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Prozeßfarce in Minya

Ägypten: 529 Todesurteile gegen Muslimbrüder in einem Prozeß. Zeugen wurden nicht gehört, Stellungnahmen der Verteidiger zu den Anklagepunkten verweigert

Von Sofian Philip Naceur, Kairo *

Ägyptens Justiz setzt im Umgang mit der verbotenen und im Dezember 2013 zur terroristischen Vereinigung erklärten Muslimbruderschaft weiter auf einen harten Kurs. Am Montag verurteilte ein Gericht in Minya in Oberägypten 529 angebliche Mitglieder der Organisation zum Tode, 18 wurden freigesprochen. Die Anklage geht auf die gewaltsame Stürmung einer Polizeiwache in Minya am 14. August 2013 zurück, bei der ein Polizeioffizier ums Leben kam. Während der gewaltsamen Räumung zweier Protestcamps der Muslimbrüder in Kairo und Giza waren am selben Tag mehrere hundert Menschen getötet worden. In ganz Ägypten fanden danach gewaltsame Proteste von Muslimbrüdern statt, die staatliche Einrichtungen wie Polizeistationen angegriffen hatten. Das Urteil wurde im Schnellverfahren durchgepeitscht und bereits am zweiten Prozeßtag ausgesprochen. Nach der Urteilsverkündung entbrannte ein Sturm der Entrüstung.

Das hinter verschlossenen Türen stattfindende Verfahren wurde nach Angaben von Strafverteidigern ohne adäquate Beweisführung oder Zeugenbefragungen durchgeführt. Anwälten wurden Stellungnahmen zu den Anklagepunkten verweigert. Nach unterschiedlichen Angaben waren lediglich 120 bis 150 Angeklagte zur Zeit des Verfahrens inhaftiert und nur 70 im Gerichtssaal anwesend. Der Prozeß habe damit nach Auffassung von Juristen selbst gegen ägyptische juristische Minimalstandards verstoßen. Nach Einschätzung des UN-Kommissariats für Menschenrechte (OHCHR) stellen die Todesurteile einen Bruch der Menschenrechte dar. Die Rechte der Angeklagten seien grob mißachtet worden, sagte ein Sprecher am Dienstag in Genf. Außerdem sei die Todesstrafe für Delikte ausgesprochen worden, die nicht zu den besonders ernsten Verbrechen zählten.

Die Anklage lautete auf Gewalt, Mord und Vandalismus gegen staatlichen Besitz und Diebstahl von Polizeiwaffen. Das Gericht in Minya tritt am 28. April erneut zusammen, um die Urteile zu bestätigen. Mit einem Berufungsverfahren wird gemeinhin gerechnet. Zudem muß die Todesstrafe von der höchsten religiösen Instanz des Landes, Großmufti Shawki Allam, bestätigt werden, bevor das Urteil rechtskräftig wird. Ägypten ist eins von rund 40 Ländern weltweit, in denen die Todesstrafe gilt.

Der Richterspruch ist dennoch selbst für den repressiven ägyptischen Justizapparat ein Novum. Noch nie wurden derart viele Todesurteile in nur einem Prozeß verhängt. Am gestrigen Dienstag standen weitere 682 Angeklagte vor dem Richter in Minya, unter anderem der Anführer der Muslimbruderschaft Mohamed Badie. Auch dieser Prozeß wurde auf den 28. April vertagt. Die deutlich abgeflauten Proteste von Anhängern der Bruderschaft könnten damit wieder neue Nahrung erhalten.

Unklar bleibt, inwieweit das Justizministerium in Kairo in das Urteil verwickelt ist. Ägyptens Justizapparat gilt als hochgradig korrupt und von der Zentralregierung abhängig. Eine Gewaltenteilung ist faktisch nicht existent. Seit der Revolution 2011 fanden keinerlei ernst zu nehmende Versuche der jeweiligen Machthaber statt, den Justizapparat am Nil zu reformieren. Insbesondere Urteile gegen Mitglieder der Muslimbruderschaft gelten seit dem Sturz von Staatspräsident Mohammed Mursi im Juli 2013 als politisch motiviert und undurchsichtig.

Über die Ausführung der Todesstrafe in Ägypten existieren wenig gesicherte Informationen. Die staatliche Tageszeitung Al-Ahram berichtet von 709 Todesurteilen von 1981 bis 2000, von denen 249 vollstreckt wurden. Seit 2009 wurden durch Ägyptens Justiz deutlich mehr Todesurteile ausgesprochen. Von 2010 bis 2012 sollen 342 Menschen zum Tode verurteilt worden sein, mindestens ein Urteil wurde ausgeführt. Das Onlinemagazin Egyptian Streets berichtet von 15 vollstreckten Todesurteilen in den letzten zehn Jahren.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 26. März 2013

Islamistenprozess in Ägypten vertagt

UN-Kommissariat sieht Rechte der Angeklagten »grob missachtet«

Kairo. Einen Tag nach den Todesurteilen gegen 529 Islamisten ist am Dienstag in der oberägyptischen Stadt Minia ein weiteres Massenverfahren gegen Anhänger der Muslimbruderschaft auf den 28. April vertagt worden. Erst dann sollen die Urteile über 683 Angeklagte gesprochen werden, wie Medien in Kairo berichteten. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen die Teilnahme an tödlichen Unruhen im August 2013 vor. Unter den Angeklagten ist auch das Oberhaupt der Muslimbruderschaft, Mohammed Badie. Am Vortag hatte das selbe Gericht unter einer ähnlichen Anklage 529 Anhänger der Muslimbruderschaft zum Tode verurteilt. Die Urteile sind noch nicht rechtskräftig.

Nach Einschätzung des UN-Kommissariats für Menschenrechte stellen die Urteile einen Bruch der Menschenrechte dar. Todesurteile müssten den höchsten Standards eines fairen Prozesses genügen, erklärte der Sprecher des UN-Menschenrechtsbüros am Dienstag in Genf. Die Rechte der Angeklagten seien grob missachtet worden. Überhaupt seien Todesstrafen nicht zu rechtfertigen, erklärte die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton am Montag in Brüssel. »Es widerspricht jeder Logik, dass über 529 Angeklagte in zwei Tagen geurteilt werden kann«, sagte die Sprecherin des US-Außenministeriums, Marie Harf, in Washington.

(nd, 26.03.2014)




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