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20 Jahre Haft für Mursi

Ägypten: Strafgerichtshof verurteilt Expräsident und 14 weitere Beschuldigte. Anklage wegen Mordes und Waffenbesitzes fallengelassen

Von Sofian Philip Naceur, Kairo *

Es ist amtlich: Ägyptens Expräsident Mohamed Mursi bleibt im Gefängnis. Der Strafgerichtshof in der Hauptstadt Kairo verurteilte ihn und zwölf weitere Angeklagte zu 20 Jahren Hochsicherheitsverwahrung sowie zwei weitere Beschuldigte zu je zehn Jahren Haft. Unter ihnen befinden sich auch die beiden hochrangigen Mitglieder der Muslimbruderschaft Essam Al-Erian und Mohammed Al-Beltagy. Ihnen wird vorgeworfen, bei den Demonstrationen vor dem Präsidentenpalast in Heliopolis in Ostkairo im Dezember 2012 zu Gewalt aufgerufen zu haben. Das Gericht ließ die Anklagen wegen vorsätzlichen Mordes und des Besitzes von Waffen gegen alle 15 Beschuldigten fallen.

Damals zogen Zehntausende Kritiker der in jenen Tagen formal regierenden Muslimbrüder zum Amtssitz des damaligen Staatschefs und protestierten gegen das bevorstehende Verfassungsreferendum und ein Präsidialdekret, das Mursi weitreichende legislative und exekutive Befugnisse übertragen hatte. Einen Tag nach Beginn der Proteste zogen Anhänger der Muslimbruderschaft zum Palast und gingen gewaltsam gegen die Mursi-Gegner vor. Bei den tagelangen Ausschreitungen der Anhänger und Gegner der islamistischen Organisation wurden zehn Demonstranten getötet und Dutzende verletzt. Ägyptische TV-Sender zeigten wochenlang Bilder von Mursi-Anhängern, die Protestierende verprügelten, »verhafteten« und versuchten, sie der Polizei zu übergeben. Ein Zeltlager der Gegner des Präsidenten wurde von den teils bewaffneten Unterstützern der heute verbotenen Organisation gewaltsam aufgelöst.

Diese Ereignisse vom 5. Dezember 2012 gelten als Ende der partiellen Kooperation zwischen Mursis damals formal regierender Muslimbruderschaft und Ägyptens Sicherheitsapparat bestehend aus der hinter den Kulissen regierenden Armee und dem mächtigen Innenministerium. Kurz nach Mursis Absetzung durch das Militär im Juli 2013 berichtete die Nachrichtenagentur Reuters unter Berufung auf Quellen im Sicherheitsapparat von der Weigerung der ägyptischen Behörden, Einsatzkräfte zum Palast zu schicken, um die Demonstration aufzulösen. Das Innenministerium ließ Mursis Gegner gezielt gewähren. Diese Befehlsverweigerung hätte diesen letztlich dazu gebracht, seine Anhänger als Ordnungskräfte zum Palast zu beordern, so Reuters. Kurz darauf initiierte die dem alten Regime nahestehende Opposition mit Unterstützung von Teilen des Sicherheitsapparates eine landesweite Unterschriftenkampagne, die Mursis sofortigen Rücktritt und vorgezogene Präsidentschaftswahlen forderte. Der Initiative schlossen sich auch revolutionäre Parteien und Bewegungen an. Sie gipfelte im Juni 2013 in Massendemonstrationen in ganz Ägypten, die die Armee als Anlass nahm, den Präsidenten und seine Muslimbruderschaft gewaltsam zu entmachten.

Ungeachtet der Tatsache, dass Mursis Anhänger Ende 2012 mit Gewalt gegen eine friedliche Kundgebung vorgingen, gilt der Vorfall als inszeniert. Das damals hinter verschlossenen Türen regierende und heute restaurierte alte Regime nutzte die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Politik Mursis geschickt aus und instrumentalisierte die Randale vor dem Präsidentenpalast für den rund sieben Monate später folgenden Putsch gegen die im Staats- und Sicherheitsapparat verhasste Bruderschaft.

Seitdem gehen Exekutive, Staatsanwaltschaft und Justiz gegen die islamistische Opposition und die Muslimbrüder vor. Auch der Prozess gegen Mursi am Dienstag fand in einem politisch aufgeheizten Klima statt. Der Präsident muss sich derzeit noch in vier weiteren Prozessen vor Gericht verantworten. In den noch laufenden Verfahren werden ihm Gefängnisausbruch, Justizbeleidigung und Spionage vorgeworfen.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 22. April 2015


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