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Statt der Revolution erlebt Ägypten derzeit die vom Militär gelenkte Rückkehr zum System des alten Establishments

Von Sofian Philip Naceur, Kairo *

In Ägypten ist am vergangenen Sonntag das Komitee zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung zusammengetreten. Das 50köpfige Gremium soll innerhalb von zwei Monaten einen Entwurf erarbeiten und Interimspräsident Adli Mansur vorlegen. Anschließend soll der Text per Referendum verabschiedet werden. Die neuerliche Ausarbeitung einer Verfassung ist Teil des Fahrplans zur Überwindung der politischen Krise am Nil, nachdem die Armee im Juli den islamistischen Staatspräsidenten Mohammed Mursi abgesetzt und eine Übergangsregierung installiert hatte. Grundlage des Vorgehens ist das präsidentielle Dekret vom 8. Juli, das vorsieht, nach der Verabschiedung einer neuen Verfassung Parlaments- und Präsidentschaftswahlen abzuhalten. Ägyptens Übergangsführung, die Armee und Kader des 2011 gestürzten Regimes von Hosni Mubarak wollen rasch zur Normalität zurückkehren und die Gunst der Stunde nutzen, um die Muslimbrüder politisch auszuschalten. Gleichzeitig versuchen sie, revolutionäre militärkritische Akteure zu marginalisieren, solange die Armee auf einer Popularitätswelle schwimmt.

Erst im Herbst 2012 hatten die Muslimbrüder und ihr politischer Arm, die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP), gemeinsam mit der salafistischen Partei »Das Licht« mit Hilfe ihrer absoluten Mehrheit in der verfassungsgebenden Versammlung eine neue Konstitution durchgepeitscht und diese per Referendum verabschieden lassen. Bei niedriger Wahlbeteiligung bekam der islamistische Entwurf im Dezember vergangenen Jahres eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Die Proteste in Ägypten gegen Mursis Politik und die Muslimbrüder intensivierten sich kurz darauf allerdings – auch aufgrund des kompromißlosen Vorgehens der islamistischen Mehrheit in der Kammer. Fast alle Vertreter des liberalen und linken Lagers sowie Frauen und Christen verließen damals aus Protest gegen das rigorose Durchsetzen des islamistischen Entwurfes demonstrativ die Versammlung.

Das neue Komitee zur Ausarbeitung einer Verfassung wird nun von liberalen Kräften dominiert. Grundlage der Besetzung des Gremiums ist das Dekret von Mansur, das die Einbindung aller politischen Kräfte, von Gewerkschaften und von Vertretern der christlichen Minderheit vorsieht. Faktisch wird der gesamte Entwurfsprozeß der neuen Verfassung jedoch von der Armee kontrolliert, die Präsident Mansur und die Übergangsregierung eingesetzt hat. Die Militärs haben die Massenproteste gegen Mursi und den Unmut über seine Regierungsführung instrumentalisiert, um die vorrevolutionären politischen Zustände wieder herzustellen. Während liberale Kräfte überrepräsentiert sind, kommen die Gewerkschaftsvertreter ausschließlich aus staatlich kontrollierten Gewerkschaften. Das islamistische Lager ist nur durch zwei Abgeordnete vertreten: Kamal Al-Helbawy, ein ehemaliges Mitglied der Muslimbrüder, und den Vizechef von »Das Licht«, Bassam Al-Zarqa.

»Das Licht« hatte intern lange darüber gestritten, ob die Partei an der Ausarbeitung der neuen Verfassung teilnehmen soll. Noch vor Einberufung der 50köpfigen Versammlung hatte ein von Mansur ernanntes zehnköpfiges technisches Komitee die Verfassung von 2012 überarbeitet. 33 Artikel wurden gestrichen und 124 überarbeitet. »Das Licht« protestierte vor allem gegen die Streichung von Artikel 219, der die Scharia in die Verfassung aufgenommen hatte. Dessen Löschung bedrohe die islamische Identität Ägyptens heißt es aus Reihen der Partei. Die Salafisten bezeichnen den auszuarbeitenden Entwurf als Interimsverfassung. Schließlich hatten sie die Verfassung von 2012 maßgeblich mitgestaltet und durch ihre Teilnahme an der neuen Versammlung das Vorgehen der Armee implizit legitimiert. Die Muslimbrüder bezeichnen die alte Verfassung weiterhin als gültig, während sich »Das Licht« mit der Teilnahme am verfassungsgebenden Komitee die Option offen hält, als Vertreter des islamistischen Lagers politischen Einfluß zu wahren. Da den Muslimbrüdern ein erneutes Verbot droht, hofft »Das Licht«, aus deren Kaltstellung politisches Kapital schlagen zu können.

Wie hoch die Chancen der Salafisten stehen, ist jedoch ungewiß. Die Verfassung von 2012 hatte religiöse Parteien erstmals legalisiert, doch das zehnköpfige Komitee hat die entsprechenden Passagen bereits wieder gestrichen. Sollte der Entwurf in dieser Fassung auch das 50köpfige Gremium passieren, wären FJP und »Das Licht« verfassungswidrig. Die Änderungsvorschläge geben bereits die Richtung vor. Die Wahl des Verteidigungsministers soll die Zustimmung der Armee benötigen und das Budget der Streitkräfte nur bedingt von der Exekutive kontrolliert werden können. Zudem wurde der Artikel entfernt, der die politische Betätigung ehemaliger Mitgliedern der aufgelösten Nationaldemokratischen Partei Mubaraks für zehn Jahre untersagt hatte. Die Wahl Amr Mussas, einem engem Verbündeten Mubaraks, zum Vorsitzenden des Komitees macht deutlich, wie nah die Mehrheit des Gremiums dem Militär und den alten Mubarak-Seilschaften stehen. Schon die erste Änderungsrunde deutet auf eine Restauration des verfassungsrechtlichen Status quo von vor der Revolution 2011 hin, die einer umfassenden Wiederherstellung der alten Machtverhältnisse gleichkommen dürfte.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 12. September 2013


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