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Weichen für Wahlen in Ägypten gestellt

Dritter Jahrestag des Beginns der Anti-Mubarak-Proteste von Gewalt und mindestens 49 Todesopfern überschattet

Von Oliver Eberhardt *

Bei Protesten zum dritten Jahrestag der ägyptischen Revolution wurden am Wochenende mindestens 49 Menschen getötet. Im April soll ein neuer Präsident gewählt werden.

Das Polizeiaufgebot ist massiv, doch anders als vor drei Jahren überhäufen sich Menschen und Sicherheitskräfte mit gegenseitigen Liebesbekundungen: Männer küssten Polizisten und Soldaten, auf dem Weg zum Tahrir-Platz in Kairo, dem Hauptschauplatz der Demonstrationen vor drei Jahren, die wenige Wochen später zum Rücktritt von Präsident Hosni Mubarak führten. Bilder des aktuellen starken Mannes, Verteidigungsminister und Generalstabschef Abdelfattah al-Sisi, waren zuhauf zu sehen; manche trugen Plastikmasken mit dem Konterfei des Mannes, der der wahrscheinlichste Anwärter auf das Amt des neuen Präsidenten ist.

Der Urnengang soll, das gab Übergangspräsident Adly Mansur am Sonntag bekannt, noch vor der Parlamentswahl stattfinden. Ursprünglich war geplant, zuerst das Parlament und dann den Staatschef zu wählen, wobei der Präsident spätestens 90 Tage nach einem positiven Referendum über den Verfassungsentwurf bestimmt werden muss. Nun soll also innerhalb dieser 90 Tage nur der Präsident gewählt werden. Das Datum dafür setzt die Wahlkommission fest. »Viele Parteien haben uns signalisiert, dass sie noch nicht bereit für eine Parlamentswahl sind«, sagte ein Sprecher Mansurs.

Kritiker vermuten einen ganz anderen Grund hinter dem Schritt: Vor allem die Bewegung »6. April«, die vor drei Jahren hinter den Protesten gegen Mubarak stand, wirft der Übergangsregierung vor, sie wolle die Zusammensetzung des Parlaments beeinflussen. Denn die Verfassung ermöglicht es, darin vorgesehene Rechte per Gesetz einzuschränken. Und ein Staatschef darf, wenn es kein funktionsfähiges Parlament gibt, solche Gesetze per Dekret erlassen.

Die Bewegung »6. April« sieht daher keinen Anlass zum Feiern. »Das ist nicht das Ägypten, dass wir anstreben«, so ein Sprecher. Die Kundgebung auf dem Tahrir-Platz hat »nichts mit der Revolution, und alles mit der Militärdiktatur« zu tun gehabt.

Die Kundgebung der einstigen Revolutionäre hatte einige Kilometer vom Tahrir-Platz entfernt stattfinden sollen. Doch bereits kurz nachdem sich die ersten paar hundert Demonstranten versammelt hatten, trieben die Sicherheitskräfte die Menschenmenge mit Wasserwerfern und Tränengas auseinander. Es habe sich dabei um eine nicht genehmigte Demonstration gehandelt, erklärte ein Sprecher der Regierung.

Auch die Anhänger der Muslimbruderschaft demonstrierten am Wochenende wieder. Und trafen dabei auf ein noch härteres Vorgehen von Polizei und Militär, auf das einige Demonstranten ebenfalls mit Gewalt reagierten. Mindestens 60 Menschen starben. Laut Innenministerium seien 1079 »Unruhestifter« festgenommen worden, von denen – so die Bewegung 6. April – viele aus ihrem Umfeld stammen sollen. Das staatliche Fernsehen zeigte Bilder von Schusswaffen, Benzinbomben und Feuerwerkskörpern, die den Festgenommenen angeblich abgenommen worden sind. Beobachter der pro-Demokratie-Kundgebung hatten dagegen ausgesagt, keine Waffen gesehen zu haben. Die Polizei habe wahllos Menschen festgenommen.

Bei den Unterstützern von Regierung und Militär haben auch diese Bilder ihre Wirkung nicht verfehlt: »Ich bete für Stabilität«, sagte ein Teilnehmer auf dem Tahrir-Platz der BBC: »Seit dem Krieg 1973 war die Situation nicht mehr so schlecht. Al-Sisi ist der einzige, der uns schützen kann.«

* Aus: neues deutschland, Montag, 27. Januar 2014


Gegen Bruderschaft und Linke

Ägypten: Jahrestag des Sturzes von Mubarak von Gewalt überschattet

Von Sofian Philip Naceur, Kairo **


Ägypten kommt nicht zur Ruhe. Am Wochenende wurde der dritte Jahrestag des Sturzes des damaligen Staatschefs Hosni Mubarak von einer Welle der Gewalt überschattet. Während Interimsregierung und Armeeführung unter Verteidigungsminister Abdel Fattah Al-Sisi die Menschen seit Tagen dazu aufgerufen hatten, auf den symbolträchtigen Tahrir-Platz in Kairo zu ziehen und den Beginn des Volksaufstandes am 25. Januar 2011 zu feiern, kam es im ganzen Land zu teils heftigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. Nach amtlichen Angaben wurden dabei 49 Menschen getötet und mehr als 1000 verhaftet. Bereits am Freitag starben bei Zusammenstößen zwischen Anhängern der Muslimbruderschaft und Sicherheitskräften mindestens 15 Menschen, nachdem am Vormittag im Großraum Kairo vier Bomben explodiert waren. Ziel der Anschläge, zu denen sich die im Nordsinai operierende Islamistengruppe Ansar Beit Al-Makdis bekannte, war unter anderem ein Polizeihauptquartier im Stadtzentrum der Hauptstadt Kairo.

Am Samstag versammelten sich Zehntausende Anhänger Al-Sisis auf dem Tahrir, während Sicherheitskräfte in umliegenden Stadtvierteln hart gegen zahlreiche Gegendemonstrationen vorgingen. Armee, Geheimdienst und Polizei hatten vor staatlichen Einrichtungen und traditionellen Protestorten der Bruderschaft Stellung bezogen. Innenminister Mohammed Ibrahim hatte bereits vergangene Woche verkündet, hart gegen jede Demonstration von Muslimbrüdern und linksliberaler Opposition vorgehen zu wollen. Neben den Islamisten hatten auch Gruppen aus dem laizistischen und antimilitaristischen Lager zu Protesten gegen Regierung und Armeeführung aufgerufen. Am Samstag vormittag wurde ein von den Revolutionären Sozialisten (RS) angeführter Protestzug in Mohandeseen in Giza mit Tränengas auseinander getrieben. Die säkularen Gegner von Bruderschaft und Militär versammelten sich kurz darauf erneut vor dem Sitz der Journalistengewerkschaft im Stadtzentrum Kairos und zogen in Richtung Tahrir. Die Polizei ging mit Tränengas und gepanzerten Fahrzeugen gegen die rund 1500 Demonstranten vor. Dutzende Mitglieder der RS und der Bewegung des 6. April wurden verhaftet, ebenso wie zahlreiche Aktivisten aus dem militärkritischen und antiislamistischen Lager, die in ihren Wohnungen festgenommen wurden. Erst am 22. Januar hatte der im Spätsommer restaurierte Inlandsgeheimdienst Mabahith Amn Ad-Daula den ehemaligen Journalisten und Übersetzer und heutigen Englischlehrer Jeremy Hodge sowie den aus dem Sinai stammenden Dokumentarfilmer Hossam Al-Din Salman Al-Meneai vor ihrer gemeinsamen Wohnung in Dokki verhaftet. Beide werden an unbekanntem Ort ohne Anklage und Kontakt zu Anwälten festgehalten.

Bei den Protestmärschen der Bruderschaft, die erst im Dezember von der Interimsregierung zur »terroristischen Vereinigung« erklärt worden war, setzten Sicherheitskräfte scharfe Munition ein. Proteste der Muslimbrüder in Nasr City und Ain Shams in Kairo sowie in Mohandeseen und Dokki in Giza wurden von der Polizei nach stundenlangen Straßenschlachten mit Gewalt aufgelöst.

Geschickt nutzen die Übergangsregierung und der Sicherheitsapparat die aufgeheizte Stimmung gegen die Muslimbruderschaft und forcieren eine nationalistische Kampagne gegen all jene, die sich der Deutungshoheit neoliberaler und armeenaher politischer Kräfte am Nil widersetzen. Während die säkulare Opposition mit Gewalt mundtot gemacht wird und Journalisten und Ausländer vermehrt von Passanten mit dem Vorwurf attackiert werden, die Muslimbrüder zu unterstützen, werden die Rufe nach einer Kandidatur Al-Sisis bei der anstehenden Präsidentschaftswahl lauter. Ägyptische Medien gehen davon aus, daß dieser seine Kandidatur in den kommenden Tagen bekanntgeben wird.

** Aus: junge welt, Montag, 27. Januar 2014


Auf leisen Sohlen auf den Thron

Roland Etzel über die schleichende Rückkehr Ägyptens zur Mubarak-Zeit

Wieder ist Abdel Fattah al-Sisi der Macht ein Stück näher gerückt; besser: dem Amt, das sie legitimiert. Wenngleich Ägyptens starker Mann sich noch ziert, lässt er doch gleichzeitig keinen Zweifel daran, wie die Sache ausgehen soll: der Chef des Militärrates als Erretter der ägyptischen Nation vor dem Chaos einer Muslimbrüderherrschaft und deren täglichem Terror.

Seit Wochen gibt es tödliche Anschläge in Ägypten. Ohne dass entsprechende Beweise vorgelegt worden wären, werden sie den Siegern der Wahlen 2011/12 angehängt, vor allem dem gewählten Präsidenten Mursi. Nicht nur die ägyptischen Medien machen dabei mit, was keine sonderliche Überraschung darstellt. Eher schon, dass auch die zahlreichen arabischen Intellektuellen inner- und außerhalb des Nillandes, die die Helden der Demokratieeroberung vom Kairoer Tahrirplatz nicht genug loben konnten, sich bis heute beharrlich weigern, die stillschweigende Rücknahme der von den Ägyptern erkämpften Freiheiten zur Kenntnis zu nehmen.

Gut möglich, dass schon zum Ende dieses Jahres alles wieder so ist wie Ende 2010: Oppositionelle sitzen im Gefängnis, ihre Parteien sind verboten, der Präsident ist ein – dann ehemaliger – General und die Armee ist per Gesetz die höchste Instanz im Staate und nicht nur nebenbei das mächtigste Wirtschaftsunternehmen. Alles wie unter Mubarak – nur ohne ihn

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 29. Januar 2014 (Kommentar)


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