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Aufstieg und Sturz der Muslimbrüder

Jahresrückblick 2013. Heute: Ägypten. Die politische Kaste hat sich neu formiert, die neoliberale Garde ist auf die Bühne zurückgekehrt

Von Sofian Philip Naceur, Kairo *

Fast drei Jahre sind seit dem Sturz des despotisch regierenden Präsidenten Hosni Mubarak in Ägypten vergangen. Der Massenaufstand Anfang 2011 hat das Land, die Gesellschaft und das Establishment aufgeweckt und die politische Kultur am Nil nachhaltig verändert. Andauernde Proteste, Streiks und eine aufblühende Presse- und Kulturlandschaft ließen auch Mubaraks Nachfolger wanken. Der Frust über wirtschaftliche Perspektivlosigkeit, politische Repression und Polizeigewalt war der Hoffnung gewichen, die »Stunde Null« nutzen und ein neues Ägypten aufbauen zu können. Die wichtigste Parole der Revolution – »Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit« – ist bis heute nicht vergessen.

Doch das Jahr 2013 hat das Land zurück auf den Boden der Tatsachen geholt. Die monatelange Protestwelle gegen die Muslimbrüder und Staatspräsident Mohammed Mursi, seine Absetzung und die blutige Räumung der Protestcamps in Kairo und Giza haben der Konterrevolution, der Restaurierung der alten Ordnung und des gefürchteten Polizei- und Militärstaates, unfreiwillig den Weg geebnet. 2013 steht symbolisch für Stärke und Sturz der Bruderschaft, die noch Anfang des Jahres auf dem Höhepunkt ihrer Macht war. Die Opposition gegen sie war zerstritten, keine politische Kraft stark genug, alleine Wahlen für sich entscheiden zu können.

Religiöse Verfassung

Doch die Stimmung kippte. Erst im Dezember 2012 hatte Mursi eine neue Verfassung durch die Institutionen gepeitscht und das Dokument per Referendum von Ägyptens Bevölkerung absegnen lassen. Die »Partei für Freiheit und Gerechtigkeit« (FJP), der politische Arm der Bruderschaft, und die salafistische Partei »Das Licht« hatten in der damaligen verfassunggebenden Versammlung über eine absolute Mehrheit verfügt und trotz breiter Proteste der Opposition eine religiöse Prägung ihres Entwurfs durchgesetzt. Von den darauffolgenden Unruhen im Land im Dezember 2012 sollte sich der damals schon angezählte Präsident nicht mehr erholen. Mursi hatte mit seiner Kompromißlosigkeit endgültig sämtliche politischen Kräfte gegen sich aufgebracht.

Im April 2013 lancierten aus der Mittelschicht stammende Gegner von Bruderschaft und Präsident die Kampagne »Tamarud«, was im Arabischen für »Rebellion« steht – eine Unterschriftensammlung für Mursis Absetzung und vorgezogene Präsidentschaftswahlen. Dem schlossen sich schnell Parteien und Menschenrechtsgruppen an und formierten eine breite politische Front gegen die Regierung. Als sich Mursi trotz Massenprotesten am 30. Juni immer noch weigerte, nachzugeben, intervenierte die Armee. Verteidigungsminister und Generalstabschef Abdelfattah Al-Sisi trat am 3. Juli vor die Kameras und verkündete die Absetzung des Präsidenten. Führungskader von Bruderschaft und FJP wurden verhaftet, die erst im Dezember 2012 verabschiedete Verfassung außer Kraft gesetzt und eine Übergangsregierung installiert.

Mursis Anhänger zogen danach tagelang protestierend und randalierend durch die Straßen und ließen sich an der Moschee Rabaa Al-Adawija im Osten Kairos und an der Universität von Kairo nieder. Die Übergangsregierung, gespickt mit engen Gefolgsleuten Mubaraks und der Armee treuen Vertretern des säkularen politischen Spektrums, war uneins über den Umgang mit den unliebsamen aber anhaltenden Protesten der Mursi-Anhängerschaft. Schließlich setzten sich die »Falken« durch. Am 14. Juli stürmten Polizei und Staatssicherheit die Lager und machten die Camps dem Erdboden gleich. Beim schwersten Massaker am Nil seit dem Sturz Mubaraks starben Hunderte Demonstranten.

Mit nationalistischer Rhetorik stellte sich das Gros der säkularen, liberalen und sozialistischen Opposition hinter Armee und Interimsregierung und stützte die Kampagne gegen die Muslimbrüder, die fortan pauschal nur noch als »Terroristen« gebrandmarkt wurden. Das war eine Steilvorlage für die 85 Jahre alte islamistische Organisation, sich als Opfer der Staatsgewalt zu präsentieren. Bis heute finden regelmäßig Proteste der Bruderschaft gegen den »Putsch« statt. Auch wenn diese inzwischen deutlich weniger Zulauf haben, bleibt die Organisation eine Realität am Nil. Langfristig werden Dämonisierung und Inhaftierung ihrer Mitglieder dem Land nicht helfen, die reaktionäre Muslimbruderschaft zurückzudrängen und ihren Einfluß vor allem auf dem Land einzudämmen.

Bis heute diskutieren die Menschen darüber, wie die Ereignisse des Sommers zu nennen und einzuordnen sind. War es eine »zweite Revolution«, wie es Übergangsregierung und Armeeanhänger glauben machen wollen? Ein Staatsstreich der Militärs oder eine Konterrevolution? Sämtliche Begriffe werden der komplexen politischen Gemengelage nicht gerecht. Dennoch hat sich der über Jahrzehnte unter Mubarak gewachsene Staats-, Bürokratie- und Sicherheitsapparat, der im großen und ganzen nach 2011 intakt geblieben ist, gewaltsam der unliebsamen Bruderschaft entledigt. Er nutzt die Gunst der Stunde, den alten Polizei- und Militärstaat ideologisch und institutionell zu rehabilitieren.

Innenminister blieb

Eine Schlüsselfigur in diesem Prozeß ist zweifelsohne der amtierende Innenminister Mohammed Ibrahim. Im Januar 2013 hatte Mursi dessen Vorgänger Ahmed Gamal gefeuert und dessen Posten mit Ibrahim ersetzt. Dieser war eines der wenigen Kabinettsmitglieder, die nach der Absetzung des Präsidenten ihren Posten behielten. Dafür gab es gute Gründe. Die treibende Kraft hinter dem Sturz der islamistischen Regierung Mursis war neben den Generälen das Innenministerium, das jahrelang politische Dissidenten ausspähte, verfolgte und inhaftierte. Die fast schon traditionelle Feindschaft zwischen Geheimdienst- und Polizeiapparat einerseits und der Muslimbruderschaft andererseits war während Mursis Präsidentschaft auf Eis gelegt worden, brach jedoch seit dessen Sturz wieder offen aus. Der gefürchtete, 2011 aufgelöste Inlandsgeheimdienst Mabahith Amn Al-Dowla, die Staatssicherheit, wurde unter altem Namen neu installiert und kommt seither wieder seinen traditionellen Aufgaben nach: der Verfolgung politischer Dissidenten. Zunächst lag ihr Fokus auf der Bruderschaft. Seit sich Proteste linksliberaler gewerkschaftsnaher Gruppen wieder vermehrt gegen Armee und Interimsregime richten, sind im November auch erneut diese Aktivisten und Menschenrechtler ins Visier geraten. Zwar ist der Ausnahmezustand seit November 2013 aufgehoben, doch auf Grundlage des neuen Protestgesetzes geht der Staat rigoros gegen regierungs- und armeekritische Opponenten vor.

Die politische Kaste hat sich neu formiert. Innen- und Verteidigungsministerium restaurierten geschickt das Regime und holten die alte neoliberale Garde zurück auf Ägyptens politische Bühne – nun jedoch mit »revolutionärem« Anstrich. Aber mit Nationalismus und Armeehörigkeit wird das neue alte Regime Ägyptens größte Probleme nicht lösen können.

Nach dem Bombenanschlag vom 24. Dezember in Mansura vor der Polizei­zentrale, der 16 Menschenleben forderte, erklärte das Übergangskabinett die Muslimbruderschaft zur »terroristischen Vereinigung«. Derweil häufen sich Bombenanschläge im Nildelta und in Kairo. Der im ­Sinai wütende Krieg zwischen Sicherheitskräften und militanten Islamisten ist außer Kontrolle geraten. Und das Kalenderjahr 2013 endete, wie es begann; mit einer hitzigen innenpolitischen Debatte über Ägyptens Verfassung. Die von Interimspräsident Adli Mansur ernannte verfassunggebende Versammlung hat jüngst einen Entwurf für ein neues Grundgesetz vorgelegt. Mitte Januar 2014 soll das Dokument in einem Referendum verabschiedet werden.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 2. Januar 2014


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