10. steht die Umzingelung des Kanzleramts. Um 13 Uhr sammeln sich die ProtestteilnehmerInnen zum Auftakt am Potsdamer Platz und marschieren anschließend zum Kanzleramt, wo um 15.30 Uhr die Abschlusskundgebung beginnt.

UZ: Seit 10 Jahren dauern die Proteste an. Die Mehrheitsmeinung in der deutschen Bevölkerung ist eindeutig gegen den Afghanistan-Krieg. Die verschiedenen Bundesregierungen haben ungerührt daran festgehalten. Wie sinnvoll sind angesichts einer solchen Haltung überhaupt Proteste?

Lühr Henken: In der Tat haben wir ein Demokratieproblem. Die Bundesregierungen regieren seit Jahren in der Frage Afghanistankrieg gegen das Volk. Diese jahrelange Sturheit bestätigt diejenigen, die die Haltung haben, sich zu engagieren, bringe eh nichts, denn die da oben machten ohnehin das, was sie wollen. Nur hat das mit lebendiger Demokratie nichts zu tun. Denn die lebt von der Partizipation möglichst vieler jenseits der Kreuze auf dem Wahlzettel. Andererseits machen wir sehr gute Erfahrungen mit der Sammlung von Unterschriften unter den von der Friedensbewegung breit getragenen Appell an die Bundesregierung "Den Krieg in Afghanistan beenden - zivil helfen". Er wird sehr bereitwillig von den angesprochenen Menschen unterzeichnet.

Ich sehe unsere Rolle als Friedensbewegung darin, die Regierung in der Afghanistanfrage beständig unter Druck zu setzen, um den Abzug der Bundeswehr so schnell wie möglich durchzusetzen.

UZ: Diese Ablehnung des Afghanistan-Krieges bildet nach wie vor den übergreifenden Schwerpunkt der Friedensbewegung. Hat sich das - vor dem Hintergrund so vieler anderer Kriege, zuletzt dem Überfall auf Libyen - bewährt?

Lühr Henken: Ich glaube nicht, dass wir einen wesentlich sichtbareren Protest gegen den Libyen-Krieg der NATO auf die Straße gebracht hätten, wenn wir die Schwerpunktsetzung Afghanistan aufgegeben hätten. Zumal mir aus der Bewegung niemand bekannt ist, der das gewollt hätte. Dass sich bezüglich Libyen vergleichsweise wenig gerührt hat, liegt meines Erachtens daran, dass die von den Medien Mitte Februar erzeugte völlig übertriebene Stimmung, man verhindere mit einer Militärintervention einen Völkermord, eine Protestentfaltung von Anfang an erstickte.

Hinzu kam, dass sich die Bundesregierung früh klar gegen eine deutsche aktive Kriegsteilnahme positioniert hatte. Es waren einfach kaum Impulse aus der Friedensbewegung vernehmbar, die zu aktivem Protest aufforderten. Das war im vergleichbaren Fall Jugoslawienkrieg 1999 noch ganz anders gewesen.

UZ: Wie lange werden noch ausländische Truppen in Afghanistan sein und wie sollte eine wirkliche Friedenslösung aussehen?

Lühr Henken: Hellsehen kann ich nicht. Ich denke aber, folgende Formel hat etwas für sich: Je stärker der Druck der Friedensbewegung für einen sofortigen bzug ist, desto eher wird er eintreten. Eine Friedenslösung für Afghanistan ist einzig und allein eine Sache der Afghanen selbst. Solange ausländische Mächte ihre von Natur aus divergierenden Interessen auf afghanischem Boden austragen, kann es keinen Frieden geben. Die Afghanen müssen sich zunächst ihre Souveränität erobern.

Dazu können wir beitragen, indem wir den Abzug der ausländischen Truppen fordern. Diese sind kein Teil der Lösung, sondern Teil des Problems.

Die Fragen stellte Adi Reiher

* Aus: uz-unsere zeit, 30. September 2011

10 Jahre Krieg in Afghanistan:

Bilanz und Anklage

Freitag, 7. Oktober, 17.00 - 20.30 Uhr

Berlin, IG Metall-Haus, Alte Jakobstr. 149
(U-Bhf Hallesches Tor)

Es wirken mit:
Matin Baraki * Daniela Dahn * Sevim Dagdelen * René Heilig * Lühr Henken * Otto Jäckel * Karim Popal * Mariam Rawi * Sabine Schiffer * Peter Strutynski * Frieder Wagner * Sabour Zamani

Lesen Sie mehr zu der zentralen Veranstaltung in der Pressemitteilung


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Zehn Jahre Krieg in Afghanistan

Truppen abziehen - sofort und bedingungslos!

Protestmarsch zum Kanzleramt am 8. Oktober 2011
Kundgebung Potsdamer Platz 13 Uhr
Umzingelung des Kanzleramtes 14 Uhr
Abschlusskundgebung 15.30 Uhr vor dem Kanzleramt
Friedenskoordination Berlin: www.friko-berlin.de


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Widerstand und Protest gegen Petersberg II

Bonn, 3. bis 5. Dezember 2011
Dem Frieden eine Chance - Truppen raus aus Afghanistan!
Die Antikriegs- und Friedensbewegung ruft zu gemeinsamen und vielfältigen Aktivitäten in Bonn auf. Vom 3. bis zum 5. Dezember 2011 wollen wir mit einer bundesweiten Demonstration und auf einer internationalen Konferenz Zeichen gegen die menschenfeindliche Politik des Krieges setzen. Stellt Euch quer und beteiligt Euch an Aktionen Zivilen Ungehorsams!
Weitere Informationen: www.afghanistanprotest.de




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